DIE TERRASSEN DES PHILOSOPHISCHEN GARTENS
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KURZE SÄTZE, LANGES LEBEN

Gedanken für den Augenblick

Leser machen immer wieder die Erfahrung, daß prägnante Gedanken, poesievolle Sätze oder ungewöhnliche Ideen eine belebende Wirkung auf ihren Geist ausüben – sie ermuntern, berühren, erfrischen geradewegs. Die Leser werden in höhere Stimmung versetzt oder gar von einer üblen Laune befreit.

Insofern solchen Gedanken diese Wirkung attestiert werden kann, darf man sie in den Bereich der „geistigen Arznei“ rechnen, ein Begriff, den es in dieser Form zwar nicht gibt, der sich jedoch aus dem Phänomen wie von selbst ergibt. Nicht nur Salben, Säfte, Tröpfchen und Pillen können einem erkrankten Menschen helfen, wieder zu gesunden, sondern auch Mittel, die unmittelbar auf das seelische Erleben des Empfängers einwirken. Dabei entfaltet die geistige Arznei ihre positive Wirkung, im Unterschied zur stofflichen, nicht nur beim „erkrankten“, übel gelaunten Menschen, sondern auch beim „gesunden“, neutral oder heiter gestimmten.

Diesen hier auf der Spiele-Terrasse stehenden Sätzen liegt dieser Ansatz zugrunde. Vom 1. April 2006 bis zum 31. März 2013 veröffentlichte ich jeden Tag einen entsprechenden „Arznei“-Eintrag – insgesamt 2557 an der Zahl. (Nicht jeder Eintrag entfaltet eine nennenswerte medizinische Wirkung; aus dokumentarischen Gründen jedoch wird hier kein Eintrag gelöscht.) Wenn die oft kurzen Sätze den Leser immer wieder aufmuntern und sein Wohlbefinden fördern, dann stärken sie mittelbar womöglich auch seine Immunität, seine Abwehrkräfte, und tragen so zu einem langen Leben bei.

Matthias C. Müller



Der Satz des Tages:

31.3.2013: „Laß dich nicht alleine. Steh anderen bei. Bleib aufgeknöpft und verträumt. Sei ein Mensch.“ (Natalia Lisboa)


Kleine Auswahl:

Nur wer sich Zeit läßt, ist auf der Höhe der Zeit.

Es war kalt am Meer. Ihre Tränen verwandelten sich in Schneeflocken und trieben davon.

Das Erwachen am Morgen gehört zu den kleinen Ironien des Lebens.

Das Leben gelingt am ehesten, wenn man es aus Liebhaberei betreibt.

Die Milchtüten im Kühlschrank – verzauberte Euter.

Man sollte nur lächelnd vor den Spiegel treten.

Der Mensch, der sich auf nichts einen Reim machen konnte, reimte in seinen Träumen auf alles und jeden.


Sämtliche bisherigen Einträge:

30.3.2013: Der Blues der Zeit, der Swing der Räume, die Balladen der Dämmerung, die Fanfaren des Morgenrots, sing, Vogel, sing ein küssendes, belebendes Lied.

29.3.2013: Liebe ist die Kunst, das zu erreichen, was unerreichbar ist, das zu verschwenden, was niemand erworben hat, das zu sein, was es nicht gibt. Sie ist etwas unmögliches, das nur die Unmöglichen, die das Unmögliche begehren, möglich machen.

28.3.2013: Liebe ist eine Oase, die früher oder später von der Wüste aufgefressen wird.

27.3.2013: Liebe, die Kunst, sich in der Mitte zu treffen.

26.3.2013: Ein Volk, das im Wald lebt. Ein Volk, das im Wald geht. Ein Volk, das die Welt der Einfamilienhäuser und Vorortsiedlungen ablehnt. Ein Volk, das tief im Wald verborgene Lichtungen kennt, von denen die Außenwelt nichts ahnt. Auf diesen Lichtungen beten die Waldmenschen die Sonne an, hier feiern sie Hochzeiten und die großen Geburtstage. Ein Volk, das im Wald lebt. Ein Volk, das im Wald geht.

25.3.2013: Liebe, miteinander schlafen, miteinander wachen.

24.3.2013: Der Mensch ist das Lebewesen, das in einem Gegenüber sich selbst findet. Der Mensch, mit dem man sich trifft, ist wie der Spiegel, vor dem man sich kämmt. Man kämmt sich so lange die Haare, bis am Gegenüber ein Lächeln erscheint und man sich selbst wieder halbwegs erträglich findet. Ohne das Lächeln im Spiegel wäre die Welt öde und leer.

23.3.2013: Carl Apfelschnitz: „Etliche zeigen sich anfangs von ihrer Sonnenseite und machen einen entsprechenden Eindruck; im Alltag kommt ihre Wetterseite zum Vorschein. Andere wirken anfangs wie drei Tage Regen, und im Alltag scheint die Sonne.“

22.3.2013: Darüber hinausdenken. Worüber? Über die Beschränktheit, die Begrenztheit, über die Schranken und die Grenzen des bisherigen Meinens. Darüber hinausdenken.

21.3.2013: Der Vogel wird seine Flügel ausbreiten, um aufwärts in die Lüfte zu steigen, im ätherischen Bad zu tanzen und zu schweben. Der Mensch wird seine Gedanken entfalten, als wären sie Flügel, um angstlos und erwartungsfroh dem Boden des Alltags zu entfliegen, in höheren Sphären zu tanzen und zu schweben.

20.3.2013: Das Gesicht das Schaufenster, das man Passanten zeigt. Findet sich in seinen Auslagen ein vielversprechendes Schmuckstück, bleiben manche stehen. Einzelne finden sich vom Anblick so ermuntert, daß sie eintreten, und das Ladentürglöckchen klingelt. Sie erstaunen, wenn sich drinnen keine Ladeneinrichtung zeigt, sondern ein Trödellabyrinth, das in eine unabsehbare Tiefe führt. Auch ist von einem Ladenhüter weit und breit nichts zu sehen. Sie rufen und sind unsicher. „Ist jemand zuhause?“

19.3.2013: Natalia Lisboa schreibt: „Um den Tag gehörig zu formen, benötigst du am Anfang Stille, Liebe und vor allem Nacktheit. Der Mensch mit nacktem Geist, entkleidet des medialen Mummelputzes, wird in der Stille hören und in der Liebe sehen, was er sich wirklich wünscht, und den Wunsch sich noch am selben Tag erfüllen.“

18.3.2013: Nachts tief schlafen, tags hoch leben.

17.3.2013: Erinnerungen, Echos aus der Vergangenheit. Wünsche, Echos aus der Zukunft.

16.3.2013: Was wäre, wenn du über dein Lebensziel hinausgeschossen bist? Es wäre dann sinnlos, immer weiter nach vorn zu hasten. In der Rücksicht läge das Ziel, im Rücken. Um wirklich vorwärts zu kommen, müßtest du umdrehen und zurückkehren. Rückschritt wäre Fortschritt, und es hieße: vorwärts, Brüder, Schwestern, zur Sonne im Rücken, zum Wonne-Entzücken.

15.3.2013: Nach dem Aufwachen immer wieder das Gefühl, aus dem wahren Paradies vertrieben worden zu sein.

14.3.2013: Entpuppe dich, Mensch, entfalte dich und fliege.

13.3.13: Ein Mensch, versunken in Gedanken, taucht auf und teilt sich mit.

12.3.2013: Eine Frau, die eine Vorliebe für die Wahrheit und den Genuß zeigt, die Unerschrockenheit und das Zögern, das Gehen und das Auf-Bäume-Klettern, das Lachen und das Streicheln, die Ratlosigkeit und den einen Augenblick.

11.3.2013: Das Licht der Blüten, zart und hell umarmend, dicht am Rand des Abhangs, wo die Kinder stranden. Das Licht der Blüten, zart und hell umarmend, dicht am Grund des Berges, wo die Eltern träumen. Das Licht der Blüten, zart und hell umarmend, mitten im Fall, wo die Tränen wandern.

10.3.2013: Wie siehst du die Utopie? – Eine Utopie, von tausenden von möglichen, wäre zum Beispiel, wenn überall dort, wo ich zufällig einkehre, im Buffetwagen im Zug, im bienenkorbvollen veganen Studentinnencafé, im portugiesischen Gesangs- und Speiserestaurant, in der verprügelten Raucherkaschemme, in der bei Touristen beliebten Taschendiebkneipe, in der wohnzimmersofabequemen Kammermusikbar, im dalmatinischen Dalmatiner-Bistro, im Dubliner Puppen-Pub, in der schwatzbudigen Rathauskantine, in der bademantellaufstegartigen Krankenhauscaféteria, im musikverdudelten Friedhofsgärtnertreff, im verschlafenen pokalgoldenen Fußballvereinsheim, im möwenschreierfüllten Hafenklub, oder wo auch immer, mir auf die Bestellung, „Einen Wein, einen roten, bitte!“, der Ober, die Kellnerin, einen der erlesensten Tropfen der Welt kredenzt. Einfach, weil es nur erlesene Tropfen gibt. Und bei jedem Einkehren wäre es ein anderer erlesener Tropfen. – Und die Realität? – Die ist so, daß die meisten Gaststätten die „reinste“ Plörre ausschenken. Wobei von Schenken nicht die Rede sein kann. Man muß die Kopfwehgülle auch noch bezahlen.

9.3.2013: Am Meer die ständig anrollenden Horizonte, die am Ufer mit Getöse brechen und in tausenden von Bläschen schäumend zerfließen. Wo, wenn nicht hier, brichst du zu neuen Horizonten auf?

8.3.2013: Menschen sind zwar keine Sonnen, aber in ihnen erscheint manchmal, gebrochen, aufgefächert die Sonne. Das Sonnenlicht scheint aus ihren Augen, umgibt ihre Worte, umfließt ihre Hände, begleitet ihre Handlungen; ihre menschliche Wärme kommt von ihrer Sonne, die dank ihrer Durchlässigkeit, überhaupt dank ihrer Lässigkeit, den Alltag erreicht. Ist diese menschliche Sonnenhaftigkeit nicht einfach das Gute? Und was wäre das Gute anderes als die rundum friedlich wirkende Gesinnung? Friedlich gesonnen zu sein, wäre die bezwingendste Liebeskraft.

7.3.2013: Im Frühling sinkt das Schwere in die Tiefe, das Leichte gewinnt an Fahrt. Selbst wenn der Winter nochmals riefe, füllt das Licht schon deine Denkungsart.

6.3.2013: Das Bett, dieses Doppelpaddelboot der Liebenden. Das Bett, diese Privatfähre zur Insel der Gedankenlosen. Das Bett, dieses Einzelkajak seligen Kenterns. Das Bett, dieses Passagierschiff der Träume.

5.3.2013: Noch vor den Wiesenblumen blüht der Himmel, die blaue Überblume der floralen Welt. Sie, die Blume der Sehnsucht und Erfüllung, des wehenden Kreislaufs von Leben und Lieben.

4.3.2013: Natalia Lisboa: „Die Frühlingsflut kehrt wieder, der zarteste Wind fließt, fast unbemerkt, über die noch schlafende Wiese, tanzt, federleicht, und springt und singt neue Liebeslieder.“

3.3.2013: So wie im Frühling die Sonne Pflanzen aus dem Erdreich zieht und deren Blüten aufbricht, so mag der Geist eine Sonne sein, die deine Wünsche aus dem Unbewußten lockt und ihre Blüten öffnet.

2.3.2013: Das Aufwachen die tägliche Wiedergeburt, das Einschlafen der tägliche Wiedertod.

1.3.2013: Ausdruck der Weisheit ist Leichtmut.

28.2.2013: Fällst du abends in den Schlaf, fällt der Vorhang des verflossenen Tags. Die Träume am Morgen spielen das Vorspiel einer neuen Aufführung, der nächsten Oper auf dem Schauplatz des Lichts. Sobald der Vorhang sich hebt und deine Augen sich öffnen, beginnt wieder das Spiel, erfolgt dein Auftritt, ertönt dein Gesang.

27.2.2013: Ein Mann und eine Frau, sich auf dem Lande zufällig begegnend, schlagen eine Brücke über den schwindelnden Abgrund zwischen ihnen, schlagen sie mit Worten, die aneinandergefügt sich gegenseitig halten, betreten sie langsam, betrachten gemeinsam die Gegend und kommen sich nahe. Sie gehen anschließend, vorläufig, wieder auseinander, jeder hat auch zu tun, die Brücke bleibt allein in ihrer Erinnerung bestehen. Sie kehren bald zu ihr zurück.

26.2.2013: Auf der Hermann-Lenz-Höhe. Das Durchscheinende, das Leuchten, das Licht, die Farben, sie sind im Traum, bei geschlossenen Augen, gleichsam da, der Wind weht über das frühlingshelle Feld, der Bach murmelt versonnen, und das junge Paar spielt an seinem Saum verloren miteinander das uralte Spiel der Liebe.

25.2.2013: Das Bett, dieser abendliche Einstieg in die Unterwelt, dieser morgendliche Ausstieg in die Oberwelt. Es ist unbegreiflich, daß du dich täglich in diesen horizontalen Aufzug legst und eine Reise unternimmst, die ins Ungewisse führt, von der am Ende nur Ansichtskarten traumhafter Landschaften bleiben. Ansichtskarten, die du beim Kaffee noch betrachten magst, die aber dann verblassen und sich in nichts auflösen.

24.2.2013: Die Gewässer des Wünschens umströmen, umspielen den Augenblick, Wellenschlag und Wimpernschlag vereinen sich im bleibenden Kuß.

23.2.2013: Wege versäumen nichts, nehmen dich auf, fast, ohne daß du es merkst, tragen dich ans Ziel. Wege, Flöße des Lebens, flößen dir ein, was du bist. Was bin ich? Auf dem Weg bist du.

22.2.2013: Sie erfand sich ein Glücklicht aus Gedanken, eine künstliche Sonne, die jeden Morgen am Horizont ihrer Träume erscheint.

21.2.2013: Nachts erwachst du auf dem Fels, unter dir liegt still und glänzend das Meer. Morgens erwachst du im Federbett und streifst die Federn von dir ab. Tagsüber ziehst du im Café den Mantel aus, eine versteckte Feder löst sich und schwebt davon. Du fängst sie und reichst sie einem Kind.

20.2.2013: Zu jeder Zeit hast du es in der Hand, neu anzufangen.

19.2.2013: Vordenker, das sind weniger Menschen, die vordenken, als Menschen, die nachdenken und vor allem mitdenken.

18.2.2013: Liebe heißt sich gegenseitig in Schuß halten.

17.2.2013: Im Café Bräunerhof zu Wien sagt ein Gast, der gehen möchte, zum Ober: „Was kriegen Sie?“ – „Kriegen? Das Kriegen ist vorbei. Ich kriege nichts. Ich will den Frieden! Der Friede sei mit Ihnen!“

16.2.2013: Langsam gehen, um überrascht zu werden.

15.2.2013: Kaum hatte sie ihre Augen wie Bettdecken zurückgeschlagen, tauchte sie eilend an Deck und merkte, wie das Schiff des Tages leise Fahrt aufnahm. So könnte es ewig weitergehen, nie würde sie an dieser blendenden Ausfahrt sich satt sehen können. Und doch würde sie eines Tages die Augen nicht mehr aufschlagen, würde sie das Deck nicht mehr erreichen, würde das Schiff des Tages ohne sie auslaufen.

14.2.2013: Die Welt ist reine Versuchung, sie läßt nichts unversucht, dich zu verführen, dich, der du ihr leichtsinnig nachgibst, für immer zu verwandeln.

13.2.2013: Der Tag ist hell, damit du dich in seinem Licht alles traust, damit du in seinem Licht den Aufbruch wagst, damit du dich in seinem Licht auf ein gefährliches Terrain begibst.

12.2.2013: Habe Mut, mute dir etwas zu, auch auf die Gefahr hin, daß es dir aufs Gemüt schlägt. Ein Hoch auf diese Form der Gemütlichkeit.

11.2.2013: Zwei, die sich lieben, bauen sich auf, bauen ein unverwüstliches Haus aus Rosen, die noch blühen, wenn sie längst gestorben sind.

10.2.2013: Ein Mensch, an Fehlern reich, ein anziehendes Wesen. Wer reich an Fehlern, gibt seinen lieben Nachbarn immer was zu denken, ist ihnen Stein des Anstoßes, macht sie lebendig. Ein perfekter Mensch ist immer auch ein Langweiler, eine Null par excellence, in dessen Gegenwart man nicht weiß, was man noch sagen soll, und man allzuleicht einschläft.

9.2.2013: Jeden Morgen gewisse „Erinnerungen“ meditieren: Erinnere dich, wie schön es ist, gesund zu sein. Erinnere dich, wie schön es ist, frei zu sein. Erinnere dich, wie schön es ist, Frieden zu haben. Erinnere dich, wie schön es ist, Rechte in Anspruch nehmen zu können.

8.2.2013: Verläßt du morgens das Haus, verwandelst du dich in ein Museum, das der Welt offensteht. Kommst du abends nachhause, hast du das Museum für dich allein und vertiefst dich in die neuen Bilder und Eindrücke des Tages.

7.2.2013: Sich um alles kümmern und doch unbekümmert sein.

6.2.2013: Die lässige Frau da in der Sonne, bequem in sich ruhend, wie scheint sie eine wahre Sonnenblume zu sein.

5.2.2013: Sie ließ den Tag schleifen, am Abend glänzte er brillant.

4.2.2013: Morgens im Bett weiß man nicht, was der Tag alles bringen wird. Abends im Bett erkennt man, was er gebracht hat.

3.2.2013: Sie, ein unbeschriebenes Blatt, ließ sich vom Wind durch die Gassen treiben.

2.2.2013: [2500. Eintrag:] Die schlechten Gewohnheiten sind die Mauern, die du schleifen mußt, sie engen dich ein und erschweren dein Fortkommen. Die guten bilden den Palast, in dem du dich zuhause fühlst und in Gedanken und Gefühlen die Weite der Welt erfährst.

1.2.2013: Jedes Haus ein Buch voller Geschichten, jedes Buch ein Haus zum Mitnehmen.

31.1.2013: Auch ein Wort, so lange auf eine Weise mißbraucht, daß man es nicht mehr hören und erst recht nicht guten Gewissens verwenden kann: das Wort „Debatte“. Es liegt verendet neben anderen Vokabeln auf dem Friedhof der geschändeten Ideen, dem Totenacker der von Heuchlern ungenießbar gemachten Wörter, neben „Würde“, „Anstand“, „Ehre“, „Respekt“, „Demokratie“, „Parlament“, „Bürgerbeteiligung“, „Rechtsstaat“, „Öffentlichkeit“, „Intelligenz“, „Fortschritt“, „Zukunft“, „Meinungsfreiheit“, „Emanzipation“, „Balance“, „Fitneß“, „Wohltäter“, „bürgerlich“, „herzlich“, „sozialistisch“, „kapitalistisch“, „top“, „nachhaltig“, „transparent“, „auf Augenhöhe“... (und so weiter)

30.1.2013: Das Kind bläst jeden Morgen, noch im Bett sitzend, Seifenblasen in den Himmel seines Schlafgemachs. Es schwebt spiegelblank mit ihnen in die Höhe.

29.1.2013: Oft ist man mies gelaunt, weil man die Sorge des Tags nicht bemerkt, die im Schatten des Bewußtseins die Zügel fest in Händen hält. Entdeckt man sie hingegen, holt sie ans Licht und wirft einen ruhigen Blick auf sie, dann erkennt man ihr in Wirklichkeit unbegründetes Dasein; sie springt ab, löst sich in Luft auf, und das Gefühl eines befreienden Galopps über die hügligen Gefilde breitet sich aus.

28.1.2013: Romane lesen und sich einen flauschigen Bären aufbinden lassen.

27.1.2013: Die eigenen Gedanken sind häufig Verszeilen, auf die man sich keinen Reim zu machen weiß.

26.1.2013: Im Traum habe ich einen Menschen kennengelernt, der an die Zimmerdecke oberhalb seines Betts die Begrüßung „Willkommen zuhause!“ gepinselt hat. Jeden Abend, bevor er das Licht ausknipst, liest er den Gruß, und jeden Morgen, wenn das Licht zurückkehrt und ihn weckt, liest er ihn wieder, und er erinnert sich jedes Mal daran, daß er sich jetzt zuhause befindet, in der horizontalen Schwerelosigkeit des Federbetts, dieser Urfiliale der verlorenen Fruchtblase.

25.1.2013: Die Erwachsenen fragten das Kind, warum es denn so glücklich sei, und das Kind sagte, es sei „grundlos glücklich“. Und die Erwachsenen dachten, das Kind sei ihnen weit voraus.

24.1.2013: Verstand ist die Kunst, Gefühle ordnen zu können.

23.1.2013: Heiter zu sein ist das natürliche Wetter jedes Menschen. Das heitere Temperament bemißt sich in Glücksgraden. Die inneren Hochs und Tiefs lassen sich mit Hilfe von Bewegung, Musik und jeder Art von Kunst beeinflussen. Oft vergessen Menschen, daß sie ihr Wetter selber machen können und verlieren sich im äußeren.

22.1.2013: Sechs Tage sollst du reisen, am siebten sollst du erzählen.

21.1.2013: Ihre Gedichte waren wie bittersüße Schokolade, sie schrieb jeden Tag welche und verschlang sie sogleich.

20.1.2013: Wünsche lassen sich nicht verlieren; sie sind die Flöße, die bleiben, auf denen Menschen im Dunkeln vorwärts ins Leben treiben.

19.1.2013: Sie liebt ihren Pyjama, auch im Winterdrama, er ist immer luftig leicht, ein heitres Sommerkleid.

18.1.2013: Einem Menschen die Zunge herausstrecken. Irgendwann muß jemand diese Gebärde das erste Mal gemacht und jemand anderes sie das erste Mal verstanden haben.

17.1.2013: Die Milchtüten im Kühlschrank – verzauberte Euter.

16.1.2013: Fortfahren. Mit der Erzählung. Als wäre sie ein Reisewagen. Fahre fort und verschleppe mich ins Land ohne Sorgen.

15.1.2013: Ein Land, in dem in jedem Bad ein Meeresspiegel hängt. Das Rauschen der See am Morgen.

14.1.2013: Am Morgen der in die Wohnung fallende Sonnenschein. Augenkaffee.

13.1.13: Die Einträge des Lebens auf ihrem Gesicht, diesem öffentlichen journal intime.

12.1.2013: Das Leben gleicht einer Busfahrt. Vorn steigen ständig neue Leute ein, hinten steigen andere aus, und der Bus fährt immer weiter, mit wechselnder Besatzung. Ist Gott ein Busfahrer? Falls ja, so kümmerte er sich nicht um das, was im Bus vor sich geht, was die Fahrgäste treiben und unterlassen, er wäre ein Chauffeur, der die Ruhe weg hat und nur darauf achtgibt, daß der Bus auf der Spur bleibt und nicht die Klippe hinabstürzt.

11.1.2013: Erledigst du die Dinge nicht, erledigen die Dinge dich.

10.1.2013: Das Ziel lautet, in einer unlogischen Welt logisch zu sein.

9.1.2013: Man nimmt sich nur dann ernst genug, wenn man sich nicht zu ernst nimmt.

8.1.2013: Das Bett ist die Kutsche der Träume.

7.1.2013: Die äußere Selbständigkeit ist leichter zu erreichen als die innere.

6.1.2013: Wenn du Maler bist, dann male ein ideales Selbstbild und gleiche dich ihm an. Wenn du kein Maler bist, dann handle in der gleichen Weise.

5.1.2013: Der Befehl ist ein Hund, den du ausführen mußt.

4.1.2013: Ungewohnte Gedanken stellte sie mal da hin, mal dort hin, so lange, bis sie ein wohnliches Ensemble ergaben.

3.1.2013: Unmittelbar leben und präsent sein.

2.1.2013: Aufwachen – das ist, als wärst du ein unsichtbares Flugzeug, das gerade abhebt. Das Bett verlassen habende Menschen sind luftgeborene Wesen. Das Bett ist Start- und Landebahn und Hangar in einem.

1.1.2013: Schreiben, ein Prozeß der Orientierung, der in die Orientierungslosigkeit führt.

31.12.2012: Wo ist der Raum für einen neuen (nichtreligiösen) Bund von Menschen, die fähig sind zu nüchtern rationalem und umfassend vernünftigem Denken?, von Menschen, die friedfertig sind und (zu nichts führenden) Streit und Krieg verachten? Wo sind die Räume, in denen Gespräche im erwünschten Sinn bester Alltag sind? Falls es solche Räume geben sollte, dann wären sie verschwindende Inseln in einem Ozean wütender Wellen.

30.12.2012: Sich ineinander verlieben, sich ineinander verleiben.

29.12.2012: Das Licht der Sterne, im Traum fällt es auf dich, glänzt auf deiner Haut.

28.12.2012: Was wünschst du dir? – Ein fröhliches Herz, mehr als alles andere.

27.12.2012: Keine Logik leuchtete ihr ein, außer der unlogischen der Liebe.

26.12.2012: Als endlich alles erledigt war, fühlte sie sich ebenso.

25.12.2012: Natalia Lisboa: „Jedes Mal, wenn ich Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm dargestellt sehe, denke ich: das ist das Portrait der alleinerziehenden Mutter von heute.“

24.12.2012: Der Morgen ist das Versprechen, das du im Laufe des Tags zu halten versuchst.

23.12.2012: Erinnerungen, diese farbenprächtigen Gobelins im Palast des Geistes. Jedoch, mit der Zeit, es kann passieren, verlieren sie ihre Farben, werden fadenscheinig, verschossen, und der Wind, durch bröckelnde Mauern heulend, reißt sie nacheinander von den Wänden.

22.12.2012: Wintersonnenwende, Nächte gehn zu Ende, die steigenden Tage kehrn zurück, und lichtet sich die Lage, nähert sich das Glück.

21.12.2012: Der Verein freier Menschen besteht aus Menschen, die es ablehnen, Teil eines Vereins zu sein.

20.12.2012: Wenn schon fromm, dann weltfromm sein.

19.12.2012: Warum schreiben Sie? – Weil ich meine eigenen Sachen lesen will.

18.12.2012: Im gesamten Universum gelten die Naturgesetze, nur nicht im Traum und in der Phantasie. Im Traum kannst du direkt in die Sonne schauen und erblindest nicht.

17.12.2012: Man müßte das Erziehungssystem als Seelenerziehungssystem begreifen, das Reifezeugnis als Seelenreifezeugnis.

16.12.2012: Jeden Tag hast du ein Stelldichein mit dir selbst. Wirst du es mal verpassen?

15.12.2012: Wenn die Selbsttäuschung gut genug ist, dann sind der Täuschende und der Getäuschte eins.

14.12.2012: Du beschreibst dich selbst wie ein Stück Papier und überschreibst die Selbstbeschreibung jeden Tag mit links.

13.12.2012: Heilsame Einflußnahme, ein Fluß nimmt dich auf und reist mit dir übers Land.

12.12.12: Bestimme dich selbst, gib dir eine Stimme.

11.12.2012: Ziele sind geistige Motoren. Sie halten den Laden am Laufen.

10.12.2012: Wenn die Tage kurz sind, mußt du die Nacht zum Tag machen.

9.12.2012: Wunschzettel eines Mädchens an das Christkind: „Ich möchte einmal durch den Kakao gezogen werden. Ich liebe Kakao.“

8.12.2012: Laß dich von der Stille drei Mal stillen jeden Tag, hör auf ihre Stimme, die erklingt, wenn alle schweigen.

7.12.2012: Die Betrachtungen, in denen er sich verlor, erschienen ihm wie Spaziergänge. Die Spaziergänge, die er machte, erschienen den Passanten wie Andachten.

6.12.2012: Das heftige Schneerieseln, zu Beginn des Winters, besänftigt, beruhigt und versetzt dich doch in Unruhe. Es ist die Freude des Kindes, das, ohne davon zu wissen, in der zeitlosen Zeit der Märchen lebt. Für Momente glaubst du, wirklich dorthin zurückgekehrt zu sein, ins Märchenland der Kinder.

5.12.2012: Nur Menschen verschlafen; verschlafen macht den Menschen menschlich.

4.12.2012: Sie spricht jede Sprache der Liebe fließend.

3.12.2012: Jeden Tag muß man sich tausend mal überwinden. Die erste Überwindung kostet es einen schon, morgens überhaupt aus den Federn zu kommen. Wozu aufstehen, wenn man auch liegenbleiben kann? Die Frage hat bis heute niemand schlüssig beantwortet; wahrscheinlich wird das auch so bleiben. Es ist als sei das Federbett der einzige erreichbare Fleck des Landes Utopia. Hier läßt sich leben, lesen, lieben.

2.12.2012: Schneeflöckchenballett, die Tänzerinnen wirbeln luftig leicht umher.

1.12.2012: Die bemerkenswerteste Innenarchitektur ist seit je die des Geistes. Sie verwandelt sich beständig, aufgrund von Gewalt von außen, durch Laissez-faire im Innern, durch Unwohlsein angesichts der gegenwärtigen Einrichtung. Man kann nicht behutsam genug beim Möblieren dieses Hauses vorgehen. Welche Gemälde, Portraits hänge ich an die Wand? Welche Platten, Bücher stelle ich ins Regal? Eine Freundin erzählt, sie habe in ihrem Haus eigens einen Folterraum eingerichtet. In diesem hängen all die Fratzen des öffentlichen Lebens an der Wand, laufen auf Bildschirmen in Endlosschleife die Nachrichten aus den Brennpunkten der Welt. Einmal im Monat gehe sie voller Widerwillen hinein, um auch auf diesem schrecklichen Feld ihrer Informationspflicht als emphatische Zeitgenossin und Friedensfrau der Tat zu genügen; es sei ihr dunkelster Tag, der alles verfinstere. Dann gehe sie wieder in die anderen Zimmer, wo sie mit Robert Walser und Franz Kafka, mit Platon und Plotin, mit Goethe und Schiller, mit Bach und Mozart, mit Wayne Shorter und Kenny Burrell, mit Paula Modersohn-Becker und Martha Argerich ein ausgelassenes Leben führe.

30.11.2012: In den Museen baden, schwimmen, von Saal zu Saal, in Bildern abtauchen.

29.11.2012: Der häusliche Frieden, ein in sich ruhendes und gleichzeitig aufregendes Selbstgespräch.

28.11.2012: Der niedergeschlagene Mensch erfährt das Grauen des Tags; der heitere dessen Blauen.

27.11.2012: Der erhoffte Kuß, den man empfängt, ist die einzige Bevormundung, die man akzeptiert.

26.11.2012: Wie oft vergißt du nach dem Aufwachen, die Augen richtig zu öffnen, den Tag zu sehen, den einen Tag, der nur heute tagt, den Spielraum der wachen Träume.

25.11.2012: Das vorüberfließende Leben – im November scheint es still zu werden, sich in sich zu kehren, als wäre es in sich eigentlich vor der Tür, im Freien, um in Ruhe sich vorüberfließen zu sehen.

24.11.2012: Die Tage im November: schmale Lichtgänge von einer Nacht in die andere Nacht.

23.11.2012: Während ich am Schreibtisch arbeite, kommt ein Pferd mich besuchen. Es betritt das Haus durch die automatische Schiebetür und trägt den Gartenduft mit herein. Jetzt steht es neben mir und sieht nach, was ich schreibe. Sein ruhiges Auge zuckt. Es schüttelt die lang fließende Mähne. Dann dreht es eine Runde durch das Zimmer und schreitet wieder hinaus.

22.11.2012: Abends trat er vor den Spiegel und sprach zu seinem Bild: Auf Wiedersehen! Am nächsten Morgen, wieder vor dem Spiegel, fragte er: Kennen wir uns?

21.11.2012: Unter dem Gewölbe des Tags singen die beflügelten Kinder; abends verschwinden sie in ihren Nestern und rollen sich ein.

20.11.2012: Auf Kamelen zogen wir in sengender Hitze durch die Sahara und stießen in den Dünen verborgen auf eine Sanduhrenfabrik. Ein trockenes Rieseln überstürzte uns.

19.11.2012: Das Ideal: neugierig auf sich selbst sein, egal wie alt oder jung man ist.

18.11.2012: Sie trägt eine Armbanduhr, die jeden Tag eine andere Zeit anzeigt. „Ich ertrage nur eine Uhr, die falsch geht. Nur so habe ich das Gefühl, in der richtigen Zeit zu leben.“

17.11.2012: Jeden Morgen, mit dem ersten Frühlicht, brichst du auf und gehst im Zeitpark spazieren.

16.11.2012: In keinem anderen Monat läßt sich so gut Tee trinken wie im November.

15.11.2012: Manche Eltern reden mit ihren Kindern, als wären diese geborene Befehlsempfänger. Manche Kinder reden mit ihren Eltern, als wären diese angenabelte willenlose Werkzeuge.

14.11.2012: Bei manchen Hunden hat man den Eindruck, sie gähnen nur, weil es ihnen Vergnügen bereitet.

13.11.2012: Exzellenz-Universität hier, Elite-Universität da, schon diese Begriffe sind unfreiwillig satirisch. Was bereits die Erfüllung jedes Bildungsverlangens wäre, wären schlicht Universitäten mit klugen und engagierten Forschern, Lehrenden, die lernen, und Lernenden, die lehren – Dialektik reinsten Wassers für den Jungbrunnen der Geister.

12.11.12: Was Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet, sind die im Sitzen übereinandergeschlagenen Beine. Eine verwandte Form der Behaglichkeit findet man bei Hunden, die zu Füßen ihrer menschlichen Geschäftspartner von ihren Gassenpatrouillen ausruhen und von vergangenen Duftspuren träumen. Bei Katzen liegt eine meditative Form der Behaglichkeit vor, sie strahlen in ihrem Dösen ein überlegenes Wissen aus, ihr Schlummern gleicht einer spirituellen Praxis. Das müde geöffnete Auge, mit dem die Katze ihren Tempeldiener regelmäßig mustert, scheint diesem zu sagen: „Du Menschenwesen reichst mir nicht das Wasser, mit deinen Sorgen und Nöten tust du mir unendlich leid.“

11.11.2012: Ist der Mensch nicht ein Instrument, das, wenn es verstimmt ist, Mißfallen hervorruft, und das, wenn gestimmt, Bewunderung erregt?

10.11.12: Als das Kind zur Welt kam, fühlten sich die Eltern neugeboren.

9.11.2012: In meiner Dichtung, sagt die Lyrikerin, fallen Lichttropfen aus den Wolken der Seiten.

8.11.2012: Meine Gemälde, sagt die Malerin, zeigen den malerischen Matsch der Zeit.

7.11.2012: Meine Musik, sagt die Komponistin, entspringt einer Kombination aus Blusen und Röcken.

6.11.2012: Was tut gut? Zum Beispiel jetzt der Blätterschatten an der Wand. Einerseits ist das ein Stummfilm, andererseits ist dieser Streifen wirklicher als jeder gedrehte, der im Kintopp läuft. Licht und Schatten eröffnen die Dimensionen des Unendlichen und des Endlichen. Der Blätterschattenfilm verbindet dich unmittelbar mit den endlosen Schluchten des Weltalls. Die Sonne sendet ihre Lichtstrahlen direttissimo auf die leere weiße Wand des Zimmers; die Blätter der Linde vor dem Fenster flattern in den solaren Bahnen, und ihre Negative tanzen im Zimmer in Ballerinabewegungen über die senkrechte Wandebene.

5.11.2012: Tagsüber, wenn du wach bist, beschirmt dich die Zimmerdecke, und nachts, im Schlaf, schützt umfassend und wärmend die Bettdecke. Die Bettdecke ist die Zimmerdecke des Schlafs.

4.11.2012: Sie empfand das Ticken des Weckers als „impertinent“ und versteckte ihn in den Tiefen ihres Kleiderschranks.

3.11.2012: Der Strom, ein A-capella-Chor aus tausenden Flüssen und Bächen. Jede einzelne Stimme hat ihren Anteil, verschwimmt im großen fließenden Klang.

2.11.2012: Sie schrieben einander Liebesbriefe, zunächst ohne Anhang, dann mit Anhang.

1.11.2012: Lea Odesa an Hafis: „Was soll das lange müßige Reden? Mündet nicht alles ohnehin in den Federn? Wozu dienen die Kissen, wenn nicht, um in ihnen, wie in einem Meer, unermüdlich zu küssen? Nun komm schon endlich her...“

31.10.2012: Wie Stadttore schließen abends die Augen; wie Stadttore öffnen sie morgens, und die Sonne tänzelt herein.

30.10.2012: Alter – ist schon erreicht, wenn du zu bequem bist, für eine Kastanie das Knie zu beugen.

29.10.2012: Im Traum erscheint der gewohnte Weg als Verirrung.

28.10.2012: Der Tag eine Sinfonie, mit schnellen und langsamen Sätzen, Adagio-Phasen, Andante-Zeiten und Allegro-amoroso-Partien. Der Ausklang pianissimo, Atemhauch.

27.10.2012: Gerade noch bewundert man die raschelnden Blätter am Baum; jetzt liegen sie unten, und man geht raschelnd durch sie durch.

26.10.2012: Morgens, wenn du aufwachst, hast du das Gefühl, die Welt sei eingeschlafen. Nur die Vögel singen mit dir.

25.10.2012: Momentaufnahme. Fallende Wasser und Kußblitze des zarten Lebens.

24.10.2012: Was im griechischen Mythos und in der römischen Welt der mantisch begabte Vogelschauer, das sind heute in verwandelter Form gutbezahlte Zeitdiagnostiker und Zukunftspropheten. Aus tausenden von Flugbewegungen der Meinungsvögel, über die Himmel der Bildschirme schwirrend, lesen sie die Zukünfte ab. Es fällt das Gemeinsame vieler Zukunftsvisionen auf: sie sind von Düsternis gezeichnet. Eine heitere oder auch nur durchwachsene Utopie scheint nirgends in Sicht.

23.10.2012: Schwierig, jeden Morgen in die Gänge zu kommen. Zu kommen, um zu gehen. Um die Gänge zu machen. Erst am Abend, nach den taglang gemachten Gängen, nimmst du den Gang raus, drehst das Ganglicht ab, schwebst in unbegangene Sphären.

22.10.2012: Du wohnst im Gesang, die Blüten auf der Wang von Rosen, die glühten, die losen Lider, und ihr umschlungenen menschlichen Flieder lebt den gelungenen Versuch der Liebe.

21.10.2012: Jeder ihrer Auftritte ist große Oper, und wenn sie nicht auftritt, glänzt sie durch Abwesenheit.

20.10.2012: Der goldene Oktober – Augenhonig.

19.10.2012: Sei ein Fluß, ein unscheinbarer, blitz in der Sonne, murmel im Schatten, mäander von Dorf zu Dorf, zieh unterm Eis ins Land, kümmer dich um nichts, fließ, wohin es dir paßt.

18.10.2012: Die Feuerwehrfrau dichtete während der Wartezeiten, notierte flammende Verse aufs Löschblatt.

17.10.2012: Der Meeresspiegel schillert auf ihren Augen.

16.10.2012: Die goldenen Tage eine Landschaft aus Lichtflüssen, in denen du baden gehst.

15.10.2012: Bestreu den Gehsteig mit Blumen, spazier leichtfüßig durch die Stadt.

14.10.2012: Endlich die alten Zeitungen, die nur im Nacken liegen, auflesen.

13.10.2012: Aus Wolken fällt Regen, ein Spiegel aus tausend Splittern.

12.10.2012: Wenn die Stadt ein Urwald aus Klängen ist, dann ist das Land die Lichtung der Stille, meint Meta Haltaufderheide.

11.10.2012: Kehr einmal am Tag bei dir ein und tisch die üppigsten Geschichten dir auf.

10.10.2012: Wirbelsäule – im Schwäbischen ein über den Hof wirbelndes kleines Schwein.

9.10.2012: Du wanderst durchs wilde Gestrüpp des fallenden Blattgolds, träufelst als Vorrat für die dunkle Zeit Sonnentropfen in die Augen, Honig für den Geist, unscheinbar weich.

8.10.2012: In deiner Handmuschel höre ich das Meer rauschen.

7.10.2012: Auch die Vögel, die vor dem Fenster im Garten flattern, gehören zur Familie.

6.10.2012: Wenn der Winter naht, legt sich die Erde unter der Blätterdecke schlafen.

5.10.2012: Im Traum bin ich mein Komplize. Wir klettern mit der Räuberleiter über die Mauer und schwimmen aufs Meer hinaus. Später merke ich, daß ich gestrandet bin, und reibe mir Sand aus den Augen. Mein Komplize hat es nicht bis ans Ufer geschafft. Oder bin ich der Komplize, und mein Ich ist untergegangen?

4.10.2012: Am Morgen möchte er aus dem vielversprechenden Tag eine Vase formen. Am Abend steht er inmitten von Scherben.

3.10.2012: Die Müdigkeit ist, steht ein Bett in der Nähe, die süße Verführerin.

2.10.2012: Lebt der Leib-Seele-Dualismus im Dualismus von Arbeit und Freizeit fort? Jedenfalls ist für etliche Menschen ihre Arbeit die wahre Freizeit, wohingegen ihre Freizeit ihnen viel Arbeit macht.

1.10.2012: Der Mondaufgang über den Weinterrassen von Schloß Sanssouci. Während im Westen jenseits des Neuen Palais über den Bäumen der orangegoldene Himmel des Sonnenuntergangs zu sehen ist, geht im Osten der Mond knapp über den Wipfeln und den angrenzenden Dächern der Stadt auf, der stille, volle, schweigende, in sich ruhende, große Meister, und verweist die anderen täglichen Majestäten, die menschlichen Sorgen, auf ihre Plätze. Ohne Sorgen geht er auf, ohne Sorgen siehst du seinen Lauf.

30.9.2012: Die in Flammen stehenden Träume, die nach dem Aufwachen zu Asche zerfallen.

29.9.2012: Tage, die Perlen der Halskette eines Monats.

28.9.2012: Hafis, auf seinem Diwan liegend, notiert in sein geheimes Weintagebuch: „Der Film auf ihren Augen war der am meisten rührende, aufwühlende, frappierende, den ich Träumer jemals zu Gesicht bekommen habe und den ich nie wieder, fürchte ich, sehen werde.“

27.9.2012: Lena Lisboa: „Nimm du jeden Morgen ein Gesangsbad, dich wachzumachen, zu beleben, damit du ganz Ohr und Auge wirst.“

26.9.2012: Was ist das Leben letztlich anderes als ein Bad, welches jeder Mensch selber ausbaden muß?

25.9.2012: Aus dem Stillen Ozean des Schlafs in den Pazifik der Töne gleiten.

24.9.2012: Sich nach dem Aufwachen noch einmal umdrehen – das Elend der Welt sieht man noch früh genug.

23.9.2012: Obschon es bewölkt war, spiegelte auf ihrem Gesicht die Sonne.

22.9.2012: Ein Blindenhund, der einen blinden Hund durch die Stadt führt.

21.9.2012: Das Kind sammelte leere Schneckenhäuser, die Muscheln des Gartens.

20.9.2012: Kann man nicht eine Hölle bauen, in die man alles hineinwirft, was das Leben und den Lebensgenuß zerstört, zum Beispiel Gehsteiglaubbläser?

19.9.2012: Ein Hotel eröffnen nur für dich, mit dir als einzigem Gast. Was ist Wellness anderes als die lärmende Welt draußen zu halten?

18.9.2012: Täglich bewußt nachdenken gehen, als ginge man joggen.

17.9.2012: Sie sagte, sie müsse sich jeden Tag aufs neue „rehabilitieren“; und meinte das Gehen, das müde und gleichzeitig wach machende stundenlange Gehen, „das aber auch ein Tanzen ist“, ihre Art zu tanzen.

16.9.2012: Die Vögel stimmen dich mit ihren Stimmen auf den Tag ein, stimmen den Geist, als wäre er ein fragiles Instrument, das nur kleine Flügelwesen stimmen können.

15.9.2012: Sich ein Wort schenken und schweigen.

14.9.2012: In der Klanginstallation „FOREST (for a thousand years)“ von Janet Cardiff und George Bures Miller im Laubwald der Parkaue auf der dOCUMENTA (13) in Kassel stehen und sitzen Hunderte von Menschen aus vielen Nationen mucksmäuschenstill zusammen und lauschen gebannt, viele mit geschlossenen Augen, den Tönen und Geräuschen, die aus den Boxen ringsum am Boden und hoch in den Bäumen kommen. Ein getrenntes Zusammensein von einander Fremden, eine Versammlung im Wald, eine Waldkirche des Hörens, nicht des Betens, mit dem Effekt, über das Gehör in eine andere Welt, eine andere Zeit zu gelangen.

13.9.2012: Tagsüber reist du gehend, nachts im Liegen. Das Bett ein Schlafwagen, träumerisch gefedert.

12.9.2012: In Gedanken versunken ging die Frau über die Kreuzung. Taxis umkurvten sie, Radler strichen in ihrem Rücken vorüber, ein Hund fegte zwischen ihren Beinen hindurch, ein Spatz berührte schwirrend ihre Nasenspitze – sie merkte nichts und ging weiter.

11.9.2012: Obdachlose, die eine Stadt nach der Anzahl und der Art der Brücken beurteilen. Venedig, das Paradies der Obdachlosen.

10.9.2012: Der Himmel gehört zur Erde, fast mehr als die Erde selbst. Ist nicht er das intime Gspusi der hiesigen Planetarier? Ob er blau scheint, grau, rot, orange, gelb, er färbt die launische Leinwand des Menschen wie kein anderer Pinselschwinger weit und breit. Der Himmel, der riesenhafteste Künstler aller Zeiten.

9.9.2012: Lena Lisboa: „Schwierigkeit, wer hat dieses sinnlose Wort erfunden?“

8.9.2012: Das Kind ging mit der Schere umher und zerschnitt fröhlich die Luft in Konfettistreifen.

7.9.2012: Großzügigkeit, ein Nebeneffekt der Zufriedenheit.

6.9.2012: Unglücklich ist der Mensch dann, wenn er das nicht verwirklicht, was er verwirklichen möchte, obwohl er es könnte.

5.9.2012: Die allzu magnetisch anziehende Tracht unter Menschen – die Zwietracht.

4.9.2012: Aufwachen mit dem Gefühl, in ein fremdes Land zu kommen. Als wäre Wachsein eine Form des Exils. Und die Freude beim Einschlafen ist die Vorfreude auf die Rückkehr ins vertraute Urreich?

3.9.2012: Man muß sich um seine kriegerischen Eigenschaften nicht kümmern, wenn man in Wirtschaften den inneren Frieden findet. Wirtschaften, was sind sie anderes als die Organisation für Frieden und Zusammenbeißen in Europa (OFZE)?

2.9.2012: Etliche Menschen duften abgebrannt – als hätte das utopielose Denken ihre Flügel versengt.

1.9.2012: Das Gesicht ein Parkett mimischen Balletts.

31.8.2012: Auf der Bühne findest du die Waben der Vergangenheit. Du schleuderst sie und schleckst den Honig der Erinnerung.

30.8.2012: In Augen schwimmen Verse von Angst, Liebe, Hoffnung, Freude, Trauer, Entsetzen, Glück, schwimmen hin und wieder, springen wie Delphine aus der salzigen Flut und verschwimmen am Horizont, an der Grenze des lautlos atmenden Spiegels.

29.8.2012: Der Schlaf, erwünschte Gedankenlosigkeit.

28.8.2012: Der wirkliche Urlaub sind jene Wochen, in denen du nichts geplant hast, nichts planst, auch nichts planen mußt, in denen du traumverloren in den Tag hinein lebst, in ihm schwebst wie ein spielendes Kind.

27.8.2012: Gute Stimmung, der Rollator des Alltags.

26.8.2012: Ein Lächeln, das auf dem Gesicht eines Menschen erscheint, weil er sich erinnert, daß auch heute wieder ein Tag ist, um eine Entdeckung zu machen – und wäre es ein unscheinbarer Winkel einer kleinen Straße.

25.8.2012: Auch fehlender Glanz kann durch Abwesenheit glänzen.

24.8.2012: Erziehungsziel: sich Wohlwollen entgegenbringen.

23.8.2012: „Neuaffige Menschen stehen an ihren Proseccotischchen und lutschen an ihren Gläsern“, schreibt Lena L. in einem Billett aus einer deutschen Festivalstadt.

22.8.2012: Jeden Tag ins Fitneßstudio gehen, um die Lachmuskeln zu trainieren.

21.8.2012: Carl Apfelschnitz meint: „Die Kompliziertheit des deutschen Steuerrechts ist ein fiskalischer Beweis für die Nicht-Existenz Gottes.“

20.8.2012: Es hallt vom Horizont her, im Scheinwerferlicht der Sonne, die Zeit der Weintraubenmusik.

19.8.2012: Menschen, heiße Eisen, die der Zeithammer formt.

18.8.2012: Die einzige Hauptstadt, die man noch ertragen könnte, wäre die Hauptstadt der Hauptstadtlosen.

17.8.2012: Was ist ein Kampfjet anderes als ein evolutionär weiter entwickelter Tyrannosauros rex?

16.8.2012: Eins der verfolgenswerten Ziele sollte sein: Das Verständnis dafür fördern, daß Kritik eine sinnvolle erhabene Mitgift des Menschen sein kann, die Fähigkeit, zu kritisieren und sich kritisieren zu lassen. Gute Kritik ist keine herabziehende Energie, sondern ein stimulierender Strom. Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er kritisiert. Und er ist ganz Mensch auch nur da, wo er selber kritisiert wird und Kritik nicht nur erträgt, sondern sich wünscht. Kritik ist der Ausgang des Menschen aus seiner wie von selbst erworbenen Blödheit. Ich kritisiere, also bin ich. Ich werde kritisiert, also besteht für mich noch Hoffnung. Die Menschheit wird kritisch sein, oder sie wird in einer nicht entblödeten Tyrannei enden.

15.8.2012: Immer wieder gewinnt man den Eindruck, Kinder werden nicht als schon unabhängige Persönlichkeiten respektiert, sondern dienen vor allem als Jungbrunnen für die Alten.

14.8.2012: Im Zeitalter der Wanderungen verwandeln sich Nationen in Kombinationen.

13.8.2012: Die Stille, das Museum zum Nachdenken.

12.8.2012: Auch die Natur hat an Sonntagen Sonntag. Es ist an diesen Tagen in gewissen Vierteln auffallend still, kein anfahrendes Auto ist zu hören, kein nachbarliches Gespräch. Man weiß nicht, ist die Menschheit ausgestorben oder sitzen ihre Vertreter in ihren Wohnungen und brüten Illusionen aus? Man geht im Freien umher und vernimmt das Rauschen und Rascheln des Windes, das befreite Gespräch der Natur mit sich selbst.

11.8.2012: Man könnte Völker auch wiegen. Ihre proportionalen Gewichte würden zu Beginn des Lexikoneintrags über sie entsprechend verzeichnet („Das Volk der Franzosen wiegt vor dem Mittagessen so und so viele Millionen Kilogramm“). Es ließen sich historische Rückschlüsse ziehen. Um die Jahre 1800, 1850, 1900, 1950, 2000 brachten 50 Millionen Deutsche so und so viele Tonnen auf die Waage. Das aktuell schwergewichtigste Volk der Erde – sind es die Amerikaner? Und, nebenbei gefragt, spielt es für die Erdrotation eine Rolle, wie auf der Erdoberfläche die Gewichte verteilt sind und auf welche Weise die Gewichtsträger sich auf ihr bewegen? Wird die Erde selbst überhaupt schwerer, wenn auf ihr mehr Menschen leben?

10.8.2012: Jeden Abend klingelt sein Wecker und erinnert ihn daran, daß er den Wecker für morgen früh stellen muß. Klingelt er dann am Morgen, erinnert er sich daran, ihn für den Abend zu stellen. Daß der Wecker stets gestellt ist, gibt ihm das Gefühl, sein Leben nicht zu verschlafen.

9.8.2012: Liebe, Koffein der Seele.

8.8.2012: Lächeln, Verneinung der Misanthropie.

7.8.2012: Mit dem, was du tust, zeigst du immer auch, was du nicht tust. Das Nichttun ist das Negativ des Tuns, und dieses Negativ wirst du nicht los, es ist der Schatten, der dir überallhin folgt.

6.8.2012: Mit das Erstaunlichste am Leben ist, daß du bewegende Tiere und nicht immer bewegende Menschen kennenlernen kannst – bevor du wieder im Nichts verschwindest.

5.8.2012: An manchen Tagen fehlte ihr der innere Jazz. Sie nahm den äußeren dafür.

4.8.2012: Das Leben, ein Abonnement der Zeit, das der Tod kündigt.

3.8.2012: Eine heute übliche Form des Steckbriefs ist die Heiratsannonce.

2.8.2012: Die Frisur und das Make-up sind die beiden Urformen, um mit bloßem Schein mehr Sein vorzutäuschen.

1.8.2012: Mitdenken und mitfühlen, zum Gemeinsamen erwachen, machen den Menschen zum Menschen.

31.7.2012: Den Worten muß man stets eine Prise Salz beimischen.

30.7.2012: Er war Erster Geiger bei den Berliner Philharmonikern. Sein Leben vergeigte er gründlich.

29.7.2012: Sie weiß, Tage haben ihre eigenen Takte, ihre unvorhersehbaren Taktwechsel. Als Dirigentin des eigenen Lebens horcht sie darauf.

28.7.2012: Am besten läßt du dir nichts einreden, dann mußt du dir auch nichts ausreden lassen.

27.7.2012: „Es irrt der Mensch solang er strebt“ („Faust“) – das heißt, es kommt darauf an, den für einen selbst annehmbarsten Irrtum zu erkennen und an ihn sich zu halten.

26.7.2012: Konspirieren, gemeinsam atmen. Inspirieren, einander anstiften.

25.7.2012: Eine elektrische Philosophie setzt ihre Leser unter Strom.

24.7.2012: Alles geht dir nah, auch das dir Fernliegende.

23.7.2012: Die Wege verlaufen sich wie Wasser, und im Weglosen erträumst du einen neuen Weg.

22.7.2012: Der Marktplatz das Gesicht einer Stadt. Die Plätze die Gesichter der Stadtviertel.

21.7.2012: Die „Tagesschau“ wurde vorzeitig beendet, es gab nichts mehr zu berichten – der Erste Weltfrieden war ausgebrochen.

20.7.2012: Jeder ist immer auch der intimste Weggefährte des eigenen Lebens.

19.7.2012: Jede Dichtung eine Dichtung von Echos. Du liest und hörst die Echos aus dem Felsental des Alltags.

18.7.2012: Jedes Haus, auch das eigene, ein Gästehaus. Das Leben ist nichts anderes.

17.7.2012: Präzision ist die Erotik der Gedanken.

16.7.2012: Schlechte Laune ist nicht die Lösung, gute hingegen schon.

15.7.2012: N. L.: „Aus welchen Wolken möchtest du fallen, welche Sterne auf deinen Augen widerspiegeln? Die Stille ist dein Lidschatten.“

14.7.2012: Warten – das Nichts pflegen.

13.7.2012: Sie will gläubig sein, an die Welt glauben, und doch sagt sie jeden Abend: Gibt es die Welt wirklich? Das ist doch alles unglaublich.

12.7.2012: Sie unterhielten sich mit Blicken, Lächeln, Berührungen. Wieso sollten sie noch miteinander reden?

11.7.2012: Sie war eine Architektin für Rosenhäuser. Sie ließ sie regelrecht aus dem Boden wachsen. Außenwände, Zimmerwände und Decken nichts als Rosen. Es gab auf der Welt keine angenehmer duftenden Häuser.

10.7.2012: Die Menschheit ein reißender Fluß, über die Ufer tretend.

9.7.2012: Für manche Gläubige spielt Gott Verstecken. Ihn suchen sie ihr Leben lang vergeblich.

8.7.2012: Erwachsene, diese abgedankten Kinder. Ihre Zerstreuungen sind der Versuch, mit ihrem erzwungenen Thronverzicht zu Rande zu kommen.

7.7.2012: Stille, Muse der Ohren.

6.7.2012: Die endlosen Korridore eines Verwaltungssitzes erregen ein Gefühl der Vergeblichkeit; das kann den träumenden Menschen auch in der Traumwelt ergreifen.

5.7.2012: Im Vergleich zur Stille ist eine Stimme nicht unbedingt hörenswert.

4.7.2012: Jeder Mensch benötigt einen Unabhängigkeitstag – einen Tag im Jahr, an dem er seine selbstinitiierte Befreiung und Loslösung von erzieherischen und gesellschaftlichen Ketten feiert.

3.7.2012: „Brot und Spiele“, diese Wendung, auf triste Weise römisch-historisch belastet, bezeichnet heute noch in kritischer Absicht die Ablenkungs- und Abstumpfungsstrategie von Diktatoren und sonstigen Machthabern. Doch nimmt man sie existentiell, so ergibt die Verbindung von Brot und Spielen nichts anderes als die höchste Form der Lebenskunst. Brot verweist auf die befriedigten Bedürfnisse, die den Leib stärken und am Leben erhalten, Spiele auf die Kunst, das Leben frei von Zwecken zu führen. Was will man mehr? Nichts. Und die Liebe? Die Liebe ist Brot und Spiel in einem.

2.7.2012: Er bezog eine neue Wohnung und richtete eine Ablage ein, um seine Fehler ablegen zu können.

1.7.2012: Das mineralische Dasein am See, im Bann der goldenen Sterne, die in aller Ruhe mit der Sonne verschwimmen.

30.6.2012: Ein Fluß, der zwei Dörfer verbindet. In ihm sieht man immer wieder Menschen schwimmen. Sie schwimmen von Dorf zu Dorf, besuchen sich. Manche fließen ineinander.

29.6.2012: Sie möchte jeden Tag in Wünschen baden. Wünsche machen sie lebendig und verwunschen.

28.6.2012: Der Sommer geht in die Tiefe, taucht ab in einem ländlichen See, zieht ruhig übers Land.

27.6.2012: Im Fluß des Geistes tauchen Träume auf.

26.6.2012: Jeder Tag hat eine unsichtbare Tür; du mußt sie finden, um dich in ihn hineinzufinden.

25.6.2012: Der schönste Zeitgenosse die unbekannte Passantin, die in sich gekehrt vorübergeht. Sie ist der Ausdruck vollkommener Weisheit, die nichts will und alles bietet.

24.6.2012: Abends aussteigen aus dem Auto, die Tür zumachen und aufatmen.

23.6.2012: Die Verneinung der Straße ist die Sackgasse. Diese führt zu nichts. Die Straße ist das Versprechen einer Zukunft, die verlockender scheint als der Ort der Gegenwart.

22.6.2012: Wenn du nach dem Aufwachen den Bettvorhang zur Seite schiebst, dann siehst du sie wieder, die Manege des Zirkus, den man Leben nennt. Gleich wirst du sie betreten. Du sammelst dich etwas, bevor du aufstehst und sie betrittst. Dann bist du da, ein Clown unter Clowns. (Die wissen oft nicht, daß sie Clowns sind.)

21.6.2012: Laß den Tag unabhängig vom Wetter sonnig erscheinen.

20.6.2012: Liebe, eine Gleichung zwischen zwei Ungleichen.

19.6.2012: In der Landschaft aus Sätzen bist du daheim.

18.6.2012: Für das handschriftliche Schreiben sprechen auch die durchgestrichenen Wörter und Sätze, die nicht gelöscht, sondern im doppelten Sinn aufgehoben sind.

17.6.2012: Nachahmen kann man vieles, unnachahmlich ist vielleicht nur eins: wie es sich anfühlt, du selbst zu sein.

16.6.2012: Wer sich und sein Leben betrachtet und darin wie in einem Buch liest, wird Schreib- und Druckfehler entdecken. Die Kunst besteht darin, sie als Arabesken zu sehen, die dem Leben Flair und Glanz anziehender Eigensinnigkeit verleihen.

15.6.2012: Was dir Auftrieb gibt jeden Tag, ist jeden Tag ein Wunsch. Im Wunschballon schwebst du übers verwunschene Land.

14.6.2012: Der Tag, manchmal gleicht er einem verirrten Schaf. Wenn du es findest, mußt du behutsam sein, es freundlich anlächeln, dich ihm vorsichtig nähern, es lange streicheln, ihm den Weg zur Herde der anderen weisen. Die ziehen am Himmel weiter.

13.6.2012: Regentropfen auffangen mit den Wimpern.

12.6.12: Am Feldufer, wo Graswellen stranden, atmest du auf.

11.6.2012: Regen fällt; sein Blinzeln feuert die Menschen an.

10.6.2012: Baden gehen, in der Früh, im Swimmingpool des Wolkenkuckucksheims.

9.6.2012: Sei wie der Tag jeden Tag neugeboren.

8.6.2012: Lea Odesa: „Überall, an jeder Ecke, auf jedem Platz, blühen die wilden Rosen, verströmen den Duft aus Verlangen und Erfüllung.“

7.6.2012: Venus-Transit auf dem Insulaner, Anhang. Auf der Sternwarte sagt der Großvater zu seinem Enkel: „Der nächste Venus-Transit wird erst in einhundertfünf Jahren zu sehen sein; du hast großes Glück, daß du dieses seltene Ereignis miterleben kannst.“ Der Junge bleibt stumm, steht ganz in sich versunken da, seine Augen, sein Blick gehen ins Nirgendwo. Vielleicht sinniert er über das, was sein Großvater zwischen den Zeilen auch sagt: In einhundertfünf Jahren werden wir alle, die wir hier stehen, gestorben sein. Vielleicht begreift der Junge das erste Mal, was Vergänglichkeit bedeutet. Er setzt die Schutzbrille auf, der Großvater legt seinen Arm um die Schultern des Jungen. „Siehst du sie?“

6.6.12: Venus-Transit auf dem Insulaner. Den Blick in die Sonne des Lebens überstehen die Augen der Seele nur mit der schützenden Folie der Liebe.

5.6.2012: Der Tag setzt dich jeden Abend aus und bettet dich in einen weichen Schlafkorb, ihn den Fluten der Nacht übergebend. Am Morgen strandet er, unberührt, am neuen Ufer.

4.6.2012: Dein Gesicht, dieser Spiegel aus Glas, blendend im Sonnenschein, zerfällt beim Küssen in tausend Blütenblätter.

3.6.2012: Natalia Lisboa: „Plötzlich die Sehnsucht nach einem alten Telephonbuch, nach dem schwirrenden Klang der dünnen Seiten, nach der anschmiegsamen Glätte jedes Blatts, nach der ungeduldigen Suche des Namens mit dem Finger, der über die Zeilen gleitet, nach all den Zeichnungen, die während eines Anrufs auf den Rändern entstehen.“

2.6.2012: Auch das wären mögliche und vielleicht sogar nötige Meldungen auf der Sportseite der Zeitung: „Ein Fußball-Länderspiel Deutschland – Palästina fand nicht statt.“ Oder: „Das in Gedanken vieler Fußballfans mit Spannung erwartete Spiel Israel gegen Palästina wurde nicht angepfiffen.“

1.6.2012: Lena Lisboa: „Schuhputzer Regen, du putzest meine Schuhe im Gehen nebenher.“

31.5.2012: Im Schaufenster des Buchladens sah er einen „Reiseführer des richtigen Irrwegs“. Er kaufte ihn und läßt ihn seither nicht mehr aus der Hand.

30.5.2012: H.: Der Tag kaschiert die Nacht mit dem Schleier des Lichts. W.: Der Tag verbirgt die Nacht hinter dem Schleier des Lichts.

29.5.2012: Carl Apfelschnitz: „Warum können Tiere nicht einer Nation mit angehören? Und ich meine nicht den deutschen Schäferhund oder den irischen Setter, sondern den Gattungen und Arten nach unterschiedliche Tiere, die ihrem Paß nach jedoch Engländer, Franzosen, Deutsche sind. Sie wären Teil der menschlichen Landesbevölkerung und hätten Stimmrecht.“

28.5.2012: Sie war eine Schlafkünstlerin. Sie erwachte immer im richtigen Moment, nie zu früh, nie zu spät.

27.5.2012: Wen könntest du heute grüßen? Zum Beispiel die Landzunge, auf der du zwischen glitzerndem Wasser gehst, die Gletscherzunge, die sich, wie du hörst, gerade löst, und am Kiosk die vielen Zungen, von den eisschleckenden Mädchen simultan herausgestreckt.

26.5.2012: Es sind wieder die langen, schier unendlichen Tage aufgegangen. Bereits vor dem Wachwerden rauschen die Sonnenwellen in die Wohnung, und am Abend rollen sie noch spät, zu Pyjamas seidener Zeit, vom Horizont heran. Es ist ein Meer aus Licht, in dem Inseln aus Schatten Labsal bieten, Augenweiden, von denen aus das getäfelte Meer für den Blick ertastbar wird, von denen aus es anmutig unnahbar schillert.

25.5.2012: Das Hoheitsgebiet, das du akzeptierst, in dem du dich am liebsten aufhältst, ist das Niemandsland.

24.5.2012: Natalia Lisboa kritzelt aus Sintra: „Gewisse sommerliche Frühjahrstage sind in ihrer metaphysischen Wucht kaum aushaltbar. Man möchte sein Gesicht in die Pflanzen stecken und hemmungslos weinen.“

23.5.2012: Im Nest der Sehnsucht brüten Schwalben den nächsten Sommer aus.

22.5.2012: Das Haus fängt mit den Fenstern Licht. Räume, Lichtaquarien, in denen Menschen schwimmen.

21.5.2012: Seitdem sie sich ohne Ton unterhielten, verstanden sie sich viel besser.

20.5.2012: Die Liebe ein Haus des Spiels. Die Liebenden spielen sich an, spielen sich die Bälle zu, sind verspielt, verwöhnt, verträumt, spielen bis in den Sonnenuntergang. Der Mond geht auf, sie spielen sich gemeinsam ein.

19.5.2012: Carl Apfelschnitz: „Nächte sind die Urformen des Tunnels.“ – Lena Lisboa: „Tunnels sind die Nickerchen des Tages.“

18.5.2012: Der Regen ist glücklich, wenn er fällt.

17.5.2012: Müßiggang, das kann ferner ein flotter Gang sein, ohne Stöcke, in feinster Schale. Es verjüngt, erfrischt das Gemüt, sich ganz in Bewegung zu bringen und Stadt und Land nonchalant zu durchschweifen.

16.5.2012: Die ideale Schule lehrt nicht Wissen, höchstens en passant, sie lehrt den Mut, macht die Skepsis schulhoffähig, evoziert die erotische Kraft der Vernunft, illustriert den Sinn des Maßvollen, macht Gerechtigkeitsbegriffe klar, deutet die Perspektiven an, die jeder beim Betrachten des Lebens einnehmen kann und wirkt so, alles in allem, aufklärerisch und fördert den Frieden.

15.5.2012: Als sie in der Früh die Augen aufschlug, hatte sie das Gefühl, aus allen Sternen zu fallen.

14.5.2012: Die Gemälde, die bei ihm hingen, wurden mit den Jahren immer dunkler und verfinsterten sich; die Gemälde, die bei ihr hingen, wurden mit den Jahren immer heller und verblaßten.

13.5.2012: Wenn sie die Welt nicht mehr ertrug, ging sie auf den alten Judenfriedhof von Worms. Zwischen den zerfallenden Grabsteinen stehend, lebte sie wieder auf.

12.5.2012: Es hängt doch viel am Licht. Wenn plötzlich die Sonne herauskommt, zwischen den Wolken, dann belebt sie die Welt, hellt sich das Gemüt auf, fängt die Seele an zu singen. Gesang ist getöntes Sonnenlicht.

11.5.2012: Säßen in der S-Bahn nur Pinguine, wäre die Fahrt unvergleichlich entspannend.

10.5.2012: Steh morgens auf und hau eine Skulptur aus dem Fels des Tages.

9.5.2012: Natalia Lisboa: „Die goldenen Lichthaare des Tags, nach dem Regen frisch gewaschen und voll Duft, wehen ins Zimmer und kitzeln dich wach.“

8.5.2012: Ein Maler, im Traum in einem anderen Stil malend, als tagsüber, kommt damit nicht zu Rande, malt plötzlich auch tagsüber wie im Traum. Doch pinselt er nun im Traum wie zuvor am Tag.

7.5.2012: Menschlich gerecht sein ist das allerschwierigste.

6.5.2012: Du erwachst am Morgen, im Frühlicht, und weißt, heute ist wieder Wandertag, ein Wandertag der unbegreiflich dunklen Wanderung des Lebens.

5.5.2012: Der Tag liegt wie unter einer Plane, du flüchtest, gehst in die Gärten der Gemälde, wo blaue Lüfte von den Leinwänden sausen und zitronengelbe Früchte den Glanz der Sonne in deine Augen lenken.

4.5.2012: Du gehst in die Wolkenbibliothek und liest am liebsten in den Magazinen der Sonne.

3.5.2012: Auf die Frage nach seinem Vorbild, antwortete das Kind, es möchte sein wie die leichte, erleichternde Musik des Frühlings.

2.5.2012: Wind kam auf im Tag und trug den Zaun hinweg, die Befangenheit, in die sein Denken geraten war.

1.5.2012: Er liebte Eulen so sehr, daß er überall in seiner Wohnung Bilder von Eulen hängen hatte, und wenn er in den Spiegel sah, lächelte da ein Eulenspiegel.

30.4.2012: Lena Lisboa: „Im wasserblauen Himmel schwirren die ersten Schwalben, erschrecken deine Sehnsucht nach Sommer, lebendiger, schmerzlicher denn je, befreiender denn je, und alles, was du bist und tust, versinkt in dir, in zeitloser Gegenwart, in der Tiefe eines Traums in dir.“

29.4.2012: Vor Sonnenuntergang, nach Sonnenuntergang, es ist dasselbe, immerzu ertönt der Schrei nach dem Grundstein des Glücks.

28.4.2012: Sie hält die Augen geschlossen, unter ihren Lidern pochen die Jahrtausende der Liebe.

27.4.2012: Der Halbschlaf, eine Kammer aus Licht und Dunkel, in der die Träume gerührt, nicht geschüttelt werden.

26.4.2012: Auch in dem, was du nicht tust und täglich aufschiebst, liegt eine Wiederholung. Du wiederholst jeden Tag das Nichtgetane, verfeinerst es immerzu.

25.4.2012: Im Gewoge der Lichtwellen tanzt du, um nicht unterzugehen.

24.4.2012: Tag für Tag Sonnentanz, Spiel aus Lust und Laune. Erblüht der Frühlingsglanz, finden sich die Töne.

23.4.2012: Alleen, Flüsse mit hölzernen Ufersäulen.

22.4.2012: Für viele Menschen eine wohltuende, heimatstiftende Lektüre: die Lektüre des Supermarktprospekts.

21.4.2012: Sie erfüllte sich einen alten Lebenstraum. Sie buchte eine Reise nach Beirut, um Richard Wagner zu hören.

20.4.2012: Der langgestreckte Ruf des agilen Falkens, der hoch über dem Turm in schnellen Kurven im böigen Wind segelt und auf ein tief unten im Hof spielendes Kätzchen hinablinst, wühlt in dir die Sehnsucht wach, die Koffer zu packen und nach Utopia auszuwandern.

19.4.2012: Ich traf einen Tagwächter, der darauf achtgab, daß niemand dem Tag zu nahe kam.

18.4.2012: Als sie dann noch hörte, der junge Mann studiere auf der Weinbauschule, setzte das ihrem Verliebtsein den Efeukranz auf.

17.4.2012: Hände sprechen mit lautloser Stimme, ein Wort gibt das andere.

16.4.2012: Am westlichen Ufer der Pfaueninsel an einem heiteren Werktagmittag im März hörst und siehst du die wiedererwachende Natur. Warmer Wind massiert den vom Winter gebeutelten Leib. Krokusse blühen auf der Wiese am Fuß des Schlosses und zucken in dem über die Böschung wirbelnden Wind. Die ausgedehnte Havel zieht im flachen Tal; ihr bis an den Horizont golden getäfeltes Wasser bannt den Blick. Es ist, als träumtest du mit offenem Visier. Pfaue spazieren zwischen den noch blattlosen Platanen, jagen einander, rennen in engen Kreisen hintereinander her. Einer krakeelt seinen Schmerz über das Leben in empörten Tönen aus vollem Hals hinaus. Im Gras schläft eine Frau unberührt von den schimmernden Pfauenaugen, den sie unaufhörlich umwellenden, umrauschenden, von den markerschütternden Schreien unerreicht.

15.4.2012: Die Blüten morgendlicher Gedanken sind täglicher Frühling.

14.4.2012: Eine Oper für Gehörlose. Die Königin der Nacht singt ihre Höllenarie in Gebärdensprache.

13.4.2012: Sie ruhte sich jeden Tag in ihren in sich ruhenden Bewegungen aus.

12.4.2012: Irgendwann begreift jeder, daß er im Leben auf dem falschen Dampfer ist.

11.4.2012: Sonnengläser, die Sommerschlappen der Augen.

10.4.2012: Im Frühling kommt wieder Farbe ins Gesicht des Jahres.

9.4.2012: Es fliehen die Pferde durchs Dorf und bewegen mit gestreckten Hälsen den Glanz des Frühlings.

8.4.2012: Führe das Leben so, als besuchtest du eine Universität, die ansprechendste weit und breit, als vertieftest du dich von früh bis spät in die nicht erschöpflichen Fächer der Lichtzeichen, als wärst du Lehrender und Lernender, dein vertrauter Kommilitone. An ihr eingeschrieben, jauchzest du: Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein.

7.4.2012: Sobald du eine alltägliche Arbeit sorgfältig über die Bühne bringst, erhält sie einen glatten Anstrich.

6.4.2012: Träume schlummern wie Steine im Bach. Kinder nehmen sie, lassen sie über die Wellen springen.

5.4.2012: Jede Kneipe ein Gemeindesaal der Trostbedürftigen.

4.4.2012: Sei ein Arbeiter im Weinberg der Republik.

3.4.2012: Der einzig sinnvolle Sinn der Geschichte wäre: Erleichterung. Carl Apfelschnitz sagt: „Take it easy!“

2.4.2012: Das Kind schlüpfte mit träumenden Augen aus dem Ei der Nacht. Seine Augen hatten noch die Farben seiner Träume. Sein Berufswunsch war Traumtänzer.

1.4.2012: Sie wurde jedes Jahr von ihren Lieben in den April geschickt, ja, sie ließ sich, auch wenn sie jedes Mal erneut überrascht war, insgeheim bereitwillig in ihn schicken, als würde sie aufs Land geschickt, wo die Linien des Horizonts ihr Zuhause waren und die Blüten der Bäume auf ihren unruhigen Augen träumerisch glänzten.

31.3.2012: In einem Notizbuch mit dem Titel Gesammelte Schlafwerke verzeichnete sie ihre Träume.

30.3.2012: Seit er den Tag um zwölf Uhr mittags beginnen ließ, entspannte sich sein Leben. Er erhob sich ausgeschlafen aus verträumten Federn und ging nie mehr verschlafen zur Arbeit.

29.3.2012: Landkrank, stach er wieder in See und gesundete.

28.3.2012: Heute ist nichts unorigineller als die Originalität.

27.3.2012: Der Frühlingswind, uralt und ewigjung, putzt sich heraus, spaziert auf allen Wegen und klopft an deine Brust.

26.3.2012: Ihre blauen Augen, ein Lichtblick im Grau des Tages.

25.3.2012: Der Morgenstern leuchtet dir vor, auch bei Nebel, Wolken, Regen, Nacht und Sturm.

24.3.2012: Auf der tänzelnden Schaumkrone eines Traums wirst du an den unbeschriebenen Strand eines Tages getragen. Der Strand, das anschmiegsame Bett, das du als deine Heimat kennst. Im Bett am Rande der Nacht fühlst du dich zuhause.

23.3.2012: Dringender denn je ertönt von überallher der Ruf: Vernünftige aller Länder, vereinigt euch!

22.3.2012: Wieder ein Tag an der Biegung des Flusses, wieder ein Spiel am Rande des Wegs, wieder träumen sich die Menschen das Blaue vom Himmel herunter.

21.3.2012: Mit dem ersten kehligen Gesang der Vögel fällt der Schleier der Nacht, und es erscheint ein Bild, nebelhaft erst, dann blendend und sich immerzu wandelnd, das dir am Tag ein Vorbild ist

20.3.2012: Die Journalistin fuhr an den See, wo die Wellen alleine mit sich selber reden, und horchte auf das Gespräch über uralte Zeiten. Zwischen den Zeilen sprang ein Fisch.

19.3.2012: Auf dem Lebensrummelplatz erwarb sie ein Los; das Ruhelos, das sie ruhig werden ließ.

18.3.2012: Sie war von Natur aus in sich ruhend und hatte ein großes Schlaftalent. Abends in der zehnten Stunde legte sie sich ins Bett und knipste die Nachttischlampe aus. Sie las nicht und hörte auch kein Radio, von Fernsehen zu schweigen. Vielmehr dachte sie über den Tag nach, über sich, die Begegnungen und Gespräche, darüber, was sie alles getan und nicht getan, sowie ganz allgemein über den Lauf der Welt. Während sie so in Erinnerungen durch den Tag schwofte, wurde sie unversehens müde und schlief ein.

17.3.2012: Das Frühjahr läßt Gras über den Winter wachsen.

16.3.2012: Er sagt, er sei hier verwurzelt. Doch was sind Wurzeln anderes als pflanzliche Ketten, die einen am Davonlaufen hindern?

15.3.2012: Die Burg aus Träumen zerfällt jeden Morgen, zwischen rauchenden Trümmern trägst du die Katze aufs Feld.

14.3.2012: Wer zu leben weiß, für den besitzt jeder Tag ein Geheimnis, dessen Schönheit ihn bestärkt und das zu lüften er sich hütet.

13.3.2012: Liebe, gemeinsam Zeit haben.

12.3.2012: Heimlichste Zeit des Tages? Wenn du dich auf der Brücke wiederfindest, hingeworfen, fallengelassen, der brüchigen des Aufwachens, Die-Augen-Öffnens; unter ihr fältelt sich der Fluß der schlingenden Zeit, er wellt zwischen den Stadtvierteln entlang, dem Schlaf, dem Wachen, die er untergründig, über Kanäle mit Wasser versorgt, und zieht strudelnd hinab zum Meer, aus dem er ursprünglich geschöpft, entsprungen ist und in das er endlich wieder zurückkehrt.

11.3.2012: Als sie aufwachte, war es, als finge sie an zu musizieren.

10.3.2012: Menschen sind verschlüsselte Wesen, die einander entschlüsseln.

9.3.2012: Die einander noch fremden Menschen, der junge Mann und die junge Frau, saßen im Zimmer und schwiegen und sahen sich an. Das einzige, was sie hörten, war ein Knistern, ein brennendes Etwas. Im Fenster ging der Mond auf.

8.3.2012: Man sollte nur lächelnd vor den Spiegel treten.

7.3.2012: Wenn du morgens aufwachst, hebst du die Augen zum Himmel und siehst deine Träume verschwinden.

6.3.2012: Was heimst du mit deinem Tun bloß ein? – Die Heimatlosigkeit, natürlich, sie ist die einzige Heimat, in der ich mich zuhause fühle.

5.3.2012: Morgens das Haus der Träume verlassen, die Türe still hinter sich zuziehen, und auf Arbeit gehen, an den Schreibtisch in der Sonne.

4.3.2012: Die Rosenlaube, der bezauberndste Ort vielleicht der Liebe, hat dornig-blühende Grenzen.

3.3.2012: Das Fußbad ist, nach langer Wanderung, die Schuhe ausgezogen, ein Bad der Seele.

2.3.2012: Jeden Morgen trittst du in den Türrahmen und gibst ein Bild ab, und die Wohnung wird zum anziehendsten Museum der Welt.

1.3.2012: Wenn die Ladentüren aufgehen, öffnet die Stadt ihre Augen.

29.2.2012: Tagesanbruch, Steinbruch der Träume.

28.2.2012: Das Sonnengestöber, das am Tag aus wolkenlosem Himmel fällt, und die geschlossene Lichtdecke aus Myriaden von Kristallen, über die du gleitest, bis am Abend die Schatten lang werden und sich vereinen und du in ihren Träumen versinkst.

27.2.2012: Über die schmelznassen Wiesen grast das flüchtige Gleißen des Frühling – es blitzt und blinkt bis zur Peripherie.

26.2.2012: Schließe mich in den Kreis der Ausgeschlossenen ein, nur in ihm fühle ich mich zuhause.

25.2.2012: Ihre Augen öffnen sich am Morgen wie eine beseelte Blüte.

24.2.2012: Jeden Morgen schlägt sie die Partitur ihrer Träume auf, dirigiert sie das brausende Orchester der Buchstaben.

23.2.2012: Der Schlaf ein Pferdewechsel, jeden Morgen schwingst du dich auf ein neues Pferd und galoppierst erwartungsfroh dem Sonnenaufgang entgegen.

22.2.2012: Aus dem Travel Book von Lea Odesa: „Am Morgen erwacht er in seinem Bett, als wäre er aus einem Güterzug voller Träume gefallen. Unter Ächzen und Stöhnen stützt er sich auf, verläßt das Kiesbett, geht zu Fuß neben dem Gleis weiter. Kommt das wache Leben diesem Fußweg gleich? Das Lebensziel ist das Ziel des Zuges, der Güterbahnhof der Menschen, der Friedhof.“

21.2.2012: In der Anhörung leben: jeden Morgen im Vogeltschilpen erwachen und von ihm den Tag über beflügelt sein.

20.2.2012: Rosenwege, gegangen-feine am Saum der Berge.

19.2.2012: Heiterkeit, Gespinst aus Nähe und Zartheit.

18.2.2012: Die Sonne schwimmt auf dem Spiegel zwischen Wolkenbergen; himmelblau scheint das schaumbekrönte Meer.

17.2.2012: Fliehe in die Tagesräume, die, von Sonnenland umgrenzt, hoch gewachsen sind wie Bäume, und erwarte wach den trunkenen Lenz.

16.2.2012: Bäume sind, weil sie nicht betrügen, ein Dorn im Auge von Betrügern.

15.2.2012: Der Mensch, der sich auf nichts einen Reim machen konnte, reimte in seinen Träumen auf alles und jeden.

14.2.2012: Sich im pudernden Widerschein der Wolken wiederfinden.

13.2.2012: Das Tagebuch ein Wetterbericht, zeichnet deine Hochs und Tiefs auf.

12.2.2012: Sie entspannte sich bei einem spannenden Film.

11.2.2012: Die Schnupftabakdosenfabrikanten haben schon bessere Zeiten gesehen.

10.2.2012: Sie legte sich abends ins Bett als wäre es das Himmelreich.

9.2.2012: Lena L.: „Schüre mit guten Worten das Feuer und wärme dich an ihm.“

8.2.2012: Verstreiche wie die Zeit; sei eine Katze, die durch Gärten streicht.

7.2.2012: Die Tage uhrlos und zeitlos leben.

6.2.2012: Philosophie ist der Reim, den du dir auf das Leben machst.

5.2.2012: Menschen, diese nachahmenden Tiere, ahmen allzu leicht die Fehler der anderen nach und allzu selten deren Vorzüge.

4.2.2012: Lea Odesa: „Die Neigung, die Liebe, das Licht deiner Nähe, alles trinkt dich, und aus der Ferne kommt die Sonne, der Gedanke eines Tages, der allein denkens- und dankenswert ist.“

3.2.2012: Am Morgen, wenn du die Augen öffnest und der Lippenstift der Sonne auf dem Laken glänzt, weißt du, wofür es sich zu leben lohnt.

2.2.2012: Wir wollen die Liebe wieder entzünden in jedem verwaisten traurigen Geist.

1.2.2012: Willst du Geisterbahn fahren, dann nimm die U-Bahn.

31.1.2012: Wie mißt du das Gewicht von Gedanken? – Daran, ob sie dich beflügeln oder herunterziehen.

30.1.2012: Carl Apfelschnitz: „Die sterblichen Überreste im Sinne von Gebeine – das müßte doch die unsterblichen Überreste heißen – die sterblichen Teile haben sich ja in Nichts aufgelöst?“

29.1.2012: Es war kalt am Meer. Ihre Tränen verwandelten sich in Schneeflocken und trieben davon.

28.1.2012: Sie schrieb mit ihrem Lippenstift die innigsten Gedichte.

27.1.2012: Die Rolltreppen sind seine Musen, jedesmal, wenn er auf einer fährt, schreibt er einen Vers.

26.1.2012: Nach einem langen Gang in der Mark Brandenburg ist auch das in der Jackentasche mitgeführte Tagebuch tiefgefroren, sind Vorder- und Rückseite eisig kalt. Die Eintragungen im Buch heizen ein.

25.1.2012: Architektur ist Erotik im Raum.

24.1.2012: Das Bett mit seinen vier Bettpfosten ist ein ruhigstehendes Pferd, auf dem du schläfst und träumst.

23.1.2012: Ratlosigkeit bringt Dinge in Bewegung.

22.1.2012: Carl Apfelschnitz: „Das Ziel muß lauten: nicht nur schön sein, sondern wunderschön.“

21.1.2012: Er verfeinerte die Dinge, indem er über sie schwieg.

20.1.2012: In den Zeilen / leuchten Zeiten wieder auf.

19.1.2012: Carl Apfelschnitz: „Tausendmal habe ich mit der Bahn hier gehalten, ohne daß mir der Name je aufgefallen wäre: Hildesheim. Das Heim von Hilde. Wie mögen Hilde und ihr Heim aussehen? Steig aus und nimm beide in Augenschein.“

18.1.2012: Carl Apfelschnitz: „Dieses Buch, ist es ein Vogelbauer? und die Sätzchen darin Spätzchen der Phantasie?“

17.1.2012: Sie hatte eine romantische Seele und ließ einen Ofen einbauen, um ihre Liebesbriefe darin zu verbrennen.

16.1.2012: Die Freunde trafen sich immer freitags zum gemeinsamen Abendessen. Einmal schlug Lisa vor, daß heute ein jeder den Mund nur aufmachen solle, wenn er etwas gescheites zu sagen habe. Jeder blieb stumm, und bald schlichen die Freunde hungrig nachhause.

15.1.2012: Die beiden Freundinnen flochten ihre langen Haare ineinander, so daß der entstehende Zopf sie untrennbar verband. So wandelten sie durch die Straßen – siamesische Zwillinge.

14.1.2012: Nachts im Zug, wenn du rückwärts fährst, hast du oft das Gefühl, vorwärts zu fahren. So ist es mit dem Leben auch.

13.1.2012: Sie klingelte bei ihm, und als er sie hereinließ, schwieg sie. Sie wies auf ihre Lippen, er begriff, sie waren versiegelt. Auch verstand er anhand ihres Gebarens, daß sie selbst ein Brief sei, den sie persönlich zustelle. Um den Brief zu lesen, mußte er die Lippen erst entsiegeln. Das tat er mit aller Vorsicht. In dem Brief stand viel schönes, er hatte die ganze Nacht zu lesen.

12.1.2012: Jeder Tag, den du lebst, ist ein zeitliches Plus, was deine Lebensdauer betrifft, und ein zeitliches Minus, was die verbleibende Frist bis zu deinem Tod betrifft.

11.1.2012: Demokratie ist die Staatsform, in der Bürger nicht ausschlafen dürfen. Immer wieder müssen sie früh aus den Federn und die unverantwortlichen Verantwortlichen in ihre Schranken weisen. Bemerkbar macht sich in den Funktionseliten eine unselige Tendenz auf Bürgerausschaltung. Wenn du vor deiner Amtszeit eine Politik des Gehörtwerdens propagierst, wird diese, wenn du im Amt bist, zur zynischen Formel. Eine fatale Schwerhörigkeit entfaltet sich an Stelle des Versprechens, zu hören und zuzuhören.

10.1.2012: Sie erwachte und sah, daß es schneite. Es schneite in ihrem Zimmer, es schneite Zeit.

9.1.2012: Was bewegt dich? – Die Sehnsucht setzt mich jeden Morgen auf das Pferd.

8.1.2012: Mit dem Schlag ihrer Wimpern fächerte sie Staubwölkchen auf.

7.1.2012: Der Tag hat Ausstrahlung.

6.1.2012: Die wohl unfeinste Form der Knickerigkeit: anderen kein Lächeln zu schenken. Mutmaßlich hat das Lächeln in der Geschichte der Menschheit mehr für den Frieden getan als jede sonstige Geste oder jedes Wort. Das Lächeln wäre überhaupt der nobelste Friedenspreisträger weit und breit.

5.1.2012: Im neuen Café am Solarbahnhof, auch Solarcafé genannt, vorm Südflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs, wärmen sich die Besucher am Feuer, das in einer glühenden Öltonne Tag und Nacht lodert. Zwei Polizisten passen auf, daß nichts passiert. Im nahen Schloßgarten schützen hunderte menschengroße Laubpuppen die Bäume, von kopfüber gehängten Christtännchen beschirmt. Erhitzte Diskussionen machen die Runde. Zwei zwanzigjährige Frauen klettern angeseilt auf eine zweihundert Jahre alte Platane, in welche ein Wohnkubus hineingebaut ist. Der Gasmaskenmann in seinem weißen Overall sitzt am Wegrand auf einem Gartenstuhl und bescheidet die Fragen der Passanten mit bestechenden Antworten. Unweit der Parkwache läuft eine Ausstellung über den bildlich imaginierten Solarbahnhof. In den Zelten findet eine Lukrez-Lesung statt. Ländlich-städtische Szenen Anfang Januar 2012, Szenen, die freie Bürger machen.

4.1.2012: Strebe wie die Kinder und die Bienen lustig summend blütenwärts im Garten, unerachtet winterlicher Zeit, denn Blüten treiben immerzu, wo eine zarte Seele sich bewegt entfaltet.

3.1.2012: Kennst du dich? – Nur vom Hörensagen. – So gehts mir auch.

2.1.2012: Erklär dir die Tage, das meint: mach sie dir klar; verklär sie zugleich, das heißt: beschreib sie so, daß sie dich erfreuen.

1.1.2012: Die Dämmerung eines Jahres leuchtet im Morgenrot eines Versprechens. Man kann das Rot nicht knipsen, aber es kann dich bewegen und auf die Reise schicken.

31.12.2011: Der Garten im Traum hat auch im Winter Saison.

30.12.2011: Beide schwiegen beredt, und als sie wieder auseinandergingen, hatten sie alles gesagt.

29.12.2011: Geh wenigstens einmal am Tag aus der Deckung – wag dich vor.

28.12.2011: Lebenskunst: eine Regel aufstellen und die Ausnahme von ihr genießen – gerade auch dann, wenn die Ausnahme zur Regel werden sollte.

27.12.2011: Jeder Mensch ist ein Provisorium – und bleibt es bis zum Ende.

26.12.2011: Nicht blind vertrauen, sondern sehen und vertrauen.

25.12.2011: Als das Paar abends wieder zusammentraf, unter der Brücke am Fluß, erzählte es sich vom Tag. Den Tag lang streiften sie getrennt durch die Stadt, und nur ihre Spleens, ihre Launen und die Zufälle des Universums leiteten ihre Schritte. „Was hast du gesehen, gehört, geschmeckt, gefühlt, welche Düfte kitzelten dein zartes Näschen? Gib mir die Übersetzung deines Tags.“ Und sie trug ihre Übersetzung vor, eine höchst eigenwillige eines einmaligen Streifzugs. Anschließend übersetzte er, und sie verglichen ihre Übersetzungen. Indem sie so jeden Abend übersetzten, gelangten sie ans andere Ufer.

24.12.2011: Wenn andere dir nicht widersprechen, widersprich dir selbst. Einer muß es tun. Oder glaubst du, du wärst ein Mensch, der den Widerspruch nicht verdient hätte? Dann kenntest du dich schlecht. Jeder trägt den Widerspruch in sich, von Geburt an. Der Mensch ist nicht allein das sprechende, er ist vor allem das sich widersprechende Tier. Wenn es noch ein Heiligtum gibt, dann ist der Widerspruch das Heiligtum des Menschen. Der Widerspruch ist seine sterbliche Seele.

23.12.2011: Am traumreichsten schläfst du nach dem Schwimmen in der Sonne.

22.12.2011: Carl Apfelschnitz: „Die sogenannten Verstandesmenschen rauben mir den letzten Verstand.“

21.12.2011: Die Bienenflügel, aus Sonnenfäden genäht, im Land der Spleens, der Ideale, der Phantasien; die leichten Flügel, die fehlen, die du vermißt und die in den flaumigen Büschen der Wolken versunken liegen.

20.12.2011: Stell das Bett so, daß jeden Morgen das Spektakel des Sonnenaufgangs deine schlafende Neugier weckt.

19.12.2011: Lena Lisboa: „Wäre das nicht wünschenswert, ein geschmeidiger Mensch zu sein – geschmeidig zu denken und mit dem Geist zu tanzen?“

18.12.2011: Es gibt den Jogginghosensonntagsstaat.

17.12.2011: Wenn du einen Menschen beleidigen willst, so laß die Tiere aus dem Spiel. Du Hund! Du Schwein! Du Affe! Du Gans! Du Kuh! Du Ziege! Kein Tier hat es verdient, mit einem Menschen verglichen zu werden.

16.12.2011: Über Nacht legte sie eine Folie in den Garten, um Sternentau aufzufangen. Morgens ging sie hinaus und wusch sich mit ihm die Augen.

15.12.2011: In der Annahme, daß im eigenen Denken, in den Gewohnheiten und Handlungen etliche unbemerkte Irrtümer verborgen sind, wäre es nur recht und billig, jeden Tag wenigstens einen von ihnen zu entdecken.

14.12.2011: Literatur, das Haus, in dem unberechenbar viele Menschen wohnen können.

13.12.2011: Sorgen, Zweifel und Mutlosigkeit sind so unerbetene wie unruhige Gäste, die sich allzugern in den Herbergen des Geistes einquartieren. Man sollte ihnen gleich nach der ersten Nacht, noch vor dem Frühstück, ein Taxi rufen und sie ohne Federlesens hinauskomplimentieren.

12.12.2011: Die Tage flattern so schnell vorüber, du mußt aufpassen und zeitig zu Werke gehen, sonst ist der nächste schon im Anflug.

11.12.2011: Darauf, wie du träumst, hast du keinen Einfluß, aber darauf, wie du denkst und sprichst.

10.12.2011: Vermutlich schreiben in diesen Jahren immer weniger Menschen von Hand, kritzeln immer weniger wenigstens einmal am Tag irgendetwas auf einen Fetzen Papier und haben so eine intime Begegnung mit sich selbst. Denn die Handschrift ist nicht nur wie der Daumenabdruck Ausdruck einer Einmaligkeit, sondern, und wichtiger, Ausdruck einer Persönlichkeit, oder wenn man will der private Fluß, der in der Landschaft aus Papieren mäandert. In der Handschrift entschleiert sich jeder, sie ist die zu Papier fließende Pause innerer Stimmungen und Schwankungen.

9.12.2011: Der angenehme Glanz ist der des Himmels; sich in ihm zu sonnen, tut der Seele gut.

8.12.2011: Um in Gesellschaft ein gutes Bild abzugeben, braucht es den passenden Rahmen.

7.12.2011: Statt einer Mittagspause machte er eine morgendliche Pause. Die dauerte oft den ganzen Tag

6.12.2011: Nachmittags machte der Soziologe sich in die berührte Wildnis auf – er ging unter die Leute.

5.12.2011: Was stehst du in der Weltgeschichte herum? – Laß mich doch. Ich steh gerne in der Weltgeschichte herum.

4.12.2011: Sie schrieb ihre Gedichte immer nur auf das Schulterblatt ihres Freundes.

3.12.2011: Jeden Morgen das gleiche Spektakel, du irrst durch das uralte Schloß der Träume, und plötzlich tauchst du unter und tauchst in einer ganz jungen Wohnung wieder auf.

2.12.2011: Jeden Morgen, vor dem Losschwimmen, erst einmal den Sorgen- und Gedankenschutt abladen.

1.12.2011: Er bewegte sich im Wald wie eine Ameise im Gras.

30.11.2011: Ideal. Eine Rose sein, ansehnlich, mit weichen Blüten, und stachelig.

29.11.2011: Sie wohnte unweit eines felsigen Tals, in dem, wie sie sagte, ein Echo zuhause war. Jeden Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, ging sie dorthin und rief nach ihm. Auf ihren Ruf antwortete es, sie freute sich und fühlte sich auf belebende Weise gestimmt, als wäre sie ein Instrument.

28.11.2011: Karla Ammerstein: „Die Dummheit der Vielen hat auch etwas erhabenes – sie lassen sich von sachlichen Argumenten nicht beeindrucken, nicht irritieren. Die Erhabenheit dieser Dummheit ist allerdings nichts schönes, nichts anziehendes, nichts, worauf man stolz sein könnte. Schönheit im politischen Raum entsteht, wenn die beteiligten Raumgestalter offen und ehrlich, nüchtern und sachbezogen reden und handeln; alles andere ist Kokolores und Schmu, würdelose und lächerliche Schauspielerei.“

27.11.2011: Ihr bevorzugter Radiosender war die Stille Welle. Jeden Morgen, nach dem Aufwachen, knipste sie das Radio an, das auf ihrem Nachtschränkchen stand, und lauschte der Sinfonie der Stille.

26.11.2011: Karla Ammerstein: „Sich plagen, wozu? Die Zeit der Plagen ist vorbei.“

25.11.2011: Kaffee am Morgen, der Lift zum Spielplatz des Lebens.

24.11.2011: Ein ungeschriebenes Gesetz besagt, der Mensch sei das Tier, das Gesetze beschließt, um sie zu verletzen.

23.11.2011: Wieder, aus der Finsternis, wird ein Tag entbunden; er ist plötzlich da. Der Tag, die Offenbarung der Räumlichkeit, in der du dich promenierend bewegst, in der die Lebenden miteinander spielen. Die Nacht dagegen erscheint als Inbegriff von Raum-, von Zeitlosigkeit, die du lediglich schlafend sinnvoll überbrückst.

22.11.11: Den Künstler fesselte das Nebensächliche, die Hauptsachen interessierten ihn nicht; die Nebensachen waren seine Hauptsachen. „Hauptsache nebensächlich“ war auch der Titel seiner ersten Einzelausstellung. Als jedoch bei der Vernissage ein Kritiker etwas nebensächliches über seine Kunstwerke sagte, reagierte er pikiert.

21.11.2011: Liebe ist wie das Feuer zu unterhalten.

20.11.2011: Am Morgen ist ihr Geist voller Blüten. Und wenn es tagsüber licht ist, die Sonne scheint und auch ein Regen niedergeht, kann sie am Abend die Früchte pflücken und mit ihren Liebsten teilen.

19.11.2011: Mühselig sein, selig vor Glück, das die Mühe bereitet.

18.11.2011: Ihre Träume ermüdeten sie sehr, so daß sie nach dem Erwachen erschöpft und stumpf in ihrem Bett lag und bald in einen tiefen Schlaf fiel.

17.11.2011: Was tust du heute? – Ich will das Nichts umsorgen, es auf Händen tragen, wie jeden Tag. Und wie jeden Tag wird es nicht glücken, nicht glattgehen, denn irgend etwas kommt dazwischen, früher oder später. – Wem erzählst du das, so ist das Leben. – Ja, so ist es. – Auf das Dazwischenkommende! – Hoch soll es leben!

16.11.2011: Das Schweigen vor dem Einschlafen, das Schweigen nach dem Aufwachen, das Boot, mit dem du übersetzt, ans Ufer der Nacht, ans Ufer des Tags.

15.11.2011: Alles, was der Mensch berührt, wird festlich werden und er selbst gesunden.

14.11.2011: Man möchte jeden Morgen den Zugang zum Tag finden, doch eh du dich versiehst, wird es wieder dunkel, und du irrst noch immer vor der Wand mit der rieselnden Zeit auf und ab und suchst die geheime Tür.

13.11.2011: Das Rauschen der See ein Wiegenlied. Das Rauschen des nächtlichen Regens Schlafmusik. Das Rauschen der Träume Fanfaren des Morgens.

12.11.2011: Geh still wie die untergehende Sonne nach Hause und fließ wie der Landfluß in die Nacht.

11.11.11: Baden gehn, jeden Tag, in der Bibliothek der Wellen.

10.11.2011: Träume, Märchen der Seele.

9.11.2011: Mit dem Geist gegenwärtig sein, ganz Gegenwart, und nicht im Halbirren, Halbschlafenen vorübertaumeln.

8.11.2011: Es kommt auch darauf an, sich selbst vor sich selbst sehen lassen zu können.

7.11.2011: Die Arbeit kuriert die meisten ihrer Grillen.

6.11.2011: Frau November, still, zart, überlegt, zieht sich aus, wirft ihr Blätterkleid von sich und legt sich in die Sonne.

5.11.2011: Lug und Trug pflastern den Weg. Illusionen weisen die Richtung. Der Abgrund ist das Ziel.

4.11.2011: Natalia Lisboa: „Deine Ruhe, die aus der Unruhe des Universums geboren ist und sich in dem Abendrot auf deinen Wangen zeigt. Das Morgenrot der Liebe ist dir das liebste.“

3.11.2011: Jedes Gedicht ist Teil der Sammlung „Die Freude zu leben“, geschrieben mit melancholischer Tinte.

2.11.2011: Natalia Lisboa: „Mitten am hellichten Tag gehst du durch die Stadt und wachst auf, bleibst stehen, als könnest du nicht im Wachen weitergehen, nicht im Gehen staunen.“

1.11.11: Natalia Lisboa: „Die Trauer fiel auf ihr Gesicht wie der Lichtschatten eines landenden Vogels.“

31.10.2011: Die bunten Laubwälder leuchten wie fair gehandelte Bioklamotten.

30.10.2011: Je älter man wird, desto mehr muß man in seine Zukunft vertrauen.

29.10.2011: Idealisten, Hebammen einer besseren Welt.

28.10.2011: Der Tag hat kein Gesicht; es ist wohl deine Aufgabe, ihm ein Gesicht zu geben, ein Gesicht voll Liebe und Freiheit.

27.10.2011: Dichter, Jongleure mit Worten, zählen zu den Straßenkünstlern. Manche treten in großen Zirkussen auf.

26.10.2011: Man weiß es nicht, ist sie so müde oder ist sie so weise? Jedenfalls ruht sie in sich.

25.10.2011: Aus dem Travel Book von Lea O. „Aus dem Schlafhaus sanft vertrieben, trat ich in die Kaffeehalle; nach einer Zeit verließ ich sie und kam auf den Platz, gesellte mich zu den Genossen. So verging der Tag in Gesprächen. Bei Sonnenuntergang badeten wir im Meer. Es ist jeden Tag dasselbe, es könnte ewig so weitergehen.“

24.10.2011: Unsere Großväter moserten gerne über das „Klump“, das auf den Böden und in den Scheunen und Schuppen über die Jahre hin sich ansammelte. Die Heutigen kaufen das wirkliche Klump als billige Massenware und bezahlen teuer dafür. Dieses Klump, neuwertiger Giftabfall, geht bald zu Bruch und landet auf den Müllhalden Afrikas. Das ist ein Bild einer Epoche des oft nicht verdienten Profits, der geistigen Nullen und des mitgefühlfreien Brutalismus.

23.10.2011: Lena L. weiß: sich ein Butterbrot schmieren, macht gute Laune.

22.10.2011: Man kann einen Tag nicht wie einen Satz korrigieren, sondern muß ihn gleich richtig leben.

21.10.2011: Carl Apfelschnitz: „Sei in allem, was du tust, unangestrengt, und seis noch so anstrengend.“

20.10.2011: Wenn ein Frauenzimmer und ein Männerzimmer zusammenkommen, entsteht ein Kinderzimmer.

19.10.2011: Du bist Zeit, und die Zeit ruht nie, läuft dir davon, macht dir Beine; nur abends, nachts, kommt sie zu sich, ruht sie aus, schläft sie ein, wirst du zeitlos.

18.10.2011: Die Wellen des Feuerballs umspielen dich, und die himmlischen Sonnenschirme, die ziehenden Wolken, spenden Schatten.

17.10.2011: Wochentage, Verse, die reimlos klingen, die zwischen den Zeilen – im Dunkel der Nacht – dich sanft verschlingen.

16.10.2011: Lena L.: „Der Mensch ist scheints nicht dazu geboren, gerade zu stehen. Man spürt die Triftigkeit der These beim Anblick von würdevollen Hosenträgern, die fürs Gruppenbild sich in Positur bringen und dabei sich kerzengerade hinstellen, oder angesichts strammstehender Soldaten, unbeweglicher Torwächter. Gewöhnlich stellt der Mensch einen Fuß vor, einen zurück, er stemmt die Arme in die seitwärts geschwungenen Hüften, er wippt auf und ab, vor und zurück, er kreuzt die Beine, er vollführt einen Tanz, unentwegt, unbewußt. Der Mensch ist der entbundene Tänzer. Im Tod findet das Tanzen sein logisches Ende. Tot sein ist nichts anderes als die Unfähigkeit, das Tanzbein zu schwingen. Der Tod ist der Tanzmuffel par excellence. Tanzen oder Nichttanzen, das ist die Frage.“

15.10.2011: Natalia Lisboa: „Von den Vorwürfen wegzukommen, ist das schwierigste überhaupt. Führe dein Leben so, daß du nie auch nur den leisesten Vorwurf formulierst. Jeder Vorwurf, den du machst, ist ein Klimakiller.“

14.10.2011: Laß dir einmal am Tag vom ziehenden Fluß die Seele pflügen.

13.10.2011: Erwünschte Arbeit ist beglückende Last.

12.10.2011: Was tönt dir, Nachtkind, tief in der stillen Brust? Ist es die Sehnsucht nach des Tages Wind, des Lebens Lust? Es tönt in jedem Fall ein Lied, das in allen Dingen spielt. Das Lied läßt mein Herz pochen, es rührt sogar, hör ich, die ältesten Knochen; es ist das Lied vom Leben, vom nimmermüden Weben. Hiervon sind wir Kinder sterbliche Künder.

11.10.2011: Wenn sie im Wald spazierenging, hatte sie immer das Gefühl, nur ein Gast zu sein; entsprechend verhielt sie sich.

10.10.2011: Schon hängen die Blätter an der Kirsche schlaff wie schlafende Fledermäuse.

9.10.2011: Natalia Lisboa: „Wohin man auch geht, man kommt zu den Rosen, sonnt sich in ihrem Schein, ihr Liebreiz lockt, ihre Farben, ihr Duft trösten, die Dornen rufen Schmerzen hervor. Das Leben ein dorniger Rosenpfad.“

8.10.2011: Wenn der Tag noch unvollständig ist, am frühen Morgen, ist er doch vollkommen. Denn zur Vollkommenheit gehört das Versprechen der anbrechenden Zeit. Daher weckt jede Vollendung auch eine traurige Stimmung, weil sie nichts mehr versprechen kann.

7.10.2011: Du dirigierst den Chor der inneren Stimmen, und alle singen durcheinander.

6.10.2011: Natalia Lisboa: „7:23 Uhr Sonnenaufgang über der Elbe bei Lutherstadt Wittenberg. Die Sonne spiegelt auf dem geriffelten Strom. Auf der Wiese schläft Nebel. Ein Wolf durchstreift suchend das betaute Feld. Die Weiden stehen still, atmen in Träumen versunken. Die Rehe rücken zusammen; sie tun das ohne Glauben, ohne Hoffnung, sie tun es allein aus Liebe.“

5.10.2011: Schlaf, eigentlich Nichtzeit, Zeit des Zeitschlafs; erst wenn die Sonne, der brennende Uhrzeiger, am Horizont erscheint, läuft die Zeit wieder (und läuft davon).

4.10.2011: Schlaf, Gebirge aus Stille, in dem Träume, Bäche ins Tal fließen. Erwacht der Morgen, versiegen sie nolens volens, verschwindet die Stille; das Tal der Klänge läutet und ruft.

3.10.2011: Der Mensch, das Tier, das im müden Zustand den Kopf abstützt.

2.10.2011: „Versäume nicht das Säumen auf den Äckern der Zeit.“

1.10.2011: Lena Lisboa: „Nimm als Vorbild das leichte Streben eines Vogels in den Wipfeln aus Licht und Blättergrün.“

30.9.2011: Jetzt, in diesen Tagen, muß jeder schauen, wie er sie nicht versäumt oder doch an ihren Säumen entlang das Licht für die Wintermonate in sich aufnimmt. Es sind transzendente Tage. Wie es am Tag eine Abenddämmerung gibt, so im Jahr eine Jahresdämmerung, eine Zwischenzeit, in der die Welt mitsamt den Blättern und den Blüten noch einmal aufleuchtet, bevor sie den ganzen Bettel hinwirft.

29.9.2011: Morgens ins Meditationsbad tauchen und alle fruchtlosen Gedanken vergessen.

28.9.2011: Ein Specht, der in einer Kuckucksuhr schläft und von der Ewigkeit träumt.

27.9.2011: Natalia Lisboa: „Das morgendliche Dösen, Träumen, Lesen im Bett erinnert an jene ferne Zeit, als man noch nicht zur Schule mußte und einen der Ernst des Lebens noch nicht in seinen Klauen hatte. Im Dösen, Träumen, Lesen ergreift dich der begeisternde Unernst des Lebens, gewinnst du eine Ahnung abenteuerlichen Seins. Diesem musischen Bettreich entschlüpfst du nur ungern.“

26.9.2011: „Ich gehe in deinen Augen spazieren, in den heiteren Tagen deines Geistes.“

25.9.2011: Natalia Lisboa: „Jenes Sprudeln von Lichtquellen zwischen Bäumen, der Weg zum Brunnen, aus dem Stille quillt, und Worte, von denen die Lippen schweigen, begleiten dein Sinnen und bringen dich zur Vernunft, solange du lebst.“

24.9.2011: Die dauerhaft einladenden Landstriche des Friedens, der Landstrich der Freundschaft und der Landstrich der Liebe.

23.9.2011: Die Köche des Seins, Sonne, Regen, Erde, Wind, decken den Frühstückstisch.

22.9.2011: Natalia Lisboa: „Die einzig wegsamen Wege sind die unwegsamen.“

21.9.2011: [2000. Eintrag:] Egal, wohin du gehst, geh liebwärts.

20.9.2011: Der Schlaf, das endliche Jenseits.

19.9.2011: So, wie der Vogel seine Schwingen ausbreitet, zückt der Dichter seine Feder.

18.9.2011: Sätze aus buntem Glas kritzeln, ein Fenstermosaik, und ins Haus deines Alltags einbauen.

17.9.2011: Natalia Lisboa: „Diese Tage, ein Fest aus Licht und Gesang, waren zart und nah, und in dem Augenblick, da du gehst, fallen Tropfen der Sehnsucht in den Schoß, hallen in der Weite des leeren Raums.“

16.9.2011: Natalia Lisboa: „Meine Heimat? Meine Heimat ist ein gesunder Schlaf.“

15.9.2011: Zum Nachdenken muß man zu zweit sein.

14.9.2011: Morgens im Bett der Gedanke „Ich lebe“ – und alles verändert sich, du springst in den Tag, schwebend, ein wahrer Luftikus.

13.9.2011: Barfuß gehen und mit den Füßen denken.

12.9.2011: Sie ging ans Meer und mußte lachen. Dann ging sie nachhause. Warum lachte sie? Ist die Unendlichkeit so lächerlich? Wahrscheinlich. Das Endliche ist das Ernste.

11.9.2011: Herzschrittmacher, jemand, der dir ans Herz wächst, dich beflügelt.

10.9.2011: Träume rauschen und tosen seit Urzeiten an die morgendliche Küste, aus den schäumenden Wellen tauchst du, wirst hinausgeworfen an den Strand der Wachen.

9.9.2011: An sich ist die Nacht die Mutter, die kleine und große Kinder stillt. Die stille Nacht, die Nacht, in der Menschen gestillt werden.

8.9.2011: Unter der Zunge verborgen ruhen verschwiegene Sorgen. Öffne die Tenne und schnalze sie hinaus.

7.9.2011: Sie liebte es, von einer Gutenmorgengeschichte geweckt zu werden.

6.9.2011: Natalia Lisboa: „Ich warte auf einen Einfall wie auf einen Bus, von dem ich nicht weiß, ob es ihn gibt und wann er kommen wird. Ich weiß nicht einmal, ob ich mich an einer Bushaltestelle befinde. Und ehe ich mich versehe, bremst ein quietschender Bus neben mir, die Türen springen auf, und ich steige ein.“

5.9.2011: Die sie umspielende Stille war die Stille des schlafenden Meers, unaufhörlich flüsternd und vor Geschichten schwanger.

4.9.2011: Die Wege entfalten sich immer im Auge des Orkans, im Licht einer Idee, im Singsang der Hände und aus der stillen Bereitschaft, zu geben und zu gehen, wann immer möglich.

3.9.2011: Sie war froh, wenn sie nichts zu tun hatte – sie konnte dann in Ruhe über alles nachdenken.

2.9.2011: Sie wollte auch jenseits des Sommers nicht darauf verzichten, im Kiesbett zu schlafen. Sie holte mit der Schubkarre Kies vom Fluß und schüttete ihn ins Schlafzimmer.

1.9.2011: Früher oder später geht alles den Bach runter, das Spiel des Lebens nimmt seinen unspielerischen Lauf.

31.8.2011: Täglich die Urstraße gehen, bis die Urwelt sich auftut und du deine Urfassung gewinnst.

30.8.2011: So sehr der Tag auch strahlt, er ist das Mystische schlechthin.

29.8.2011: Die Anwesenheit der Wolken hat etwas tröstliches. Sie, die Gesellen, deren Schweigen vielsagend ist. Wenn sie wollen, ergreifen sie das Wort, gießen die Landschaft. Die Regenschirmindustrie ist ihnen dankbar.

28.8.2011: Liebe, wünschenswerteste Illusion.

27.8.2011: Als Autofahrerin hatte sie eine Schwäche für Umleitungen. Kaum hörte sie von einer, fuhr sie hin. Auch als Schreiberin bevorzugte sie Umschreibungen. Sie wollte sowieso, weder als Autofahrerin noch als Autorin, je ans Ziel kommen – wozu auch? Und wenn sie doch ein Ziel angeben mußte, dann jenes, keines zu haben. Und indem sie dieses Ziel angab, hatte sie es schon erreicht: ihm ausweichend, gelangte sie direkt ans Ziel.

26.8.2011: Der Geist ein Wanderzirkus, der Zirkusdirektor ein Clown.

25.8.2011: Heute werde ich Täler versetzen.

24.8.2011: Dusche, ziviler Regen.

23.8.2011: An diesen glühenden Tagen im saukalten Waldsee wohnen.

22.8.2011: Ihre Hände, lebhaft wie ein Vogel, unerreichbar für jeden Kater.

21.8.2011: Die einzige Macht, die für sie zählte, die sie verehrte, war die Ohnmacht. Jede andere verachtete sie.

20.8.2011: Schreib einmal an einem Tag nichts. Laß nur Wind und Wellen zwischen den Zeilen wehen und rauschen. Wind und Wellen sagen alles.

19.8.2011: Warum hast du mich nicht angesprochen? – Weil ich mich nicht stören wollte.

18.8.2011: Der Sand am Strand: kein Sanduhrensand, nichts rieselt hinab in den unteren Kolben. Zeit ist hier nicht, fließt nicht, ist von den Wellen verwischt. Verwischt sind die Grenzen des Lebens, des Todes, offen scheint das Niemandsland, durch das du ziehst, in dem du Zug um Zug verschwimmst.

17.8.2011: Jede Nacht verschwindest du im Dunkel. Jeden Tag erscheinst du am Strand des Verlangens. Das Leben ein Wechsel, unerhaschbar wie der Wind und die Wolken, endlos wie das Flimmern der See.

16.8.2011: Der Gesang, aus der Natur tönend, richtet dich auf und wirft spielend dich ans Ufer, wo das Wissen verschwimmt.

15.8.2011: Irgendwann wird das Bett, dieses Matratzenboot, ins Wasser gelassen, taucht sein Passagier in die Ewigen Schlafgründe.

14.8.2011: Lider, Jalousien des persönlichen Schlafzimmers.

13.8.2011: „Wenn du mir nachts einen Strauß Sterne pflückst, duftet der Glanz der Liebe.“

12.8.2011: Menschen bauen Gärten, um aus dem Irrgarten des Alltags zu flüchten.

11.8.11: Welche Wege jeden Tag die Hände gehen, wo sie hinwandern, hinfliegen, wo sie sich ausruhen und einander küssen.

10.8.2011: Wachheit mußt du dir erschlafen.

9.8.2011: Nicht nur abends mit den Gedanken tanzen gehen.

8.8.2011: Der Mensch, Varieté der Illusionen.

7.8.2011: Erhöhter Herzschlag, Trampolin der Liebe.

6.8.2011: Die verheißenen Stunden heben sich aus dem Traum; zwischen Schleiern aus Nebeln tauchen Sonnenblüten, färben den Tag.

5.8.2011: Die Wolken reißen ein Stück weit auf, ein Strahlenkranz erscheint – himmlischer Schmuck.

4.8.2011: Die Wege wogen dir entgegen, und je weiter weg du gehst, desto näher kommst du dir.

3.8.2011: Sie tauchte auf wie das Pronomen für die Liebe schlechthin.

2.8.2011: Naturkosmetik. Sie schminkt sich mit Morgenröte; als Lidschatten dient Himmelblau

1.8.2011: Gedanken, Seifenblasen des geistigen Seifenwassers.

31.7.2011: Sie schlief in einem stockfinsteren Zimmer, in ihren Träumen war es taghell.

30.7.2011: Die in Wellenschaum gekleidete Frau entsteigt dem Meer und läßt ihr Kleid zurück.

29.7.2011: Lesen, in der Allee spazieren und den Herzschlag des Tags fühlen.

28.7.2011: Auf alten Photographien sieht die Vergangenheit dich an und erschrickt über dein heutiges Gesicht.

27.7.2011: Diesseits der Liebe blühen die Blumen des Begehrens; inmitten der Schwärmerei reißt ein Sturm sie heraus und trägt sie übers Land.

26.7.2011: Im Sommer sind wir Tage, werden fließend, verschwimmen im See. Die Zeit wird träumerisch, vergißt uns allesamt.

25.7.2011: Menschen in Moll gehen in einer Dur-Landschaft spazieren.

24.7.2011: Natalia Lisboa: „Die leichte Brise der Melancholie erfrischt deinen sommerlichen Geist.“

23.7.2011: Diese gesalzten Menschen, die an der Meeresküste leben, mit ihren salzigen Augen, ihren salzigen Worten und ihren salzigen Lippen.

22.7.2011: Sie las immer auch das Kleingedruckte des Tags, nicht nur die Überschriften und die Hauptsachen, las nicht nur von Sonne und Mond, von Wolken und Regenbogen. Sie las auch von der Ameise, die über die Stirn ihres im Garten schlafenden Kindes lief und abrutschte, hinab in den Blütenkelch eines Gänseblümchens taumelnd.

21.7.2011: Wind, Massage für Bäume.

20.7.2011: Natalia Lisboa: „So viele Augen siehst du jeden Tag, so viele Seen, die von Träumen, Sehnsüchten und Verlangen sprechen.“

19.7.2011: Meeresküste, Rocksaum der Ewigkeit.

18.7.2011: Wörter wehen wie der Wind, sie wohnen nicht, sind selber Wohnung; in die darfst du ziehen, in ihr kannst du leben, überall und allezeit.

17.7.2011: Natalia Lisboa: „Mach beim Wandern keinen Umweg um den See, sondern durchschwimme ihn.“

16.7.2011: Obwohl Goethe kein Musiker war und von Tuten und Blasen und jedem Klimbim wenig Ahnung hatte, war er doch in seiner geschriebenen Sprache einer der musikalischsten Melodiker der deutschen Literatur.

15.7.2011: Eine Handvoll Steine vom Weg pflücken und mit den Augen verschmausen.

14.7.2011: Wolken, Wasserspender par excellence.

13.7.2011: Schwäne liegen in den Wellentälern und schaukeln sanft.

12.7.2011: Natalia Lisboa: „Im Juli und August halte ich Sommerschlaf; wache erst im September wieder auf.“

11.7.2011: Jeder Tag ein Vers im lebenslangen Gedicht; zwischen den Zeilen blinzeln Träume.

10.7.2011: Vom Ufer des Schattens sprang sie in den See aus Licht und schwamm eine Runde; zurück im Schatten, tropfte die Sonne von ihr ab.

9.7.2011: Der Schatten, in den du im Sommer flüchtest, ist eine Datscha ohne Außenwände.

8.7.2011: Sie befreit sich vom Wetter, erklärt sich unabhängig von ihm und ruft den Sonntagsstaat aus. In ihm geht sie auch im Prasselregen gelassen vor die Tür.

7.7.2011: Der Meeresarm umarmt dich, der Meerbusen nährt dich, das Licht der Lagune schillert am Abend, am Morgen; die Wellen gehen durch deine Träume, und mit Liebe wird das Leben logisch.

6.7.2011: Zwischen Schlaf und Tag balancierst du auf der Hängebrücke des Traums. Wenn sie reißt und der Abgrund dich aufnimmt, erwachst du gleichwohl, auf unerklärliche Weise, unversehrt in den weichen Kissen des Betts und darfst mit Erleichterung, mit Grausen auch zurück in den Abgrund blicken, der dich doch nicht wollte und wieder ans Licht gespuckt hat.

5.7.2011: Die Welt wäre ein friedlicherer Ort, wenn Politiker, Manager und Militärs im Pyjama zur Arbeit kämen.

4.7.2011: Auf der Straße sich in sich kehren und in sich gekehrt des Wegs ziehen.

3.7.2011: Jeder Tag eine Insel, die Sehnsucht verführt dich zu gehen: den ungewohnten Weg an der tosenden Gassenküste.

2.7.2011: Die Wolken füttern die Felder mit Regentropfen.

1.7.2011: Im Sommer gilt die Meereszeit, in ihr gehst du baden – die Stunden verschwimmen, die Tage fahren zur See.

30.6.2011: Sie war todmüde, doch ihre Lust, zu schreiben, war so groß, daß sie, am Schreibtisch einschlafend, noch im Schlaf weiterschrieb.

29.6.2011: In ihrem drängenden Versuch, eine existentielle Gelassenheit zu erlangen, wirkte sie höchst ungelassen.

28.6.2011: Jeden Tag lichtwärts fallen ins schwebende Dunkel der Liebe.

27.6.2011: Ein Lächeln zart, wie die Welle, die die Möwe hebt.

26.6.2011: Eine Liebe, die man zurückläßt, behält das Herz des Reisenden bei sich.

25.6.2011: In der ausweglosen Situation die Ausweglosigkeit als den wahren Weg erkennen.

24.6.2011: Sie versalzte das Lob, sie übertrieb, und ihm schmeckte es nicht mehr.

23.6.2011: Die Wunden, die das Leben schlägt, mit Liebe verharzen.

22.6.2011: Am Meer den Seelentand wegspülen; reiner Sand, der übrig bleibt.

21.6.2011: Ich möchte auf deinen Gesangswellen reiten.

20.6.2011: Im Park des Meeresrauschens die Sprache der Liebe hören und singen lernen.

19.6.2011: In Gärten aus Regen lustwandeln.

18.6.2011: Sich die Wolkendecke über den Kopf ziehen, unter ihr geschützt und zuhause sein.

17.6.2011: Sich nach der Winduhr richten; wenn der Baum rauscht, rückt der Zeiger weiter (und du schaust auf).

16.6.2011: Das Haus verlassen und einem Fremden über den Weg laufen – sich selbst.

15.6.2011: Egal, in welche Richtung sie spaziert, sie spaziert in der Form eines Violinschlüssels.

14.6.2011: Gedichte pflanzen, eine Gedichtwiese, duftend und herzstärkend.

13.6.2011: Morgens von den Klippen des Schlafs in die Lichtfluten stürzen.

12.6.2011: Am Strand der Sonnenwellen luftbaden.

11.6.11: Das Meer hat einen erzieherischen Einfluß.

10.6.2011: Traumverregnet stand sie auf und ging an die Sonne. Die Sonne wischte die Träume beiseite.

9.6.2011: Natalia Lisboa: „Gleich nach dem viel zu frühen Aufstehen schlüpfen wenigstens die Füße wieder in ein feines Fußbett.“

8.6.2011: Er nennt seine Sätze nicht Sätze, sondern Gänge, denn er schreibt nicht im Sitzen, sondern im Gehen.

7.6.2011: Die Sonne verschwindet hinter einer Wolke wie ein Mensch hinter einem Busch. Beide erscheinen wieder.

6.6.2011: Morgens in die Sonne blinzeln, und die Sonne blinzelt zurück.

5.6.2011: Natalia Lisboa: „Das verlorene Kind, auf der Bordsteinkante sitzend, sagte: Menschen wie mich muß es auch geben.“

4.6.2011: Grabsteine, die Personalausweise der Toten.

3.6.2011: Verwandle den Tag in eine Frucht; sie fällt dir abends fast von selbst in den Schoß.

2.6.2011: Diese sonnenwasserfeinen Tage, die verschwimmen und dich verschlingen; nur zuhause, im Schatten, tauchst du auf.

1.6.2011: Kannst du dich noch verirren, so berechtigst du zu den größten Hoffnungen.

31.5.2011: Die Küche ist im Grund ein Teil des Bauches.

30.5.2011: Die brandenden Meereswellen massieren den Sand der Seele.

29.5.2011: Wort für Wort eine Oase in der sprachlosen Wüste sich erschreiben.

28.5.2011: Das Licht der Morgensonne spült dir leichten Sinn ins Herz und macht dir Beine, zum Springen und Schwingen gut.

27.5.2011: Einmal am Tag das Zimmer des Geistes aufräumen.

26.5.2011: Jeden Morgen der Aufbruch, die erneute Suche nach dem Anfang der Welt.

25.5.2011: Der morgendliche Sonnenstrahl, der ins Zimmer fällt: ein Defibrillator für die vom Schlaf gestillte Seele.

24.5.2011: Natalia Lisboa: „Notizen schreiben wie der Wind. Sich auf nichts einlassen außer auf das tägliche Spiel des Lebens.“

23.5.2011: Nur wer sich Zeit läßt, ist auf ihrer Höhe.

22.5.2011: Am Sonntag zwischen schwebenden Sternen im See verschwimmen; am Montag im reißenden Fluß erwachen.

21.5.2011: In Wohngebieten der ewige Rasenmäherkrieg. Der Rasenmäherfrieden bleibt eine Utopie.

20.5.2011: Stille, Hängematte der Seele.

19.5.2011: Was ist dein morgendliches Kaffeeschlürfen anderes als eine Wiedergeburtsmeditation?

18.5.2011: Morgens in der Gewißheit erwachen, auch dieser Tag wird Augenblicke voller Schönheit gebären.

17.5.2011: Konzentriere dich. – Worauf? – Auf das Leben.

16.5.2011: Jede Nacht ein See, in den du abends eintauchst; jeder Tag eine Insel aus Licht, an deren Ufer du morgens landest.

15.5.2011: Sie ist fliederspirituell. „Meine Spiritualität ist die vom Flieder eingeflößte. Jedes Frühjahr, wenn der Flieder blüht, ist es um mich geschehen. In der restlichen Zeit des Jahres erhole ich mich.“

14.5.2011: Die Weichheit der Wellen ihrer Worte berührte mich und löste alle Härte auf, die in mir war und nur darauf gewartet hatte, als Schaum zu stranden.

13.5.2011: Natalia Lisboa kritzelt: „Ich muß nicht auf andere Gedanken kommen, ich habe andere Gedanken.“

12.5.2011: Die Nacht ein gähnender Schlund, in ihm entschwinden die Müden.

11.5.2011: Was liebäugelt heute mit mir? Der Glanz des Himmels.

10.5.2011: Ihre von der Sonne geleitete Gesinnung beeinflußt die Passanten; sie gehen langsamer weiter, in einer mäandernden Form, sie tanzen über die Straße.

9.5.2011: Der warme Wind bläst über den See, sät im Spiegel blinkende Sterne und rast am Ufer im spitzblättrigen Schilf, während junge Frauen elegisch und schwebend ins Wasser springen.

8.5.2011: Sie konnte nicht gehen oder schlendern, sie tanzte von hier nach da, von da nach dort und zurück und immer weiter. Auch im Schwimmbad schaffte sie nie auch nur eine einzige Bahn, sondern tänzelte kreuz und quer durchs Becken.

7.5.2011: Du mußt die Tage ausführlich und exakt mitgehen, sonst zerbröselt das Leben.

6.5.2011: Heimweh hat wahrscheinlich jeder. Heimweh nach einem Duft, einem Du, einer Stadt, einer Liebe, einer Zeit... Heimwehgesund schwimmen und tauchen die Menschen durch schillernde Tage.

5.5.2011: Den Weg durchs Gebirge des Alltags gehen.

4.5.2011: Letzten Sommer, an einem wolkenlosen Tag, die Türen standen offen und der Wind rauschte in den Bäumen, hatten wir überraschenden Besuch. Eine Herde Schafe kam durch den Garten. Die wollenen Tiere strömten über die Terrasse zu uns herein und zogen, nach einer ausführlichen Wohnungsbesichtigung, durch die Haustür wieder ab.

3.5.2011: In der goldenen Innenwelt, im unantastbaren Morgen, Himmelsdienst feiern und wolkenzart verschweben.

2.5.2011: „Gehst du?“ – „Ja, aber ich weiß nicht wohin.“ – „Oh, dann komme ich mit.“

1.5.2011: Sie sagt: Das Geld und ich sind ein gutes Paar. Wir lieben es, auszugehen.

30.4.2011: Jeden Abend um acht ist für sie Tagesschauzeit. Sie setzt sich aufs Sofa und betrachtet den Tag. Was ist heute geschehen? Habe ich richtig gehandelt? Bin ich gut im Trödeln gewesen? Welche Fehler habe ich gemacht? Wem gegenüber habe ich mich unschön verhalten? – An manchen Tagen, an denen etwas unerhörtes passiert, schließt an die Tagesschau sich ein Brennpunkt an.

29.4.2011: Jeden Tag so lange schwimmen, bis man liebenswürdig wird, für sich und für andere.

28.4.2011: Der Anblick des eigenen Lebens sollte ein täglicher Genuß sein.

27.4.2011: Wenn die Flut kommt, in deinem Innern, alles stehen und liegen lassen und dicht am Strand gehen. Im Seetang, der ans Ufer schwimmt, Bernstein finden.

26.4.2011: Unter blaustem Himmel rascheln Bäume mit tausend Handvoll Sonnenlicht.

25.4.2011: Der Junge träumte, ein Fußballer zu werden, der seinen Stiefel herunterspielt. Überhaupt wollte er ein Erwachsener werden, der alles herunterspielt und sich zu keinster Zeit aufspielt. Ein Herunterspieler, so sah er sich in Zukunft.

24.4.2011: Enfants terribles sind eigentlich die meisten Erwachsenen.

23.4.2011: Der Wind blättert in den Bäumen, in den jedes Frühjahr neu erscheinenden ökumenischen Gesangbüchern.

22.4.2011: Das Blättermeer flutet aus den Bäumen in die Stadt, das Rauschen ertönt, die Wellen rollen durch die Straßen, tosen an den Klippen der Häuser.

21.4.2011: Gedankenblätter schimmern in der Sonne.

20.4.2011: Jetzt, im warmen hellen Jahr, endlich wieder in den Schatten treten, ins Clair-obscur des Lebens.

19.4.2011: In der Stille, von selbst, erwachen, auftauchen in einem See aus weißen Federn.

18.4.2011: Jede Nacht umziehen, schlafend und geräuschlos, ohne zu gehen, und am Morgen in einer anderen Wohnung, einem anderen Tag erwachen.

17.4.2011: Sie wechselte die Wohnung, sie wechselte die Kleider, sie wechselte die Sprache, sie wechselte sich aus.

16.4.2011: Augen, licht und zart, versunken im Anblick des goldenen Meers und seiner unermüdlichen Wellen.

15.4.2011: Aber jede Zeile, inmitten des Tags, redet von Sehnsucht, atmet die Liebe und träumt vom Gestade, an dem Endliches und Unendliches einander verschlingen.

14.4.2011: Wie morgens, auch tagsüber erwachen und zu sich kommen.

13.4.2011: Lena Lisboa: „Heute den ersten Baumblätterschatten gesehen.“

12.4.2011: Dichter / Wortscheinwerfer.

11.4.2011: Mäandern, menschlichste Bewegung.

10.4.2011: Der glitzernde See hypnotisiert die Frau, die in seinen Baumwimpern spaziert.

9.4.2011: Wenn du schlafen gehst, begibst du dich ins innere Kino. Beim Einschlafen schwindet das Licht im Saal. Du weißt nicht, welche Art Film du sehen wirst, eine Komödie, eine Tragödie, einen Horrorstreifen; du weißt nur, daß du wahrscheinlich wieder eine herausragende Rolle übernimmst, die du dann, in der Regel, nicht durchschaust.

8.4.2011: Jeden Tag bis ins Niemandsland gehn, in ihm zuhause sein.

7.4.2011: Jeden Morgen in den Pool des Traums springen.

6.4.2011: Das nachtmüde Kind sprang aus dem Bett und flog dem erwachenden Tag in die Arme.

5.4.2011: Meditieren, atmen in der fremden Sprache, die nichts bedeutet und alles sagt.

4.4.2011: Jeden Tag der rituelle Weg zum Schrein der heiligen Kaffeemaschine; in ihr wird der Sud des Guten Morgens gebraut.

3.4.2011: Freiheit ist Musik, beginnt mit „Auf etwas pfeifen“.

2.4.2011: Frühling und Sonne: Wandel. Seifenblasen steigen auf. Jeder Tag ist der Vortag eines Versprechens, das sich erfüllt. Der Gesang wird nicht nachlassen, er wird aus dem Atem eines schlafenden Sees im Frühlicht neu erklingen.

1.4.2011: Kindheit, das ist wie Butterbrot und Schulhofspiele.

31.3.2011 [5 Jahre „Spiele“]: Frau und Mann sehen sich an, sehen sich ins Gesicht, sehen ein Gedicht, interpretieren sich, verlieren sich. Am Ende bleiben Fragmente.

30.3.2011: Carl Apfelschnitz kritzelt: „Stadtmensch, Landmensch, Meermensch, Flußmensch, Seemensch, Luftmensch, Bergmensch, Talmensch, Eismensch, Schneemensch, Sandmensch, Waldmensch, Grasmensch, Weltmensch, Urmensch, Unmensch... Menschenskind, was kann der Mensch nicht alles sein!“

29.3.2011: Lena Lisboa: „Auch Tage können schweigen, man muß nur ruhig sein wie ein Reh, um es zu hören.“

28.3.2011: Aus dem rieselnden Sand der Sanduhr eine Skulptur formen, die die Zeit überdauert.

27.3.2011: „Kannst du mir helfen?“ – „Ja, aber nur, wenn du dir selber hilfst.“

26.3.2011: Das Erwachen am Morgen gehört zu den kleinen Ironien des Lebens.

25.3.2011: Tage vergehen, damit du immer einen neuen hast, neu anzufangen.

24.3.2011: Die Insel leuchtet in der warmen Abendsonne. Im italienischen Nachbargarten kicken kleine Jungs. Die Musik des Lebens spielt ewig weiter.

23.3.2011: Wehmut – eines dieser unersetzlichen deutschen Einwortgedichte.

22.3.2011: Schon der Anblick eines Flusses kann reinigen.

21.3.2011: Natalia Lisboa: „Ich liebe die Freundlichkeit des Frühlings, alles andere ist mir egal!“

20.3.2011: Jeden Sonntag gibt die Pianistin sich selbst ein Konzert. Für sie ein Symbol des Lebens: sich selbst ein Konzert geben.

19.3.2011: Sie besucht täglich den Kiosk, in dem es nur veraltete Zeitungen gibt. Beim Blättern in diesen versinkt sie jedes Mal in einer gleichsam meditativen Ruhe. Sie schläft ein.

18.3.2011: Carl Apfelschnitz: „Jeden Tag den eigenen Saustall verlassen und eine Augenweide finden.“

17.3.2011: Die beflügelnde Eleganz des grauen Himmels.

16.3.2011: Auf dem Weg sein, im Hotel des Lebens, gebucht schon vor der Geburt, im Moment der Zeugung.

15.3.2011: Lena Lisboa: „Mein Ideal? Ein komischer Kauz sein, komisch-zart und weise, warum nicht?“

14.3.2011: Die verschlungenen Gedanken wie die klugen Schlangen beschwören.

13.3.2011: Die Lichtung spüren im Wasserwald der Dusche.

12.3.2011: Das alte Paar ging jeden Nachmittag ins Kaufhaus und fuhr eine Stunde lang Rolltreppe. Das war seine Art zu flanieren.

11.3.2011: Der Frühling sendet per Einschreiben Tauwinde; sie beleben des Empfängers zugefrorenen Geist wieder.

10.3.2011: Im Grunde sind die Menschen Geigen, ungleich gebaute, und die Zeit, dieser Geigenbogen schlechthin, mag eine Weile jede streichen und überhaupt verstreichen und am Ende der Reigen das Leben vergeigen.

9.3.2011: Nachts mitten im Konzert der Sterne einschlafen.

8.3.2011: Träume, die Boulevardzeitungen der Seele.

7.3.2011: Die Augen, jetzt, im Frühling, verjüngen sich und werden zart.

6.3.2011: Für manch einen ist das Tirili der Vögel, das ihn morgens aus dem Schlaf singt, wahrer Kaffee für die Seele.

5.3.2011: Die beiläufigen Sätze sinds, die in ihrer Leichtigkeit, ihrer schwingenden Ironie die Maschine des Lebens ankurbeln.

4.3.2011: Ein Vorteil des Sommers ist, daß man sich tagsüber, weit entfernt von zuhause, erschöpft auf irgendeiner Wiese schlafen legen kann.

3.3.2011: Natalia Lisboa: „Es ist ein unheimlicher Umzug, jedes Jahr, der Wiedereinzug des Frühlings in die Herzen der Menschen.“

2.3.2011: Die heutigen Bildhauerateliers sind die Fitneßstudios. In ihnen schlagen schwitzende Bildhauer lebende Skulpturen aus dem eigenen Fett.

1.3.2011: Sich auf frischer Tat ertappen, jeden Tag, bei der Überwindung der Schwerkraft.

28.2.2011: Innig sein, in sich, egal ob man zuhause weilt oder außer Haus in Gesellschaft.

27.2.2011: Hinausgehen und das aus den Augen verlorene mit den Augen wiederfinden.

26.2.2011: Aus den Lichtfäden des Tags ein Frühlingslied spinnen.

25.2.2011: Der Reisende interessierte sich nicht für Landkarten; er orientierte sich anhand von Weinkarten und fuhr damit gut.

24.2.2011: Die Brücken, die zwei Menschen zwischen sich mit Worten errichten, Brücken, die beim Auseinandergehen zu Nichts zerfallen und in der unhörbaren Erinnerung, ihrem lichten Schein doch bleiben und den Fluß der Zeit überwölben.

23.2.2011: Natalia Lisboa: „Wann hast du das letzte mal bis tausend gezählt – als Kind hast du das doch immer getan?“

22.2.2011: Natalia Lisboa: „Das Ziel: heitere Traurigkeit.“

21.2.2011: Natalia Lisboa: „Was fange ich heute ein? Den Windkuß an der Hausecke? Die rüschchenhaften Schneeflocken auf dem Feld? Das Wimmern des eingesperrten Nachbarhundes? Den durch die Wolken brechenden Sonnenstrahl? Das Zwitschern der Amsel in der Dämmerung? Die schlafende Messefrau in der U-Bahn? Das auf dem Barhocker thronende silberne Kätzchen?“

20.2.2011: Der kaum erforschte Dschungel im Kopf, der vielleicht, im Grunde, unerforschliche, in dem große Flüsse mäandern, seine Lebensadern. Gedanken erheben sich wie Papageien im Flug, schweben im Kreis und tauchen wieder unter ins undurchdringliche Blattbauwerk.

19.2.2011: Was ist Küssen anderes als ein Gedicht auf die Lippen eines geliebten Menschen drücken?

18.2.2011: Der Tag bricht an, sobald am Horizont die Kaffeesonne erscheint.

17.2.2011: Mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen schweben.

16.2.2011: In einer Stunde die Einstellung zum Leben so ändern, daß man sich im Spiegel nicht wiedererkennt.

15.2.2011: Sie will nicht mit der Zeit gehen, selbst ihre Spaziergänge unternimmt sie gegen den Uhrzeigersinn.

14.2.2011: Die großen Bibliotheken haben wie große Badehallen eine eigene Sphäre, in der unbeschlossene Gesetze spürbar sind. Die weit gestaffelte Landschaft der Arbeitstische und Rechercheplätze, die geschwängerte Stille der Lesenden und Schreibenden, die Millionen Bücher um einen her, die wie mesopotamische Mauern die Stadt des Geistes prägen und schützen.

13.2.2011: Wenigstens einmal am Tag seine Gedanken kämmen.

12.2.2011: Natalia Lisboa schreibt: „Das meiste Chaos im Universum findet sich auf Erden – auf meinem Schreibtisch.“

11.02.2011: Es ändert vieles, wenn du vom Arbeitszimmer aus einen Fluß siehst.

10.2.2011: Am Abend das Gefühl, den ganzen Tag schlafgewandelt zu sein.

9.2.2011: Jeder Tag ist eine Welle im Meer des Seins, und du selbst bist nicht mehr als eine Schaumkronenperle, die in tausend Stücke zerplatzt.

8.2.2011: Die Sonne, Milchstraßenlampe.

7.2.2011: Regentropfen, die schönsten Perlen. Sie fallen auch vor die Säue.

6.2.2011: Auf der Türschwelle den Wind der Erzählung spüren und mit ausgebreiteten Schwingen abheben und fliegen.

5.2.2011: Außer sich sein, an einem unheimlichen Ort. Lieber in sich gehen, spazieren in der Landschaft der Gedanken.

4.2.2011: Der Schlaf ist das Himmelreich der Müden.

3.2.2011: Sie ist davon überzeugt, daß man Philosophie nur singen könne.

2.2.2011: Die gealterten Barrikadenkämpfer versammeln sich im Gewölbe vor den Barriquefässern und rufen mit träumerischen Augen und erhobenem Glas: „Es lebe die Revolution!“

1.2.2011: Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens Leichtsinn finden.

31.1.2011: Morgens das Fenster öffnen und das Weltradio hören.

30.1.2011: Reisen und in der Fremde mit sich Bekanntschaft machen.

29.1.2011: Eine Form von Großzügigkeit – sich seine Fehler vergeben.

28.1.2011: Was die Leute auf der Straße oder zuhause einander erzählen, ist Teil ihrer Autobiophonie.

27.1.2011: Das Apartmenthaus – ein Bienenstock. In der Früh summt jeder hinaus auf der Suche nach blühenden Wesen.

26.1.2011: In gewöhnlichen Straßen finden sich nirgendwo Sitzbänke. Nur auf Plätzen, in Parks, auf Promenaden stehen welche und laden ein. Aber sollten nicht auch in alltäglichen Straßen Bänke am Platze sein?

25.1.2011: Nachts, eingebettet in Tausende von Federn, schwirren die Träume unruhig durchs Haus.

24.1.2011: Du bist der Vogel, breite die Flügel aus und fliege.

23.1.2011: Man soll sich über den Schmu nicht ärgern, der einem überall widerfährt; die Welt ist nun mal nicht von Weisen erbaut und auch nicht von Weisen bevölkert.

22.1.2011: Wandern von Wort zu Wort jeden Tag. In jedem Wort weilen, ein Wortkundiger sein. Das Wort verlassen und über wortlose Felder streifen. Nach der unbeschreiblichen Zeit im Wortlosen wieder ein Ziel haben, streben nach einem am Horizont erscheinenden Wort.

21.1.2011: Ohne Lachen hat alles keinen Sinn.

20.1.2011: Küssen, nahmündlich plaudern.

19.1.2011: Sich im Schaumbad aus Phantasien rekeln.

18.1.2011: Zartes, die Wogen hell, unbedenklich verloren in den Sternen weit und reich.

17.1.2011: Essen ist letztlich eine heilige Handlung; in fröhlicher Gesellschaft, und sei es die eigene, am bekömmlichsten.

16.1.2011: Sich mit einem Schal aus Gedankenwolle wärmen.

15.1.2011: Winter, an künstlichen Lichtspielen reich; Sommer, Reich natürlicher Schattenspiele.

14.1.2011: Früher oder später geht jeder fremd, wie jeder seinen Träumen und Idealen untreu wird.

13.1.2011: Wer denkt sich die Drehbücher der Träume aus? Ist der Werauchimmer zurechnungsfähig?

12.1.2011: Sobald die Tage wieder spürbar länger werden, kann einem nichts mehr passieren.

11.1.11: Tausend Wege zum Kommunismus, zum Friedhof, dem Reich seiner Vollendung.

10.1.2011: Das eigene Denken, der verschlungene Garten, den jeder im Idealfall täglich pflegt, auch im Winter.

9.1.2011: Im Zug unter Avatarsklaven. Sie sind an aufgeklappte Rechner verkabelt, verstöpselt, ihre Gesichter vom strahlenden Schirm magnetisiert, dem Unmittelbaren geraubt. In der Tür erscheint ein Mädchen, im Schlepptau ein Pferd. Mädchen und Pferd wandern den Gang hinunter und verschwinden im Speisewagen.

8.1.2011: Wenn in einem freundlichen Buch nur ein guter Gedanke steckt, wie ein Diamant im Erdreich, nur wertvoller und schöner, als ein Diamant je sein könnte, dann hat sich die Leserei schon gelohnt.

7.1.2011: Im Winter nach frisch gefallenem Schnee die Pfade neu trampeln.

6.1.2011: Das Heim finden, in dem dich nichts heimsucht.

5.1.2011: Schwierigster Versuch: wenigstens einen Tag lang auf jedes dumme Wort verzichten.

4.1.2011: Leben ist der Rhythmus von ineinander und auseinander.

3.1.2011: Auf der Straße im Schneesturm schwärmen.

2.1.2011: Carl Apfelschnitz notiert: „Manche sind sich zu vornehm, um sich mit sich zu beschäftigen.“

1.1.11: Erzittern unter dem großen Brausen der Liebe.

31.12.2010: Kaffee, der Monarch des Morgens. Er entläßt niemanden, der ihn nicht zuvor gekocht und getrunken hat.

30.12.2010: Eine entwaffnende Redeform sollte man sich angewöhnen. – Und warum tust du es nicht? – Ich bin dabei.

29.12.2010: Auch das Gespräch mit der Bäckerin, wenn es gut geht, wird ein Liebeswechselgesang sein; ebenso das mit dem Schaffner, der Verkäuferin, dem Gärtner, wie überhaupt jede Zwiesprache im Alltag.

28.12.2010: Niemandem etwas vorwerfen, nichts bereuen – zwei Quellen der Weisheit.

27.12.2010: Die Blablaisten aller Länder sind vereinigt und vertreten überall ihre elende Ideologie, den Blablaismus.

26.12.2010: Würde man die Weihnachtsfeierlichkeiten abschaffen, gäbe es weniger Streß, weniger Streit und weniger Unfälle. Folglich gäbe es mehr Besinnlichkeit, mehr Frieden und weniger Tote und Verletzte. Folglich ist es unvernünftig und unchristlich, die Weihnachtsfeierlichkeiten nicht abzuschaffen.

25.12.2010: Träume spielen auf ihrer Seele Klavier.

24.12.2010: In einer Biographie über ein Schaf steht geschrieben, es sei in wohlbehüteten Verhältnissen aufgewachsen.

23.12.2010: Die Küche ist nicht unbedingt der Ort des guten Geschmacks.

22.12.2010: Vielleicht sollten Eltern, zumindest eine Zeitlang, ihre kleinen Kinder siezen, aus Respekt vor diesen geborenen Persönlichkeiten.

21.12.2010: Bei Vollmond am Fenster den wandernden Schatten des Baums beobachten. Es gibt wie Sonnenuhren auch Monduhren.

20.12.2010: Der gelungene Schlaf ein unmerkliches Schweben von einem versinkenden Tag in eine neu auftauchende Welt.

19.12.2010: Morgens verschlafen; nach heftigem Traumschneetreiben verspätete Landung auf dem Flughafen des Tages.

18.12.2010: Jeden Morgen, beim Erwachen, die Renaissance des eigenen Lebens.

17.12.2010: Ihre Gedanken sind willkürlich, chaotisch und letztlich unvorhersehbar wie das Wetter.

16.12.2010: Schlaf – unbehelligte Zeit.

15.12.2010: Schneeflocken, die Flausen des Winters.

14.12.2010: Ein Satz, der wie eine Libelle schimmernd durch den Garten der Träume schwebt.

13.12.2010: Eine Autobiographie schreiben, einen Lebenswetterbericht.

12.12.2010: Jeder Tag ein Stein, das Leben ein Gebirge, zerklüftet.

11.12.2010: Jeder Tag eine originale Symphonie, ihre Aufführung, ohne Dirigent, dauert vierundzwanzig Stunden.

10.12.2010: Die Amsel schwebt durchs Fenster und klagt: „Der Tag verfliegt zu schnell, unfaßbar, unerhaschbar.“

9.12.2010: Wo wohnst du? – Ich gebe dir meine Anschrift, sagte sie und schrieb ein Gedicht.

8.12.2010: Atem schöpfen als wäre der Mund eine Schöpfkelle.

7.12.2010: Sie kam von Träumen unbehelligt durch die Nacht, erwachte bildlos im neuen Tag.

6.12.2010: Wie viele Männer verbringen Stunden, Tage, ja, Wochen ihres Lebens mit dem Studium von Sporttabellen.

5.12.2010: Das Leben, diese Spieluhr; ihre Zeiger rücken immer und sind immer schon verrückt.

4.12.2010: Wenn man sich selbst begegnet, begegnet man auch einem Ausländer mit vorübergehender Aufenthaltserlaubnis. Diese gilt für das Land des Lebens.

3.12.2010: Wenn man zu schnell oder zu langsam geht, kommt man nie zu sich.

2.12.2010: Du wirst jeden Morgen neu geboren. Du kehrst aus der Umlaufbahn des schwerelosen Tiefschlafs zur Erde zurück. Luftige Träume entzünden sich beim Eintauchen in die Erdatmosphäre. Gelandet, findest du dich in einem weißen Ozean wieder. Noch schlaftrunken orientierst du dich neu.

1.12.2010: Jeden Tag das Mosaik des eigenen Lebens auslegen.

30.11.2010: Ein Inbild, manchmal zu sehen, der Liebe: zwei, die sich schonen, sich trösten.

29.11.2010: Ernst Schneewall sagte: „Erst Schneefall, dann Schneeball.“

28.11.2010: Die hoffnungslose Begeisterung der Tochter trieb der Mutter Tränen in die Augen, und sie sank lächelnd auf den Divan.

27.11.2010: Im Wolkenschloß den Tag verträumen, heiter.

26.11.2010: Wie gehts dir? – Bestens, ich bin rundum unglücklich.

25.11.2010: Du weißt nicht, in welcher Asservatenkammer deine Flügel liegen, du weißt nicht einmal, daß du Flügel hast, die in einer Asservatenkammer liegen und von den freien Lüften träumen.

24.11.2010: Ohne Sicherung, nur mit den Augen die Wolkenberge besteigen.

23.11.2010: Im Traum das finden, was man am Tag vergeblich gesucht hat.

22.11.2010: Und die Sehnsucht wohnt jetzt in den Wolken, die, von der Sonne angeschminkt, über allen Gipfeln schweben. Die Menschen aber richten sich im Innern ein.

21.11.2010: Im Traum Kaffee trinken und davon aufwachen.

20.11.2010: Carl Apfelschnitz: „Der November in seiner Düsternis macht mich trunken.“

19.11.2010: In Träumen wie in schäumenden Wellen des Meeres baden gehen.

18.11.2010: Sie entflieht der überfüllten U-Bahn und atmet auf, als in der Seitenstraße ein kalter Regen sie bis auf die Knochen blamiert.

17.11.2010: Kunst werden ist menschlich.

16.11.2010: Selbst wenn ich mich schlecht fühle, bleibe ich doch ein Teil der Erd- und Weltgeschichte, und die Erinnerung an diese Tatsache kann mein schlechtes Gefühl im Nu auflösen und ins angenehm Lustvolle und Abenteuerlustige verwandeln.

15.11.2010: Der November, gewiß der feinste Monat des Jahres, umgrenzt wie keiner sonst eine authentisch besinnliche Zeit. Die Welt offenbart sich düster und nackt, als wäre sie ein Bühnenbild von Beckett, und wirft den Menschen zurück auf sich selbst.

14.11.2010: Unser Arbeitsgebiet ist das Leben. Überstunden werden nach Tarif entlohnt, in Form von Erfahrungen.

13.11.2010: Zwischen den Zeilen wachsen Rosen.

12.11.2010: Wer mit sich im unreinen ist, ist ganz bei sich. Mit sich im reinen ist man im Tod.

11.11.2010: Jedes Projekt abblasen und sich ganz dem Hier und Heute verschreiben.

10.11.2010: Die scheinende Sonne ruft die Menschen aus ihren Häusern heraus, und die Herausgerufenen staunen über die stumme Tänzerin am Himmel.

9.11.2010: Weich blinkt das Meer, und die Träume verschwimmen wie Wolken, morgens.

8.11.2010: Die nimmermüden Bäche des Lebens sausen in dir, kreisen reihum, reißen dich mit.

7.11.2010: Das, woran er glaubte, war Kaffee. Kaffee brachte ihn jeden Morgen zurück ins Leben.

6.11.2010: Der Tagesofen im Winter, kaum ist er an, geht er wieder aus, es wird zappenduster.

5.11.2010: Sie sind so aneinander gewöhnt, daß sie auch gleichzeitig gähnen und gleichzeitig mit den Wimpern klimpern.

4.11.2010: Siehst du das Geheimnis? – Welches Geheimnis? – Öffne die Augen.

3.11.2010: Die Linien des Tags nachzeichnen; als wäre er ein abseits liegendes Flußland (und das ist er auch).

2.11.2010: Das Tagebuch ein existentieller Reisebericht, Logbuch des Lebens. Als wäre der Schreiber ein Nachfahre des Christoph K., der die Meere des gewöhnlichen Lebens durchpflügt und unter der Flagge der Hoffnung fährt, der Hoffnung, die den Namen Indien trägt. Es erfüllt sich die Hoffnung nie, der Schreiber sucht vergeblich den Weg nach Indien. Er landet an unbekannten Küsten dafür, begrüßt sie, überrascht zwar und doch freundlich bald.

1.11.2010: Der an Erde erinnernde Duft der im Wind rollenden Wiese und das Blinken der Sonne auf den Halmen erinnern die Frau daran, was sie im Leben sucht. Sie sucht nichts. Alles, was sie sich ersehnt, ist gehen, immer nur gehen.

31.10.2010: Natalia Lisboa: „Ich möchte keinen Leitstern, ich pfeife auf die Sterne, sie können mir gestohlen bleiben. Alles, was ich will, ist kochen, denken, reden, und alles zusammen: lieben.“

30.10.2010: Geschwind wie der Wind trittst du ein, mein Kind, und deine Wange bringt der Berge roten Glanz.

29.10.2010: Die Katze aus dem Sack lassen – im Denken, Schreiben, Lieben – und Katzenjammermusik in jemandes Ohren sein.

28.10.2010: Die Tage tröpfeln in großen Tropfen vor mir nieder.

27.10.2010: Die Wege sind gepflastert mit Blättern, Heimat, unvergänglich.

26.10.2010: Jeder Tag ist der Garten, in dem das Leben wächst.

25.10.2010: Jeder Tag ist die Straße, auf der das Leben promeniert.

24.10.2010: Jeder Tag ist der Platz, auf dem das Leben erscheint.

23.10.2010: Wange an Rosenwange beherzt und im Morgenrot den Tag beginnen.

22.10.2010: Im Schlaf wiegt man weniger. – Warum komme ich dann so schwer aus den Federn?

21.10.2010: Je länger einer über die medialen Felder spaziert, desto weiter entfernt er sich von den elysischen.

20.10.2010: Ein Zug mit zweitausendundzehn schlafenden Passagieren bleibt im Tunnel liegen, und alle wachen auf.

19.10.2010: Wer sieht, was das Leben bringt, steht morgens auf und singt; man weiß, viel ist es nicht; was bleibt, ist ein Gedicht.

18.10.2010: Die Wolken, behutsam schweben sie über der Stadt.

17.10.2010: Verloren in Unrast, verdampft die Zeit wie kochendes Wasser.

16.10.2010: Lea Odesa kritzelt ins Travel Book: „Der Sinn des Lebens besteht darin, sich jemanden anzulachen, jeden Tag, bis ans Ende aller Tage.“

15.10.2010: Natalia Lisboa: „Wieso fliehen sie denn, die Stunden? Wollen sie nicht einmal stillestehn? Und sein wie ein See? Ich will mich im spiegelnden Wasser schminken und kämmen und meine Maske sehn.“

14.10.2010: Ich, flüchtiger Spielball des Lebens.

13.10.2010: Sie blieb zurück, die Pionierin der Langsamkeit.

12.10.2010: So leben als wäre das Leben wie ein gesunder Schlaf – erholsam.

11.10.2010: Aufwachen, zu sich kommen: die unheimlichste Reise des Tags.

10.10.10: Im Haus des Lebens von Zeit zu Zeit den Raum wechseln.

9.10.2010: Tagwerk, Nachtwerk, Lebenswerk, immer wieder: den Anderen liebgewinnen – der einzige Gewinn, der zählt.

8.10.2010: Morgens als Phoenix aus der Asche des Schlafs wiederaufstehen. Being reduced to the ashes of sleep, you arise each morning like Phoenix.

7.10.2010: Jeden Morgen, nach dem Frühstück, wird getanzt. In den U-Bahnen tanzen sie Tango. Vor den Banken tanzen die Manager solo, ziehen blank und springen in den Brunnen. Im Park tanzen fossile Gammler mit Eichhörnchen. In der Bäckerei tanzt die Bäckersfrau und wirft mit Brezeln um sich. Vor dem Geschäft tanzen die Bäume Charleston. Überhaupt tanzt das ganze Universum einen endlosen Formationstanz.

6.10.2010: Den Geist, die Neuronenorgel, mit Laubfarben stimmen.

5.10.2010: Tags, an der Luft, werden alle Luftikusse.

4.10.2010: Nachts, im Bett, werden alle Menschen Bettler.

3.10.2010: Im herbstlichen Wald, in der Färberei.

2.10.2010: Die Bäume und die Frauen färben im Herbst ihre Haare.

1.10.2010: Das Gesicht, Bildschirm der Seele.

30.9.2010: Das Orange, das auf den Hügeln grast – jetzt, nach Sonnenaufgang, und jetzt, in der Erinnerung.

29.9.2010: Das beste Wort, in der Früh als erstes zu sagen, ist vielleicht tatsächlich „Guten Morgen!“

28.9.2010: „Hast du den Sportteil?“ (Frühstücksgesprächsfetzen)

27.9.2010: Wohin holpere ich heute?

26.9.2010: Aus der Küche kommt der Satz: Du kriegst heute nichts mehr gebacken.

25.9.2010: Natalia Lisboa: „Der Stift ist die Brücke der Sehnsucht. Über sie schreibst du dich zu den anderen Sehnsuchtsreichen.“

24.9.2010: Egal, wo du bist, du sollst immer so leben, als wäre die Situation ideal.

23.9.2010: Blauer Himmel, duftende Wärme in den Holunderwäldern; das Licht frisch zerlaufene Butter, die Zöpfe der Mädchen semmelblond; die Luft von der Küste salzt die Wange mit zarter Hand; der Anblick des getäfelten Meers serviert ewigen Glanz.

22.9.2010: Viele, viel zu viele, halten Unhöflichkeit, offensichtlich, für eine Tugend.

21.9.2010: Gehen wir nun von der Tagesordnung zum Tageschaos über.

20.9.2010: Wege zart wie die Liebe, wie das Licht am stillen Morgen, im Wald, am Fluß, am Hang.

19.9.2010: Menschen sind Umhertöner. Den lieben langen Tag über gehen und stehen sie und tönen in der Gegend umher.

18.9.2010: Woran hältst du dich? – An mein Notizbuch.

17.9.2010: Wem verschenke ich mich heute?

16.9.2010: Ruhe, ich muß den Mond betrachten.

15.9.2010: Lena Lisboa: „Im frisch bezogenen Bett schlafen gehen, ist Glück.“

14.9.2010: Unförmliche Gedanken werden in der Stille förmlich.

13.9.2010: Am Strand auf dem Gesicht der Inderin dieses aufblitzende mineralische Lächeln.

12.9.2010: Ein Buch der Dämmerungen schreiben, während des Morgengrauens, des Abendgrauens.

11.9.2010: Es scheint fast bizarr zu sein, daß durch dieselbe Pforte, durch die man das Essen schiebt, auch die menschliche Stimme tönt. Geflügelte Worte und fliegende Sätze, Fragmente und Lieder, chronisch wiederkehrende, der Liebe.

10.9.2010: Die Urlaubsromanze ist eine Art Fertighaus. Es läßt sich schnell zusammenbauen, schnell wieder abreißen.

9.9.2010: Am Ende des Lebens ist jeder ein mehr oder weniger beschriebenes Blatt.

8.9.2010: Jedes Gesicht die einmalige Skizze eines Menschen. Die Natur zeichnet nach Lust und Laune, wischt am Ende die Tafel aus.

7.9.2010: Eine freundliche Zeile, und die Welt wird einen Deut zarter.

6.9.2010: Sich lösen von allem, um dann verwunschener und gelöster Anteil zu nehmen.

5.9.2010: Die Menschen, Helden in einem alptraumhaften Märchen.

4.9.2010: Lena: „Komisch, ich bin eigentlich ein ordentlicher Mensch. Aber jedes Mal, wenn Mutter mich besucht, fragt sie, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe.“

3.9.2010: Die Liebe höret nimmer auf, steht auf einem Grabstein, und man kann hinzufügen: auch der Wahnsinn höret nimmer auf, der in solchen Sätzen in Stein gemeißelt wird.

2.9.2010: Die Sterblichkeit ist ein Traum, den die Unsterblichkeit träumt.

1.9.2010: Liebende sind Fragmente, die zusammenpassen.

31.8.2010: Die Liebe ein Tanz, der zwischen Vertikale und Horizontale immerzu wechselt.

30.8.2010: Das brausende Meer spült den Bernstein der Erinnerung ans Ufer deiner Gedanken.

29.8.2010: Ein Ereignis: das Blinzeln der Frau auf dem Gehsteig und ihr plötzliches tierisches Singen.

28.8.2010: Liebenswürdig scheint der Mensch, der bei all seiner Lässigkeit, seiner saumseligen Art doch die Aufmerksamkeit auf das Einzelne zu lenken weiß, auf das Vergessene und Verachtete, auf den Glanz des Abwesenden, vielleicht Unscheinbaren, und der so die Pflanze der Liebe zu blühen ermuntert.

27.8.2010: Auch an einem dunklen Tag, die Wolken schleichen tief, gibt es den einen Augenblick, in dem zwei Menschen, Liebende, sich erkennen und die Welt in ihren Augen strahlt.

26.8.2010: Natalia Lisboa: „Töchterchen, was ist geschehen?“ – Lena: „Mir ist schlecht vor Sehnsucht.“

25.8.2010: Lena Lisboa: „Wer nicht traurig sein kann, kann auch nicht hoffen.“

24.8.2010: Was ist Geist? Er ist das im Wind vorüberschwebende Samenkorn.

23.8.2010: Der stumme Wasserfall, dessen Klang den Garten durchbraust, der spielerische Bach der Worte, die durchs Geäst des Tags fließen und dich inwärts wenden.

22.8.2010: Das Leben ist dasselbe, aber jeder Tag ist neu.

21.8.2010: Was ist Liebe? Der Irrtum, der sich richtig gut anfühlt.

20.8.2010: Was ist Zartheit? Die Eröffnung der Umarmung.

19.8.2010: Jeder Tag ein Sandkörnchen am Strand der Ewigkeit.

18.8.2010: Wir sind die Büffel, das Leben; die Prärie heult ohne uns, und sie bebt und zittert, wenn wir kommen.

17.8.2010: Meer sehen und lieben.

16.8.2010: Sich aufs Leben einstimmen, jeden Morgen, und dem Tag entsprechen.

15.8.2010: Der Spaziergang, ein Wandelgang. Du gehst, und es wandelt sich dein Leben.

14.8.2010: Wörter, die nur in ihrer Verneinung überleben – gestüm in ungestüm zum Beispiel.

13.8.2010: Meditieren am Morgen – Sprungbrett in einen harmonisierten Tag.

12.8.2010: Der Garten, der Mensch sinkt mit verblassendem Ich in den Schlaf. Morgens hüllt Nebel ihn ein. Langsam lüften sich die Schleier. Von prickelndem Regen aus unsichtbarer Wolke wird er vollends wach. Glanz kehrt zurück. Als der Himmel aufreißt, scheint es, als lächelte er.

11.8.2010: Regen und Tee, musisch-nüchterne Tropfen.

10.8.2010: Von den streunenden Stunden des Sommers bleibt ein Lächeln, eine flüchtige Berührung, das Rieseln und Rauschen des Bachs, das Grünen des Grüns und das Blauen des Blaus, das Schwellen des Traums, der verlorene Kuß, der schnellende Fisch und der Windhauch, entfacht von deinen Wimpern.

9.8.2010: Sie: „Bei mir bleibt nichts dem Zufall überlassen.“ – Er: „Schade.“

8.8.2010: Ein neuer Tag graut und wird bunt.

7.8.2010: Aus dem Schlaf, aus der Finsternis in den Abgrund des Lichts taumeln.

6.8.2010: Am Morgen der Aufbruch zu einer interkontinentalen Reise. Du suchst dich und findest einen Fremden.

5.8.2010: Die Liebe ein Traum, schwebend wie eine Schaumblase und zart zerbrechlich.

4.8.2010: Im Halbschlafzimmer liegt die Muse und erzählt von ihren Visionen.

3.8.2010: Carl Apfelschnitz: „Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist im wesentlichen die Frisur.“

2.8.2010: Die Gärten tanzen im Sturm, hingerissen und wund vor Leidenschaft.

1.8.2010: Lena Lisboa meint: „Was heißt schon streng gläubig sein? Wenn schon gläubig sein, dann mild gläubig.“

31.7.2010: In den Sesseln am Meer brüten die jungen Schönen, träumen gelassen sich ins Nichts.

30.7.2010: In Träumen brennt immer Licht.

29.7.2010: Jeden Morgen sich ans Spinnrad setzen und den Traum des Lebens weiterspinnen.

28.7.2010: Das unerträgliche Licht der Sonne; die Wohltat, im Schatten zuhause zu sein. (Lobet die Wolke.)

27.7.2010: Ein Schauspiel, ein Hörspiel, ein Tast-, Riech- und Schmeckspiel – die Liebe, das Spiel aller Spiele.

26.7.2010: Der Mond schwimmt, fest verankert im All, auf dem Spiegel des Ozeans, der die Weite füllt.

25.7.2010: Am Sonntag morgen das Blütenglockenläuten auf dem Feld. Es läutet unhörbar und ruft zu nichts auf. Es läutet auch am Montag morgen in aller Ruhe weiter.

24.7.2010: Das Leben ergibt nur Sinn, wenn es ein Spiel ist. All die Niedertracht, Grausamkeit, Brutalität, all die Schmerzen, die Menschen einander zufügen, ergeben nur im Zusammenhang eines wirklichen Spiels einen gewissen Sinn. Erträglich werden sie dadurch nicht.

23.7.2010: Im gestaltlosen Fluß unserer Liebe waren die bleibenden Augenblicke jene Lichtblitze, die im Wellental versanken.

22.7.2010: Der Bus des Lebens fährt an die Küste, dort steigt man aus und wechselt für immer das Element.

21.7.2010: Woher, wohin der Mensch auf dem Feld? Halb verborgen geht er im wehenden Korn.

20.7.2010: Aus dem Fluß der Zeit steigen, in die Ewigkeit des Meers tauchen.

19.7.2010: Verprasse dein Geld auf der Bierbank – da hast du wenigstens was davon.

18.7.2010: Am Strand ins Wechselspiel der Erscheinungen versinken, in der Ebene schillernder Vagheit, im Glanz auftauchender und verschwimmender Töne.

17.7.2010: Menschen, Blindgänger.

16.7.2010: Das Gedächtnis, Reisetagebuch des Lebens.

15.7.2010: Am Strand malt der Wind die Konturen des Unendlichen auf die Haut der Endlichen, am Strand zeichnet der Wind die Linien des Ewigen auf die Haut der Zeitlichen, am Strand finden die menschlichen Leinwände den Künstler, der sie vorüberwehend verewigt.

14.7.2010: Im honiggelben Licht am Meer tollen die Bienenkinder mit Schwimmflügeln in tosenden Wellen.

13.7.2010: Sich in den Schatten flüchten, in ein Zimmer, in dem man den zudringlichen Gesang der Sonne nicht hören muß.

12.7.2010: Das Glück, ein vorübergehendes Kunstwerk. Das kann auch eine Frau sein, die vorübergeht.

11.7.2010: Am Strand der Gesang der Gezeiten, Gesang der Liebe.

10.7.2010: Am Strand in einem Buch lesen und die Zeilen rauschen hören.

9.7.2010: Am Strand ein Buch lesen und zwischen den Zeilen das Meer sehen.

8.7.2010: Am Meer sich in die Kulissen der Ewigkeit stürzen.

7.7.2010: Gesichter öffnen sich am Meer in einem zarten unerbittlichen Licht.

6.7.2010: Der Kuß, die weiche Silbe, der süße Auftakt eines langen Satzes.

5.7.2010: Eine Frau, versunken am Strand, am Wasser gehend, ist vielleicht das ansehnlichste Gedicht, das die Natur schreiben kann.

4.7.2010: Einen Airbus A380 solange am Start warten lassen, bis die Ameise die Startbahn überquert hat.

3.7.2010: Auf der Terrasse des Sansibar sagt ein vom Strand zurückkommender Gast zu seinen Bekannten: „Das Meer ist eine Autowaschanlage für Menschen.“ In der Tat, er glänzt vor Sauberkeit.

2.7.2010: Den Fuß vor die Türe setzen und eintauchen in die See des Lebens.

1.7.2010: Die Frau, viele Jahre nicht gesehen, ist filigraner geworden, Wehmut auf ihrem Gesicht erschienen.

30.6.2010: Natalia Lisboa schreibt: „Beim Gehen am Strand ziehen die Fragen keine Antworten nach sich; es gibt keine Fragen mehr, keine Antworten, nur mehr die Ansichten der See.“

29.6.2010: Jeden Tag sich verlieren, jeden Tag im Meer verschwimmen.

28.6.2010: Jeden Tag zur Vorlesung des Meers gehen. Thema in diesem Semester: die Zeitlosigkeit.

27.6.2010: Zwischen den Zeilen ihrer Sätze schimmert das Meer.

26.6.2010: Die anrollenden Wellen, Zeilen eines unerschöpflichen Gedichts.

25.6.2010: Ein Segelschiff zieht langsam über den Horizont, hellauf in zarter Kontur.

24.6.2010: Jeden Tag die weißen Wege am Strand bis ins Innere der Sehnsucht gehen.

23.6.2010: „Die Hoffnung kommt mit dem Meer“, sagt Lou-Lou, sagt es mit ihrem bescherungsreichen Lou-Lou-Lächeln. Vielleicht ist das Meer ein anderes Wort für Liebe, für die Musik der Liebe. Das Meer ist das aufspielende Orchester, das die Küsten der endlichen Wesen immerzu aufwühlt und befruchtet mit aller prasselnden Wucht.

22.6.2010: Die Musik ihrer Schritte hören, die Melodie ihrer Gesten, den Blues ihrer Augen.

21.6.2010: Der Anblick des getäfelten Meers im Sonnenschein westlich von Sintra und der Anblick der mit Azulejos getäfelten Häuser in Lissabon. Das eine, das flüssige Meer bleibt der Ort der Sehnsucht, das andere, feste, der Ort des Wohnens, Staunens, Liebens.

20.6.2010: Liebe, Beisichsein im Gegenüber.

19.6.2010: Auf einem Satz wie auf einer Luftmatratze über die Wellen des Tages gleiten.

18.6.2010: In der Liebe ist Kleidung das Konfektpapier einer menschlichen Praline.

17.6.2010: Reich nur an unsinniger Liebe, gab sie sich der Verschwendung hin.

16.6.2010: Sich jeden Morgen von der Sonne in Flammen setzen lassen.

15.6.2010: Jeder Tag die ausgeleuchtete Bühne, auf der man sich zur Aufführung bringt.

14.6.2010: Der Glanz einer Welle, flüchtig und unerschwinglich, Balsam für den Geist.

13.6.2010: Lena Lisboa: „Nichts scheint mir glänzender zu sein als das glanzlose Leben.“

12.6.2010: Jeden Morgen im Morgenland erwachen und jeden Abend im Abendland einschlafen.

11.6.2010: Jeder Tag eine Erscheinung ohne Zukunft.

10.6.2010: Natalia Lisboa: „Die gedanklichen Sonnenaufgänge jeden Tag, einer Sonne, die wirklich aufgeht und das Land mit nicht versengendem Feuer spürbar wärmt.“

9.6.2010: Heiß und schwül, ein Wetter, um in der Luft zu baden.

8.6.2010: In den Gewölben rufen Kinder endlos den Unernst herbei.

7.6.2010: Die Welt aufschreiben, so wie man die Tür aufmacht.

6.6.2010: Fährtenleser sein der Wolken, des Winds, der Träume, der Blicke, der Lächeln, der Küsse, der Stimmen, der Hände, des Gehens, des Schweigens und der Rätsel der Frauen.

5.6.2010: Dieses Schiff, ein schwanengleicher Wasserbus.

4.6.2010: In meeresfarbenen Geschichten baden gehen.

3.6.2010: Aufwachen und sich wie ein Fenster öffnen. Die Welt mit allen Düften, Tönen, Träumen, Sonnenküssen schwebt herein.

2.6.2010: Wenn die Morgensonne durch die Fenster ins Schlafzimmer lacht, schwingt man sich vom Lachen angesteckt mit Lust aus den schlafenden Federn ins weitere Leben.

1.6.2010: Vor dem starken Regen sind Spatzen und Kohlmeisen durchs offene Fenster in die Wohnung geflüchtet und putzen nun auf dem Buchenparkett ihre Flügel.

31.5.2010: Das Rumpeln der ersten Straßenbahn auf dem Bahnhofsvorplatz am frühen Morgen: und wieder beginnt der Tag sich zu lichten, hebt die Musik des Lebens an.

30.5.2010: Der Bademantel, ein kleidsames Handtuch.

29.5.2010: Bei den Vögeln Gesangsunterricht nehmen, in ihrem Studio, den Bäumen.

28.5.2010: Ziehen die Wolken von der Bühne ab, verschwinden sie hinter der Szene, dann lassen sie dem obdachlos gewordenen Menschen einen himmelblauen Swimmingpool zurück.

27.5.2010: Sich vom Lachen der Sonne anstecken lassen und auch dann heiter bleiben, wenn sie hinter Wolken verschwindet.

26.5.2010: Voraussetzung für gelingendes Leben ist ein guter Schlaf.

25.5.2010: Die einzig sinnvolle Form der Vergebung ist das Vergessen.

24.5.2010: Hin und wieder eine Flaschenpost aufgeben. Vielleicht gibt es einen unbekannten Robinson Crusoe, der sich über ein Briefchen freut.

23.5.2010: Jemanden umspielen, so wie man jemanden umarmt.

22.5.2010: Morgens und abends am Strand des Tags und der Nacht gehen und die Zeit rauschen hören.

21.5.2010: Blumig sein, Frühling sein.

20.5.2010: Wolken, dieser riesige Sonnenschirm (der auch mit Wasser spritzen kann).

19.5.2010: Bei Regen glänzt das Himmelsblau in Abwesenheit.

18.5.2010: Musik, die Architektur der akustisch aufregenden Gefühle.

17.5.2010: Wie Blüten sind die Gedanken bunt und Vorschein der Frucht.

16.5.2010: Immer wieder aufbrechen, losgehen, den Dingen nahekommen – den Roman des eigenen Lebens in den Raum spazieren.

15.5.2010: Natalia Lisboa meint: Auf dem inneren Kompaß ist die Liebe der Nordpol.

14.5.2010: Die eigene Wohnung eine Art Dorf, in dem jeder jeden kennt, in dem die Wege geläufig, vertraut sind. Abends, nach einem Tag des Umherirrens draußen, nachhause ins Dorf kommen, die Bilder vor der Tür lassen und bildlos zum Schlafhaus schlendern.

13.5.2010: Wie ein Gärtner reihum die Worte pflanzen, um später etwas zu essen zu haben.

12.5.2010: In ihrer Hosentasche klimperten die Steine, die sie unten am Neckarstrand aufgelesen hatte, und sie legte sie zuhause wie selbstverständlich ins Bücherregal.

11.5.2010: Wenn die Geschäftsleute nur mehr wandern würden, von Hamburg nach München, von Leipzig nach Freiburg, wohlgekleidet in Anzug und Krawatte, in Kostüm und mit Rollenköfferchen, dann wäre das für die Wirtschaft gut und der Beginn einer anderen Geschichte.

10.5.2010: Mit den Augen im Blütenmeer baden.

9.5.2010: Lenas Wort zum Frühstück: „Das Leben ist ein Spiel mit dem spritzenden Gartenschlauch – egal, wohin man hüpft, niemand entkommt seinem Strahl. Erst wenn einer den Hahn zudreht und der Strahl versiegt, hört man auf zu sein, bleibt eine Blumenwiese.“

8.5.2010: Jeder Friedhof eröffnet im Getriebe der Stadt, der Gemeinde, den anderen Ort, einen epischen Text aus vollendeten Fragmenten, ein endliches Felsenmeer, auf jeder Welle ein Namenszug. Er bildet einen Gesang aus Lichtern und Blumen, eine Komödie aus stummen Knochen, ein Gedicht über den Glanz, in dem Abwesende erscheinen.

7.5.2010: Unangebunden durch den Tag trödeln, immer wieder dösen. Katzen tun das und manche Menschen auch.

6.5.2010: Liebe, eine Form des Einandergehörens.

5.5.2010: Im Grunde erstaunlich, wie jeder Mensch jeden Tag so vielen Dingen den Rücken zukehrt.

4.5.2010: Jemand, der beim Singen ganz in sich ruht. Klang und Stille in einem.

3.5.2010: Angenehm die sprechende Stille, die stillende Sprache.

2.5.2010: Kaum blühen die Kastanien in ihrer Kerzenpracht, taumeln die ersten Blüten hernieder, wischen beim Landen den Gartentisch mit ihrem Gefieder. Seid gegrüßt, Blütenlieder.

1.5.2010: Wie die Flieder fliedern, fliedern die Frauen.

30.4.2010: Augen, Lichttankstellen der Heiterkeit.

29.4.2010: So durch die Straßen gehen, daß alles, was an die Ohren dringt, zum Lied wird.

28.4.2010: Im Frühjahr in der Flußwasserallee ein Bad nehmen und in den Sonnenblitzen zu sich schwimmen.

27.4.2010: Das natürliche Morgenradio, das Gezwitscher aus der bewegten Blätterbox vor dem Fenster.

26.4.2010: Der Kuß ein Wort, das man nicht nur mit Augen und Ohren versteht.

25.4.2010: So sind die Wege hell und zart, unwiederbringlich wie Gedanken, wie das Leben.

24.4.2010: Pausen, die Quellen des Tages, des Tagens, des Lebens.

23.4.2010: Morgens, wenn nach dunkler Ebbezeit die Sonnenflut die Küste erreicht und den Träumenden aus seinen Träumen kitzelt, dann hebt sie an, leise und langsam, die Musik der Erzählung.

22.4.2010: Für Martin Heidegger ist der Wohnsitz des Denkens ein „Ort der Stille“; oder, wie Lena meint, ein „stilles Örtchen“.

21.4.2010: Das Kind in der S-Bahn sagte mir: Das Schöne am Glauben ist, daß man glauben darf und nicht wissen muß.

20.4.2010: So leben, daß eine schlüssige Folge entsteht, Harmonie der Handlungen.

19.4.2010: Auf der Fernreise, unternommen mit Landbummelzügen, die Landstriche nicht nur mit den Augen sehen, auch mit der Nase, wenn das Schiebefenster geöffnet ist: Geographie der Düfte.

18.4.2010: Meditieren, den Wortschatz verlieren, wortschatzlos sein, aufatmen.

17.4.2010: Liebe, für Liebende ein Anmutszeugnis.

16.4.2010: Die Kinder, mit ihren Schulranzen auf dem Schulweg, unterhalten sich und halten plötzlich inne, als eine Katze aus dem Gebüsch kommt. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich ganz auf sie; sie duzen sie („Du Süße!“). Kinder und Katze eine Familie.

15.4.2010: An den Flußschnellen innehalten, langsam werden, aufblitzen.

14.4.2010: Die Erde ist vielleicht nur das Irrenhaus im hintersten Winkel des Universums.

13.4.2010: Sich jemanden einverlieben.

12.4.2010: Im Wald der Gedanken die Lichtung finden.

11.4.2010: Natalia Lisboa: „Kinder, die einzigen Heiligen, an die man glauben möchte. In gewisser Weise tragisch: indem sie wachsen, verlieren sie ihr Heiligmäßiges und werden zu Normalsterblichen. Erwachsene, groß gezeichnete Karikaturen von Heiligen.“

10.4.2010: Jedes Gesicht ein kleiner Marktplatz der Gefühle, der Gespräche.

9.4.2010: Nachmittags wird der Waggon des Pendlerzugs zum rollenden Schlafsaal, von außen fließt Schattenlicht.

8.4.2010: Im Frühling ist jeder Baum ein Kreißsaal der Natur. In ihm kommen Scharen von Blättern zur Welt.

7.4.2010: In jedem Frühjahr, in jeder Gegend: die Suche nach den Weißdornbüschen.

6.4.2010: Natalia Lisboa: „TV, Abkürzung für Teufelsvisionen?“

5.4.2010: Mit dem Kopf durch die Regenwand gehen und sich so aufmöbeln.

4.4.2010: In gewisser Weise ist der Tod das Licht am Ende des Tunnels.

3.4.2010: Ihr Lächeln war ein offener Brief, den ich mit einem Kuß versiegelte.

2.4.2010: Etwas zu wünschen übrig lassen sollte man immer.

1.4.2010: Sich in den April schicken, wie einen Lehrling in die Lehre, die das Leben ihm erteilt.

31.3.2010: Es ist eine Religion vorstellbar, in der man die Null anbetet.

30.3.2010: Das Lächeln, ein Absagetelegramm an die schlechte Laune; damit sie sich verflüchtige und ihrer Schwester, der guten Laune, den Vortritt lasse.

29.3.2010: Aufstehen und sich in Frage stellen. Als wäre die Frage eine kalte Dusche, unter die man sich stellt und die einen rundum renoviert.

28.3.2010: Spielen, mit dem Leben spielen, das Leben verspielen, leben.

27.3.2010: Abstrakte und zugleich konkrete Gemälde stellt der Himmel aus.

26.3.2010: Den Frühling im Kopf erfahren.

25.3.2010: Sich einmal am Tag besuchen und nachsehen, wie es einem geht.

24.3.2010: Der Winter zieht im Frühling in Form der Bäche schmilzenden Schnees sich zum Sommerschlaf zurück. Die Bettdecke schmückt er mit Schneeglöckchen, Krokussen, Narzissen und bald mit der ganzen farbenfrohen Pflanzenwelt. Erst der Herbst reißt sie wieder weg, und der Winter wacht frierend auf und bereitet sich sein Flockenfrühstück.

23.3.2010: Natalia Lisboa schreibt: „In einem Antiquariat in Bologna fällt mir ein Buch eines gewissen Herrn Schleif in die Hände: Goethes Diener. Berlin und Weimar 1965. Man muß sie manchmal doch lieben, die Germanisten, daß sie es sich nicht nehmen lassen, auch den Dienern Goethes ein über dreihundertseitiges Werk zu widmen. Ich habe das Buch sogleich gekauft und auf der Zugfahrt durch die Apenninen im Speisewagen mit großem Appetit verschlungen.“

22.3.2010: Ein Tag, aus dem kein Nutzen gezogen wird und von dem vielleicht nur der Glanz einer Frühlingswolke bleibt, ist durchaus bewundernswert.

21.3.2010: Welchen Umweg nehme ich mir heute vor?

20.3.2010: Frühling, Kaffee für die Seele.

19.3.2010: Liebende: Menschen, die ineinander verschwimmen.

18.3.2010: Du schwebst über die Holzdielenäste hinweg, du lebst in einem Baumhaus.

17.3.2010: So wie ein Baum oder ein Haus, so hat der Mensch eine Wetterseite.

16.3.2010: Jeder ist ein Leibeigener. Aus der Tyrannei seines Leibes entflieht keiner.

15.3.2010: Aus dem Travel Book von Lea Odesa: „...auf der Glienicker Brücke im heftigsten Hagelsturm verfing sich eine Eisperle in meiner Ohrmuschel.“

14.3.2010: Hunde sind Wesen, die sich von Düften an der Nase herumführen lassen.

13.3.2010: Zeilen, buchstäbliche Linien.

12.3.2010: Ein Buch ist eine Art Baum mit vielen Blättern. Eine Bibliothek ist eine Form von Wald.

11.3.2010: Literatur, Heilland.

10.3.2010: Während die Haareabschneiderin einem die langen Haare abschneidet, sieht man im Spiegel verblüfft, wie auch das Alter von einem abfällt und ein junger Mensch zum Vorschein kommt.

9.3.2010: So wie der Berg ruft, Mutter, so horcht das Tal.

8.3.2010: Im Schlaf ist die Schläfe ganz bei sich.

7.3.2010: Es ist ein Gang, lang und zart, da Wege glänzen, und wo im Sturmwind Bäume tosen, beginnt der Augenschein der Liebe.

6.3.2010: In einer Talkshow mit Tieren gab es nur ein Thema: die Krise der Menschheit.

5.3.2010: Insofern wir nie selbst frei entschieden haben, ins Leben zu treten, sondern ins Leben gezwungen wurden, steht das Ganze unter dem Zeichen der Diktatur.

4.3.2010: Das Gesicht ein offenes Buch. Carl Apfelschnitz: „Manchmal sieht man da zwei Eselsohren.“

3.3.2010: Jedes Planetarium ist auch ein großes Sonnenstudio.

2.3.2010: Jeder neue Tag ist das Aufscheinen einer weiteren Seite im endlosen Journal des Kosmos. Menschen tauchen als Einträge darin auf und tauchen wieder unter.

1.3.2010: Im März ein Buch beginnen und es wie die Bäume machen: Blätter vermischten Inhalts hervortreiben.

28.2.2010: Liebe ist die erregende Erscheinungsform der Weisheit.

27.2.2010: Die Geburt des Lichts, jeden Morgen eine bewegende Einladung zum Leben.

26.2.2010: Jeder Grabstein ein einmaliges Buch, jeder Friedhof eine Präsenzbibliothek.

25.2.2010: Ein inneres Lakonien erschließen und entsprechend lakonisch den Irrnissen der Welt begegnen.

24.2.2010: Nicht die Spur haben, ein Entdecker sein.

23.2.2010: Der Schädel beherbergt ein Kaffeehaus, in dem geschwätzt, geschwiegen, angebandelt, Handel getrieben und geschlafen wird. Nachmittags spielt einer am Flügel.

22.2.2010: Feinselig sein.

21.2.2010: Die länger werdenden Tage pflügen den Winter unter.

20.2.2010: Mit Federn schreiben, beflügelt sein.

19.2.2010: Das Geheimnis gelingenden Lebens liegt in der Einteilung der Kräfte.

18.2.2010: Spinn den Gedanken, wie einen Faden, und rett dich an ihm aus dem Labyrinth der Irrtümer.

17.2.2010: Ich gehe spazieren in den wüsten Ebenen der Mark. Ein Bussard erscheint in den Lüften und flattert aufreizend langsam, als würde er nach dem Mittagessen ein wenig spazieren fliegen. Er, der fliegende Sarg einer Maus.

16.2.2010: Mit den Kindern schaukeln und erfahren, wie Freude mitschwingt.

15.2.2010: Das Reizende an der Schreibmaschine ist, daß man während des Tippens schon ausdruckt.

14.2.2010: Wenn jedes Dorf einen Trottel hat, dann hat jede Stadt viele Trottel.

13.2.2010: Jemand, der das Gefühl hat, er warte sein ganzes Leben auf etwas; der aber nicht erfährt, worauf. Alles, was er tut, erscheint ihm als eine Nebenbeschäftigung des Wartens.

12.2.2010: Siehst du die Spatzen flattern gleich Frühlingsideen?

11.2.2010: Jeder Tag ist eine Weltpremiere.

10.2.2010: Der Mensch gleicht einem Buch mit Druckfehlern.

9.2.2010: Ein guter Satz bemäntelt die Leere.

8.2.2010: Tagesgeldkonto: 24 Stunden. Wieviel Zeit gibt man wofür aus? Was läßt sich für eine Stunde kaufen?

7.2.2010: Der Regen ist die Niederkunft der Wolken.

6.2.2010: Das Ideal, Vernunft und Leidenschaft in sich vereinen.

5.2.2010: Sich Satz für Satz dem Ungeschriebenen nähern.

4.2.2010: Nein sagen können ist das Allerschwierigste. („Nein, das stimmt nicht.“)

3.2.2010: Die gläubige Frau trägt einen durchsichtigen Schleier. Sie glaubt an den Gott Eros.

2.2.2010: Ob es noch andere gibt, die Zeitungsartikel von hinten nach vorne lesen?

1.2.2010: An Brecht. Das Fressen ist die Moral.

31.1.2010: Wer ein unbeschriebenes Blatt ist, mag sich fragen, was er darauf schreiben soll.

30.1.2010: Von allen Kleidungsstücken ist die Schlafmütze das komischste.

29.1.2010: Ohne die morgendliche Tasse Kaffee würde die halbe Menschheit den Löffel freiwillig abgeben.

28.1.2010: Sich von der Vernunft anstecken lassen, als wäre sie ein Lachen, das freieste der Welt.

27.1.2010: So leben, daß sich ein Tag auf den anderen reimt.

26.1.2010: Jemanden ernst nehmen, weil er sich spielerisch benimmt.

25.1.2010: Die unverderblichen Bücher der praktischen Philosophie sind Kochbücher.

24.1.2010: Liebe ist eine Art Brennstoffhandel.

23.1.2010: Im Paß jedes Menschen steht: episches Fragment.

22.1.2010: Im Meer, zart, nah und hell, schwimmen die Liebenden ihrem Stranden entgegen.

21.1.2010: Am Strand jedes Mal dieses ausufernde Gehen.

20.1.2010: Im Kino sitzend einen Aktionsfilm sehen ist etwa so, wie wenn ein Steinzeitmensch in seiner Höhle sitzt und ein Gewitter vor dem Höhlenausgang niedergehen sieht.

19.1.2010: Die Photographin, Frau Sonne, lichtet die Erde ab. Tage sind Lichtbilder.

18.1.2010: Auf der Schwelle tanzen, wenn man das Haus verläßt.

17.1.2010: Wo ist die Katze? – Ich hör draußen ein Singen. – Ah, Katzenoper.

16.1.2010: Das gute Leben besteht aus einer Reihe von belebenden Illusionen.

15.1.2010: Tritt nach dem Sozialismus und nach dem Kapitalismus der Bummelantismus auf den Plan? Bummelantismus – das präzise Bummeln durch den Parcours der Pflichten; der Bummelant bummelt liebenswürdig seinem Ende entgegen, das noch immer früh genug kommt.

14.1.2010: Aus dem Tag eine Installation flüchtiger Gesten, Worte und Handlungen machen.

13.1.2010: Jungfreulich sein, gerade wenn man älter wird.

12.1.2010: Von den unzähligen Erfahrungen ein paar mit nachhause bringen und von ihnen erzählen.

11.1.2010: Das Kunstwerk, ein Streichholz, das im Auge des Betrachters zündet.

10.1.2010: Draußen unter die Schneeflockendusche springen.

9.1.2010: Am Abend in der Wohnung Kehraus machen. In der ausgekehrten Wohnung schlafen gehen. Am nächsten Morgen aufgeräumt erwachen und sich Schritt für Schritt die Welt einverleiben.

8.1.2010: Produktive Tauschwirtschaft – ausgehen und Küsse tauschen.

7.1.2010: Sorgen, die eisigen Gitterstäbe der Alltagszelle. (Sie schmilzen im Sonnenschein des Lächelns.)

6.1.2010: Die drei Weisen Frauen aus dem Abendland, Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe.

5.1.2010: Musik, tönende Brücke zwischen den Menschen.

4.1.2010: Morgens aufwachen, wach sein, Wache schieben, beim Schieben der Schütze sein, der die Burg des eigenen Leibes schützt.

3.1.2010: Im Lachen, im Innern liegt des Lebens Erinnern.

2.1.2010: Lea Odesa in einem Billett: „In der Ebene vor dem Gebirge wirbelt der Meereswind Schneewolken auf, mit tosendem Pfeifen, und treibt sie zu den Steilwänden. Inmitten des Schneetreibens umherirrend, begegnet mir, wenige Schritte entfernt, ein zitternder Wolf, dessen Fell von vereistem Schnee bedeckt ist. Ohne innezuhalten blickt er mit hängender Zunge zu mir her und zeigt mir den Weg zur Küste.“

1.1.2010: Sich morgens ins Zeug legen, sich abends ins Bett legen.

31.12.2009: Jedes Jahr in einem anderen Dorf wohnen, im Dorf mit der Nummer 2009 oder mit der Nummer 2010. Zwischen den Jahren, das ist die Zeitspanne, die der Umzug von einem Dorf ins andere Dorf benötigt. Menschen, Zeitdorfbewohner.

30.12.2009: Der Handschellenspaziergang ist der Spaziergang, bei dem der Spaziergänger seine Arme auf dem Rücken hält und mit einer Hand ein Handgelenk umklammert. Es ist dies der Spaziergang der Muße und der Freiheit.

29.12.2009: Kleine Vögel, für Katzen flatternde Pralinen.

28.12.2009: Natalia Lisboa schreibt: „Im Traum begegnete mir im Felsenwald oberhalb von Sintra eine Ameise, und die sagte: Humor und Aufmerksamkeit sind die beiden Schlüssel, die du benötigst, um in den Festsaal der Freude Einlaß zu finden.“

27.12.2009: Das Leben ist manchmal wie eine verstellte Jukebox. Du entrichtest brav deinen Obolus, und sie spielt das falsche Lied.

26.12.2009: All die Wege, die du im Leben gehst, alle Schleifen und Geraden, alle Pirouetten und Hüpfereien, ergeben eine autobiographische Schrift.

25.12.2009: Was ist ein Geburtstag anderes als ein Tag, an dem etwas mutmaßlich schönes geboren wird, ein Gedanke zum Beispiel, der zu Herzen geht, ein Bild, das einen Weg aufzeigt, ein Mensch, der markerschütternd zum Himmel kräht, oder ein Anflug von Liebe, der den eigenen Sinn beflügelt und beschwingt?

24.12.2009: Siehst du die Vögel überm Tal? Sie kennen den Weg ins Weite, ihren einzigen Weg, und doch verabschiedet sich jeder von ihnen, wenn es Zeit ist, aus dem Zug, schert aus den Lüften aus und landet für immer.

23.12.2009: Musik des schmilzenden Schnees in der Dachrinne.

22.12.2009: Das sonnengeflutete schneeweiße Land. Der Fluß führt Eisinseln mit sich, auf denen Krähen landen.

21.12.2009: Sich erinnern, im Geäst der eigenen Geschichte klettern.

20.12.2009: Das Leben, ein Festspiel. Ein grausames auch.

19.12.2009: Tagsüber wachwandeln. Nachtsüber schlafwandeln.

18.12.2009: Nichts für ungut! ist durchaus eine hintergründige, rätselvolle Redewendung.

17.12.2009: Tagtraumhaft handeln.

16.12.2009: Gibt es nicht in der Weise, wie es Schulschwänzer gibt, ebenso Lebensschwänzer? Die wollen nicht auf die Schule des Lebens gehen, diese ewige Ganztagsschule, und schwänzen lieber den lieben Tag lang in der Gegend umher.

15.12.2009: Für Königsberger Kinder. Vor der Wand wandern. Auf dem Land landen. Im Sand versanden. Mit Kant an der Waterkant Bekanntschaft schließen.

14.12.2009: Die moderne Dusche, Erfindung des heißen Regens, den man sich gefallen läßt.

13.12.2009: Die blaue Stirn des Morgens. (Auf ihr die blonde Locke des Monds.)

12.12.2009: Ihr hilfreicher Irrtum bestand darin, sich jeden Tag in den Straßen zu verirren. Erst wenn sie nicht mehr weiterwußte, fühlte sie sich in der Welt zuhause.

11.12.2009: Die Sonne floriert am Winterhimmel, und im stillen Seewasser verschwimmt eine blaßgelbe falsche Blüte.

10.12.2009: Willst du Honig schlecken, so bebiene dich beizeiten.

9.12.2009: Die Tochter, vorm Spiegel sich drehend, sagt zu ihrer von der Tür aus sie beobachtenden Mutter: „Ich finde, daß ich gut aussehe, sehr gut sogar, aber ich stehe nicht auf mich, ich bin einfach nicht mein Typ!“

8.12.2009: Staaten kennen ein Bleiberecht, das Leben nicht.

7.12.2009: Sternenweltall nachts, Schneeflockenkristall tags.

6.12.2009: Regen, Tau der Wolken.

5.12.2009: Lastwagenameisen auf der Autobahn.

4.12.2009: Die Sonne steigt wie ein gerundeter Gedanke am Horizont belebend auf.

3.12.2009: Im Moment des Augenschließens am Abend rundet sich der Tag.

2.12.2009: Gespannt sein, wohin die Narretei des Lebens dich führt.

1.12.2009: Das Ende des Tages mit seinem Anfang verbinden und sich so seines Lebens Laufs inne werden.

30.11.2009: Ist nicht jeder neue Tag ein Neuland, das es zu erobern gilt?

29.11.2009: Natalia Lisboa: „In den Gärten von Sintra verlebte ich den Tag, jetzt ist es Abend, und ich sende einen Gruß.“

28.11.2009: Lachen und Weinen bilden ein Gesangsduett.

27.11.2009: Natalia Lisboa: „Den Horizont der Ebene im Blick, kundschafte ich ihre Mitte aus.“

26.11.2009: Die erste Handtasche, die zu einem Behältnis geformte Hand.

25.11.2009: Beim Spazierengehen die einzelnen Schatten sehen, als wären sie Gemälde eines Freilichtmuseums.

24.11.2009: Sich selbst bestätigen, als wäre man ein Existenzbeamter, der sich jeden Tag die eigene Existenz mit einem Stempel bestätigt.

23.11.2009: So leben, daß am Abend der Tag dich lobt.

22.11.2009: Jeden Tag zu einem lebenden machen, indem man selber tagt.

21.11.2009: Sie verletzte sich im Gehen. Er sprach verbindliche Worte, stillte das Blut ihres Jammers, und so ging es weiter.

20.11.2009: Sich lichten, jeden Tag, auch im Dunkeln. So lange gehen, bis die Sonne der Aufmerksamkeit erscheint.

19.11.2009: Der hochrote Horizont, Gebirge aus Licht.

18.11.2009: Die Schrift ist das schmuckste Kleid des Menschen. Sie entblößt ihn auch.

17.11.2009: Ihre Tränen verglühen, gebirgsbachflink, im Schein der abendlichen Sonne.

16.11.2009: Die Eltern wußten nicht, was aus ihrem Jungen werden sollte. Was willst du werden? fragten sie ihn immer wieder, doch er antwortete nie. Eines Tages sagte der Vater zur Mutter: Wir müssen die weise Frau holen, die weiß doch sonst immer alles. – Ja, hol sie nur, sie wohnt ja gleich nebenan. Und so kam die weise Frau und ging in das Zimmer des Jungen. Hallo, mein Junge, deine Eltern schicken mich, weil ich herausfinden soll, welchen Beruf du ergreifen möchtest. Also frage ich dich: Was möchtest du einmal werden? Der Junge schwieg. Er schwieg fünf Minuten und hätte sicher noch länger geschwiegen, wenn die weise Frau nicht gesagt hätte: Ah, ich verstehe, das ist ein sehr schöner Beruf, ich gratuliere dir. Nun wünsche ich dir alles gute, auf Wiedersehen, mein Junge. Sie ging in die Küche, wo die Eltern auf sie warteten, und lächelte: Euer Sohn möchte Zungenhüter werden!

15.11.2009: Wie Seevögel in Gedanken über die Küste sausen.

14.11.2009: Von allen Wörtern überholt, blieb sie im Schweigen stecken und sah die Landschaft wortlos sprechen.

13.11.2009: Umhülle die aufwärts schwebenden Gedanken mit einem Nylontuch; mit diesem Ballonschiff fahre über Städte und Länder.

12.11.2009: Es sollte in deutschen Landen mehr Läden mit biologisch angebauter Literatur und Philosophie geben. In ihnen wären fast nur immergrüne Klassiker mit ihrem unbegrenzten Haltbarkeitsdatum im Angebot. Bei dem meisten Zeug, das in den üblichen Läden ausliegt, handelt es sich um giftige, schnell verderbliche Ware. Es wundert einen, daß an ihren Eingängen keine Warnhinweise angebracht sind. Giftlokal. Zutritt erst ab 18 Jahren. Oder: Das Lesen der meisten hier ausliegenden Bücher gefährdet Ihre natürliche Klugheit, verletzt Ihre Menschenwürde und vergewaltigt Ihr Schamgefühl. Die Tatsache, daß in Deutschland alles in allem doch recht wenig gelesen wird, ist eigentlich ein gutes Zeichen.

11.11.2009: Der Gesang der Dämmerung morgens, in aller Stille, führt dich aus dem Höhlenlabyrinth der Träume ans Lichtermeer des wachen Lebens.

10.11.2009: Von ihm wußte man nichts, außer: daß er ein großer Fußgänger war.

9.11.2009: Carl Apfelschnitz kritzelt beim Lesen der Ilias eine Randbemerkung über die Teichoskopie (Mauerschau) in sein Notizbuch: „Um das Leben verläuft eine Mauer. Die hat Öffnungen für vielfachen geregelten Grenzverkehr, für Wareneingang und -ausgang. Fällt sie, dann löst sich das Leben auf.“

8.11.2009: Gefühle sind auch Lebenstemperaturmesser.

7.11.2009: Gibt es im Universum noch weiteres intelligentes Leben? Gibt es im Universum überhaupt intelligentes Leben?

6.11.2009: Das Kind schreitet mit dem Regentropfen in der Hand vorsichtig über die Straße.

5.11.2009: Mit jedem Neugeborenen wird das Gesicht der Zeit geliftet.

4.11.2009: Sich angesichts des Meeresspiegels selbst erkennen.

3.11.2009: Jemandem den Prozeß machen? Lieber selber ein Prozeß sein.

2.11.2009: Sich durch die Stadt bewegen wie ein extraterrestrischer Besucher.

1.11.2009: Im Herbst die Küsse des Sommers zusammenkehren.

31.10.2009: Vor dem Erwachsenengarten warten die Kinder auf ihre Eltern, die jeden Moment herauskommen müßten.

30.10.2009: Die Würde des Tiers ist unantastbar.

29.10.2009: Jeder Mensch ein Wirt; Wirt seiner Wirtschaft, seines Organismus.

28.10.2009: Inniger als jeder Mundkuß ist der Kuß der Augen; er überbrückt die Ferne und belebt den verborgenen Geist.

27.10.2009: Der Herbst, die Zeit, da die Blätterdachziegel über die Straßen flattern.

26.10.2009: Morgens vorm Wörterschrank stehen und sich fragen, was man heute anzieht.

25.10.2009: Die Tatsache, daß gewisse Tiere „Berufe“ ausüben, Pferde, Hunde und Tauben die des Kutschenziehers, Blindenführers und Briefträgers, wirft auch arbeitsrechtliche Fragen auf. Welche Form von Gehalt, das über das Futterbereitstellen hinausgeht, wird den Tieren ausbezahlt? Haben sie Anspruch auf einen wöchentlichen Ruhetag? Können sie bezahlten Urlaub nehmen? Beziehen sie im Alter Rente?

24.10.2009: Der kleine Sohn sagt: „Ich möchte Harlekind sein.“

23.10.2009: Der Tisch, ein in die Luft gestelltes Stück Parkettboden.

22.10.2009: Natalia Lisboa: „Endlich sagte jemand mal: Verstehen Sie mich bitte falsch.“

21.10.2009: Durch die Welt gondeln als wäre sie eine Geisterbahn auf dem Wurstelprater des Universums.

20.10.2009: Ein Buch lesen, in dem der Leser wie in einem Raumschiff schwebend auf den Wellen des Äthers zuhause ist.

19.10.2009: Jeden Morgen prägnant werden und nach neun Stunden mit einer zum Himmel schreienden Erkenntnis niederkommen.

18.10.2009: Das Lächeln des Mädchens im Frühlingshain seiner Gedanken.

17.10.2009: Die Utopie, Halluzination am Horizont.

16.10.2009: In der Dunkelkammer des Tiefschlafs werden Traumbilder entwickelt.

15.10.2009: Lebenskunst. Jeden Morgen bereit sein für den Hokuspokus der Welt.

14.10.2009: Ideal: Bei der Weltmeisterschaft im Schweigen einen Spitzenplatz erobern.

13.10.2009: Welches Mittel hilft gegen Weltschmerz? – Liebe, viel Liebe.

12.10.2009: Die Schule ist auch eine Art Gefängnis, in das Kinder halbetageweise eingesperrt wird.

11.10.2009: In einem Atemzug die Welt bereisen. In der sterblichen Klasse.

10.10.2009: Sie hatte gerade nichts zu lesen bei der Hand, deshalb las sie aus der eigenen, erst aus der linken, dann aus der rechten.

9.10.2009: Sich selbst entziffern wie ein korruptes Papyrusfragment.

8.10.2009: Philosophieren heißt immer auch, nicht bei Trost sein.

7.10.2009: Jedes Kruzifix stellt hinterrücks die Kreuzigung eines Baumes dar.

6.10.2009: Zeit der Kastanienmehlstraßen. Zeit des verschwimmenden Blaulichts am Horizont. Zeit der magnetischen Äpfel, in der Sonne glänzend – Goldreserven für den Winter.

5.10.2009: Auf dem Friedhof eine junge Familie, die im Gieskannenbrunnen badet und sich wäscht.

4.10.2009: Vielleicht wird es eines Tages in den Zeitungen nicht nur Todesanzeigen für Menschen geben, sondern auch für Haustiere wie Hunde, Katzen, Vögel. Aber damit das geschieht, müßte erst der fabrikmäßige Massenmord an Tieren wie der an Hühnern, Schweinen und Kühen als Mord ins allgemeine Bewußtsein dringen.

3.10.2009: Der Fluß strömt zwischen brennenden Ufern. Es sehnen sich die Flammen, über den Fluß hinweg sich zu vereinen. In der Umarmung erlischt ihr Verlangen.

2.10.2009: Wie der Wind jeden Morgen in den Urdokumenten blättert und vom Blatt singt wie kein Zweiter.

1.10.2009: In der Erkenntnis von heute den Irrtum von morgen erkennen.

30.9.2009: Rita, in einem Billett an ihre Mutter Natalia L.: „Unter dem blauen Himmel deines Herzens ist gut sein.“

immel deines Herzens ist gut sein.“

29.9.2009: Der Mund ist ursprünglich, und noch heute, vor allem für die Nahrungsaufnahme da, nicht für das Sprechen. Das Küssen ist, insofern es eine Ableitung des Saugens darstellt, eineuc der Ernährung.

28.9.2009: Einmal am Tag zum Fluß gehen und sehen, daß alles fließt.

27.9.2009: Abends sich bei sich selbst bedanken für den schönen Tag.

26.9.2009: Der Applaus, den ein Musiker vor und nach seiner Aufführung erhält, ist der Rahmen, der sein Klanggemälde umgrenzt.

25.9.2009: Manche Kirche, die gotische besonders, magst du Waldkirche nennen. Als wäre sie ein Heiliger Hain. Du möchtest dies auch deshalb tun, weil ihre Säulen in dir den meist unbewußt bleibenden Eindruck erwecken, in einem alten Wald zu stehen. Als säßest du am Fuße mächtiger Stämme. Jenes Licht, das durch die Scheiben fallend gesiebt zwischen Säulen funkelt, mag, gleichsam unbewußt, an das „Herbstlicht“ erinnern, wie es Hermann Lenz in seinen Erzählungen beschrieb. Es ist das Licht im September, und im Oktober noch, das abgeflacht die hügelige Landschaft erleuchtet und zwischen Bäumen und Häusern liegt wie ein fadenscheiniger Teppich aus seidenglänzendem Gold.

24.9.2009: Es gibt Menschen, die gehen ins Kino wie in eine Kirche.

23.9.2009: Das Bett: Start und Ziel / im Lebensspiel.

22.9.2009: Morgens aufwachen und sich wie ein junger Vogel fühlen, den es in eine fremde Weltgegend verschlagen hat.

21.9.2009: Auf Weltreise gehen, jeden Morgen.

20.9.2009: In der Zwischenzeit, dieser seltsamsten aller Zeiten, das Leben nicht versäumen.

19.9.2009: Der Ruf der Seemöwen ruft einen, scheint es, dazu auf, Verdrießlichkeit Verdrießlichkeit sein zu lassen und lieber im scharfen Wind der See wie sie die Flügel zu spannen und ins Blaue zu segeln.

18.9.2009: Eine Zeile, eine Weile lang das Leben einfangen mit seinem Glanz und seinen stillen Inseln.

17.9.2009: Natalia Lisboa: „Er sagte nur ein Wort, und eigentlich sagte er nicht einmal das. Er schwieg. So beeindruckte mich das Wort, das er nicht sagte, noch mehr. Ich ging lang im Wald, die Eichen rauschten. Als ich an die Küste kam, war die See still; auf dem Spiegel blitzte die Sonne. Da fiel mir das Wort, das er nicht sagte, ein, und ich ging baden.“

16.9.2009: Am Morgen das Licht hören als wäre es ein Bach, und dann am Bach entlang durch den Tag wandern.

15.9.2009: Natalia Lisboa: „Das empfindsame, unverwelkte Flüstern der Blätter im frühen Wind der aufgehenden Sonne erinnert mich an die Zeit der Kindheit, in der zwischen der Welt der Wirklichkeit und der Welt der Bücher keine Grenze lag. Beide Welten waren eine, sie gehörten zusammen. Ich lebte in einem Reich aus zwei Welten, ohne es zu wissen. Als ich Jahre später erkannte, daß es zwei Welten sind, aus denen mein Reich bestand, war die Kindheit vorüber.“

14.9.2009: Hinausgehen und Farben betrachten, etwa das Rot der Hagebutten.

13.9.2009: Im Bett liegen, in einem Bachbett, und das Traumwasser sehen, das über dich hinwegfließt.

12.9.2009: Der Spiegel, unbestechlicher Begleiter des Menschen.

11.9.2009: Poesie: die Hoffnung ins Land der Zitronen ziehen lassen, dafür im Norden Zeit haben für das dich aufmöbelnde Meeresschaukeln.

10.9.2009: Natalia Lisboa: „Wäre das Leben doch nur ein Kinderspiel!“

09.09.09: In der Frühe die Wellen, die hellen im Licht, flüstern, lüsterner Schaum. Hoch überm Küstensaum sagt Ciao der Morgenstern, für traumverschleierte Augen sichtbar kaum. Die Rehe treten aus dem Sanddorn, streifen Tau sich auf die Flanken, preschen über den Strand und stolpern vor Freude, Leute.

8.9.2009: Weich, hell, zart, das Reh der Gedanken tritt leise durchs Gebüsch.

7.9.2009: Wellenschaukelliegestuhl.

6.9.2009: Mißt sich das Gewicht der Vernunft nach dem Gewicht des Atems?

5.9.2009: Natalia Lisboa: „Liebe, sich gegenseitig elektrifizieren.“

4.9.2009: Dichten, mit dem Stift schlafwandeln.

3.9.2009: Der Schlaf eine Art Meer, in dem du jeden Abend unbewußt versinkst. Die morgendlichen Träume, vielleicht rühren sie von den Begegnungen im Wasser her, während der Schlafende langsam an die Oberfläche des Tages taucht. Das Aufwachen das Stranden auf dem Sand des Küstensaums. Der wache Tag: ein Landgang. Bis es am Abend zurückgeht an den Strand und in den Schlaf.

2.9.2009: Abendkino. Die Menschen, die kurz vor Sonnenuntergang den Strand betreten und im Sand stehend und sitzend still den Blick auf die große Leinwand Himmel richten.

1.9.2009: Frauen, die von der Sehnsucht umspült im Strandbett den Sonnenuntergang erfahren.

31.8.2009: Wellness Wellenbad.

30.8.2009: Strandleben, je länger man hinschaut: ein Stilleben.

29.8.2009: Was das Salz für das Wasser des Meers ist, ist die Sehnsucht für das Feuer der Liebe.

28.8.2009: Der Tag, ein vieles in sich bergendes offenbarendes Meer.

27.8.2009: Attraktionen am Strand, wogende Wellenberge, die alle hinwegtragen.

26.8.2009: Zwischen den Zeilen des Meers lesen.

25.8.2009: In den Zimmern der Zeit den Tag verleben. Sie sind nicht gleich groß.

24.8.2009: Ostsee. Die Sandburgmauern und die Wind- und Blickschutzzäune: innerdeutsche Grenzanlagen.

23.8.2009: Natalia Lisboas Tochter Rita: „Aber wer sagt denn, daß man Haustiere duzen darf?“

22.8.2009: Sich jeden Werktag einen Reim auf sein Tagwerk machen. (Am Feiertag steht nur eine ungereimte Tagfeier auf dem Programm.)

21.8.2009: Natalia Lisboa: „Von meiner Londoner Zeit habe ich vor allem eins in Erinnerung: Tee im Regen am Trafalgar Square.“

20.8.2009: Junge Frauen am Strand, die längst nicht mehr mit Puppen spielen, die selbst wie große Puppen wirken.

19.8.2009: Das Meer, dieses wechselhafte Fresko aus Farbe, Bewegung, Licht.

18.8.2009: Sich sein Staunen ausschlafen.

17.8.2009: Wenn die Tochter des Hauses die Nachbarin grüßt, so frisch, frei, fröhlich, als wäre das Guten Morgen die selbstverständlichste Arie, die Menschen über die Lippen erschallen lassen, dann geht eine Sonne auf, mögen die Wolken noch so düster und zerrissen über die nahen Berggipfel schleichen.

16.8.2009: Der Surrealismus ein Strandphänomen, wenn unter dem blauen Himmel, bei leichtem Wind, das getäfelte Meer bis ins Unendliche führt, im geschwängerten Licht die Badenden verschwimmen, die Wellen zersplittern und über den Sand hinwegschäumen.

15.8.2009: Natalia Lisboa: „Wir gingen an den Strand des Meers, der sich hinter dem Haus öffnete. Die vor Stunden noch fauchenden Wellen waren jetzt ruhig. Die ungewohnte Stille war der Spiegel, in dem wir uns endlich erkannten.“

14.8.2009: Frage am Abend: Was hast du heute gegen den Schmerz in der Welt getan?

13.8.2009: Meditieren am Meer. Die aufgewühlten Wellen die Mantras, die das Bewußtsein ausfüllen. Der Meditierende verwandelt sich in das Branden, Tosen, Rauschen und Fauchen selbst.

12.8.2009: Hafen, abfahrendes Schiff, winkende Menschen. Dieses Trennungswinken ist in gewisser Weise ein anrührendes Zeichen, das sich Menschen geben. Anrührend, weil das Winken das Wissen verwischt wie auch zugleich hervorkehrt, daß jedem und allen eine große Trennung bevorsteht, die über die kleine Trennung mit dem Schiff weit hinausgeht.

11.8.2009: Ins Blaue hinein, auch ins Graue, schreiben (errötendes Tun).

10.8.2009: Das rhythmische Anklatschen der Wellen, akustische Einschlafmassage.

9.8.2009: Die Stärken stärken und die Schwächen schwächen.

8.8.2009: Was sind die Wahrzeichen deines Lebens?

7.8.2009: Natalia Lisboa: „Selbst Gott kann sich nur verständlich ausdrücken, wenn er die Grammatik beherrscht. Noch vor dem Wort Gottes steht die Grammatik.“

6.8.2009: Das Leben, eine schöne Bescherung.

5.8.2009: Das älteste Epos der Welt, das menschliche Gesicht.

4.8.2009: Natalia Lisboa: „Die eigene moralische Redlichkeit – welch flüchtiges Phänomen. Jeden Morgen erfolgt der Ruf an den Tatort des Alltags, und du mußt sie neu beweisen.“

3.8.2009: Rose, farbige Jahreszeitengefährtin.

2.8.2009: Wellen der Berge, die Trauben mundbar wie je die Früchte des Paradieses.

1.8.2009: Eine Bekanntschaft schließen und eine Freundschaft eröffnen.

31.7.2009: Die heißen Sommerstürme, von wehendem Klang, unerfindlich in ihrer Trauer, stimulieren Tagträume des Friedens.

30.7.2009: Am Strand von Havanna dieses junge wilde Genie, in dem der göttliche Funke lebt. Der Funke ist sein Herzschlag der Rücksichtslosigkeit.

29.7.2009: Zeichnen, ein Sprechen in der Stille.

28.7.2009: Am Strand am Meer versanden die Meinungen.

27.7.2009: Glück ist das, was einem glückt.

26.7.2009: Natalia Lisboa, in einem Billett seufzend: „Ich leide an meinen schlaflosen Tagen.“

25.7.2009: Das Gewitter ein wüstes Gedicht des Himmels, verfaßt in einer fürchterlichen Handschrift.

24.7.2009: Die Vergeßlichkeit der jungen Frau: als die Ampel auf grün springt, bleibt sie stehen, ihr Schwerpunkt in der Hüfte und ihr Blick an eine Wolke geheftet.

23.7.2009: Sie studierte jeden Morgen Seekarten und hörte die Wellen rauschen.

22.7.2009: Die Müdigkeit, Dämmerung des Wachseins.

21.7.2009: Unter Menschen kommen, unter die Räder kommen.

20.7.2009: Morgentau, auf dem Handrücken zitternd.

19.7.2009: Torjubel, wenn der Ball im Netz der Erkenntnis zappelt.

18.7.2009: Poesie: Übergänge schaffen. Von hier nach dort. Aus der Lähmung ins Beflügeltsein. Vom Land an die See.

17.7.2009: Liebe: empfänglich sein für die Sätze aus der Enzyklopädie des Entzückens.

16.7.2009: Den Tag begehen, geradewegs auf einer krummen Linie.

15.7.2009: Schwangerschaft, eine Art Textinterpretation.

14.7.2009: Er studierte Landkarten, auf denen Ameisenwege verzeichnet sind.

13.7.2009: Natalia Lisboa an Carl Apfelschnitz: „Wenn du müde bist und niedersinkst, blaß, mit geschlossenen Augen, bist du doch ganz da, draußen, mitten im Leben, ein Inbild der Zerbrechlichkeit.“

12.7.2009: In Erinnerung grabend, im Schutt der Zeit, fand sie das Troja ihrer Kindheit.

11.7.2009: Natalia Lisboa schreibt: „Die Schweißperlen auf dem Angesicht des geliebten Menschen: schlechthin unbezahlbare Perlen.“

10.7.2009: Beugsam sein und sich zum Beispiel am Strand beugen und Bernstein finden.

9.7.2009: Bach-Suite, das ist für die Kinder eine Naturwanne des Katzenbachs, in dem sie den lieben langen Tag lang baden, tauchen, spielen.

8.7.2009: Die Spiritualität der im Sommer abgedunkelten Wohnung. Des Baums Flirren dringt auf Schmetterlingsflügeln durch die Ritzen der Jalousien.

7.7.2009: Marines Make-up. Sie bewegt sich in dieser weichen, salzigen Luft am Strand und bemerkt nicht, wie ihre Maske sich löst und ihre Schönheit zu Tage tritt.

6.7.2009: Die utopische Pflanze. Am Strand sagt die junge, große Frau, und sie sagt es zurückgeneigt und zugleich das Meer fest im schwebenden Blick: „Von der Ewigkeit gehen so viele Reize aus.“ Ihr Strandnachbar ist von dieser Äußerung betört, er kann sie nicht verstehen, und so gibt er sich der Vorstellung hin, die Frau neben ihm sei eine utopische Pflanze, die es an den Strand verschlagen hat.

5.7.2009: Nachts auf der Wiese am Fluß sich in den Mond legen.

4.7.2009: Eine Art Musik. Mit leeren Händen kommen, mit leeren Händen gehen, den Kopf voll Flausen und das Herz voll Liebe.

3.7.2009: Im Schatten gemeinsam rastend: Mensch und Ameise.

2.7.2009: Rote Mohnblumen, blaue Kornblumen, diese kleinen Blütenboote segeln zu Tausenden übers wogende Feldmeer.

1.7.2009: Helligkeit, Mysterium der Zartheit.

30.6.2009: Mozartklänge, Ballerinas für Ohren.

29.6.2009: Der Weisheit erster Schritt ist das Staunen. Der letzte: das Staunen mit Humor verbinden.

28.6.2009: Der Stift ein Dirigentenstab, der die unsichtbare Stimme sichtbar macht.

27.6.2009: Die Zeiten, die man erlebt, sind die Zeilen des Lebens, des Buchs, das man ständig wird, ein rauschender Baum in der Landschaft.

26.6.2009: Der Traum, eine Allee in den Morgen.

25.6.2009: Sich bewegen lassen von dem Weg, in dem man aufgeht. Sich beeinflussen lassen von dem Fluß, in den man eintaucht. Sich bestimmen lassen von der Stimme, in die man sich einhört.

24.6.2009: Jeden Morgen den Lustgarten des Alltags betreten.

23.6.2009: Liebe ist das unsichtbare Fahrwasser, das einen ans Ziel träumt.

22.6.2009: Liebe ist die Zeit, in der Menschen ihre Flügel wieder fühlen.

21.6.2009: Zu jedem Schritt, den du tust, mag die Liebe beitragen; sie ist der Geheimschlüssel des Tags.

20.6.2009: Liebe ist der Ort, an dem Sterne geboren werden.

19.6.2009: Sich aufbäumen, weil kämpfen Kraft gibt.

18.6.2009: Sich amüsieren, weil es nichts zu lachen gibt.

17.6.2009: Sich öffnen, weil man eine Blume ist.

16.6.2009: Sich deuten, weil man ein Gedicht ist.

15.6.2009: Sich aufgeben, weil man ein Brief ist.

14.6.2009: Sich dem Himmel entgegen drehen, weil man von der Erde genug hat.

13.6.2009: Sich benehmen, weil man vergeben ist.

12.6.2009: Sich mit sich anfreunden, weil man sich fremd ist.

11.6.2009: Sich finden, weil man verloren ist.

10.6.2009: Sich lösen, weil man ein Rätsel ist.

9.6.2009: Liebe = Ermutigung erfahren.

8.6.2009: Sich mit einem Gedanken tragen, sich in die Welt hinaus- und in die Geborgenheit hineintragen.

7.6.2009: Als die Frau die Felle wegschwimmen sieht, atmet sie auf.

6.6.2009: Liebesflüstern, Herzkammermusik.

5.6.2009: Die Sehnsucht, die einem Beine macht, brandet am Horizont der Welt, in deinen Augen.

4.6.2009: Heimat, ein Potemkinsches Dorf.

3.6.2009: Die Ameise macht es sich im Gehäuse des Apfels bequem, legt sich hin und schläft.

2.6.2009: Jeden Tag Herz genug haben für eine nicht ungute Tat.

1.6.2009: Besuch jedes Tal, geh in jede schmutzige Gasse, schlaf in jedem finsteren Loch, sammle jede Träne. Gib die Tränen dem Meer zurück.

31.5.2009: Solange spazieren, bis man das Ufer des Flusses erreicht, der man selber ist.

30.5.2009: Das Leben ein Tagtraum.

29.5.2009: Mäuse und Katze = Wünsche und Mensch.

28.5.2009: Was weiß man längst? Woraus hat man immer noch keine Konsequenzen gezogen?

27.5.2009: Der Philosoph sagt, für ihn sei der bezauberndste Innenraum der Philosophinnenraum.

26.5.2009: „Die toten Seelen“ – ist das nicht ein Gegenwartsroman?

25.5.2009: Kinder, nachwachsender Feinstoff.

24.5.2009: Rosenwangig sein vor Humor, eine Form der Liebe.

23.5.2009: Du knipst den Fernseher an, und das Gefühl beschleicht dich, eine Verfilmung der Hölle zu sehen.

22.5.2009: Fruchtig, unergründlich durchscheinend sein wie eine Stachelbeere.

21.5.2009: Aus dem Spiegellabyrinth des Alltags den Weg ins Freie finden, ins Wirtlich-Luftigwindige.

20.5.2009: Sie lächelte, auf ihrem Gesicht der kaum sichtbare Abzug eines Kusses.

19.5.2009: Sich bewußt in eine Kurve legen, sich in sie verwandeln und sie so kriegen.

18.5.2009: Wie der Hund zu seinem Namen kam. Er bellte schon als Welpe für sein Leben gern. Er hörte einfach nicht auf damit. Eines Tages nannte die Tochter ihn Rebell – und er schwieg.

17.5.2009: Jede Zeile eine Welle der Hoffnung, die am Strand deiner Sehnsucht bricht.

16.5.2009: Zur Stärkung empfohlen. Aus einer Karaffe, gefüllt mit frischer Luft, drei, vier Schluck in ein Glas füllen und langsam trinken.

15.5.2009: Der Alltag, diese nicht geräuschlose Kirmesbudenwiese.

14.5.2009: Das, was einen anspielt, ist das, was sich abspielt, das Leben.

13.5.2009: Schaukelnde Äste illustrieren den Wind, schaukelnde Kinder das Glück.

12.5.2009: Dichter sein heißt so viel wie sorgfältig leben, die Blumen des Guten pflanzen und nach Gusto mit der Gieskanne besingen.

11.5.2009: Rezept für seelische Gesundheit: Einmal am Tag aufatmen und sich in die Blumen fallen lassen.

10.5.2009: Sonnenbrand, Knutschfleck der Sonne.

9.5.2009: Musik ist die Rettung.

8.5.2009: Sie verloren sich in den Fängen der Sehnsucht. Sie betteten sich auf den Schaumkronen des Meers. Sie zählten von unendlich an abwärts.

7.5.2009: Ideal: das unmerkliche Lächeln, die unmerkliche Träne im Gesicht.

6.5.2009: Literatur ist dort, wo sie ganz bei sich ist, wenig mehr als eine Ansammlung therapeutischer Sätze. Goethes Erfolg verdankt sich auch seiner Begabung, mit Sätzen zu heilen. Goethe war der rhetorisch bedeutendste Arzt der Medizingeschichte.

5.5.2009: Horizonte, Wellen verschwimmen, in den Dünen Windstille. Dann und wann prickelt Regen in den Sand und die Erinnerung an morgen verblaßt.

4.5.2009: Egal, um wieviel Uhr man morgens erwacht, man erscheint immer pünktlich in der Schule der Schmerzen, im Leben.

3.5.2009: Jedes Schlafen ist ein Probeschlafen vor dem großen Schlaf. Miteinander schlafen: der Probe fernbleiben und das Leben feiern.

2.5.2009: Urlaub machen in Kastanien.

1.5.2009: Diese Fliederalleen, diese Fliederwälder, schaukelnd im Wind, glänzend im Morgenlicht. Heroin für die Seele.

30.4.2009: Natalia Lisboa schreibt aus Sintra: „In der Küche duften aus den Gewürzschalen die Farben der Welt. Das Lachen der Liebe mischt sich mit dem Gespräch der Augen. Das hexenküchenhafte Brutzeln und Brodeln in den Töpfen und Pfannen zeugt von den endlichen Substanzen des Lebens. Der Frühlingswind, hingebungsvoll und ungewöhnlich heiß, bläst vom Garten und trägt das Vorgefühl zarter Geflicktheit der Paare in sich. Ein Vorgefühl, das einen der Länge nach hinwirft, so daß man, scheint es, am Ufer im Sand dürstet und den nahe vorüberziehenden Regen murmeln und flüstern, küssen und schluchzen hört.“

29.4.2009: Morgens ein Wirbelwind, gefolgt von einem Regenguß um zwölf. Nachmittags Stille. Am Abend der Auftritt der Ameisen, zu beobachten beim Überqueren des Himalaya, der kleinen zerbrochenen Gartenmauer.

28.4.2009: Morgens das Kreuzfahrtschiff der Träume, der Alpträume verlassen und den Landgang über die Insel des Tags antreten. Wie es auch sei, das Leben, am Ende aller Landgänge wird man das letzte Kreuzfahrtschiff betreten, das an keiner weiteren Insel mehr anlegt, ein Schiff der Stille und Dunkelheit, der unerdenklichen Weite des Nichts.

27.4.2009: Aufmerksam sein und Musik hören – ist das nicht dasselbe?

26.4.2009: Männer sind, was die Bartpflege angeht, Förster ihres Gesichts.

25.4.2009: Nach dem Schlaf und dem Aufblick ins Licht weiterreisen im Zeitland, das Meere und Berge umschließt.

24.4.2009: Welche Souvenirs könnte man aus dem Alltag mit nachhause nehmen?

23.4.2009: Die Ohrmuscheln fühlen sich am Wasser am wohlsten. Der Klang der brandenden See ist ihr persönlicher Klang, der Klang ihrer Heimat.

22.4.2009: Der Dichter ist eine Art Bauer. Mit seinen Versen pflügt er das brache Papierfeld. Die Ernte lesen dürfen andere.

21.4.2009: Menschen sind entlaufene Bäume, die sich danach sehnen, Wurzeln zu schlagen.

20.4.2009: Am Ende eines langen Tags das Bett wiederfinden, das im Schilf versteckte Boot.

19.4.2009: Die Scheinheilige, die, zumindest aus dem Schatten heraus, zu verehren ist, die Sonne, die scheinende, heilige.

18.4.2009: Ein chinesischer Nationalsport, nicht nur in Shanghai offensichtlich: Shopping Pong.

17.4.2009: Auch morgen wieder wird die Welt voller Musik sein, und ich höre sie schon, die Töne und Geräusche, das Rascheln in deinem Haar, das Pochen in deiner Brust, das Gurren der Tauben im Lüftungsschacht, das Sausen des Winds in der offenen Ladentür, das Röcheln der kettenrauchenden Nachbarin, das ferne Anschlagen der Hunde auf der verlassenen Industriebrache, das Rauschen des untergehenden Monds über dem See.

16.4.2009: Einmal täglich Gymnastik machen, sich auf den Arm nehmen.

15.4.2009: Eine jungfräuliche Zeile schreiben, die einfach zu nichts zu gebrauchen ist, das wärs.

14.4.2009: Morgentau = Eau de Toilette Naturelle mit der blumigen Herznote.

13.4.2009: Die fröhlichen Blicke der frisch Verliebten ist wie der heitere Himmel zum Glück ein vorübergehendes Phänomen. Nur wenn der Himmel immer wieder auch voll weinender und schluchzender Geigen hängt, wächst Gras und erneuert sich die Erde und fliegt Samen zu verjüngendem Leben.

12.4.2009: Vor der Dimension der Ewigkeit erhält das einfache Leben endlichen Glanz.

11.4.2009: Blühender Weißdorn, süßer Duft, Duft des süßen Lebens.

10.4.2009: N.L.: „Unzerstritten flattern die Vögel über den Himmel ins Gebirge. Die Menschen gehen am reißenden Fluß. Auf dem Hügel leuchtet im Sonnenlicht die Eiche. Im Herzen der Frau, die über die Wiese flieht, steigt der Ruf, während in der nahen Stadt ein Gewitter die Kinder berückt.“

9.4.2009: Die Bäume mit geschlüpften kleinen Blättern, zart wie Babyhändchen.

8.4.2009: Matchball. Die Spieler ballten sich zusammen und zappelten im Netz.

7.4.2009: Täglich-allzutägliche Aufgabe: den Mitmenschen leiden können.

6.4.2009: Carl Apfelschnitz: „Die Weltanschauung, die dir am ehesten entspricht, ist die des Weltenbummlers. Der ist ein Mensch, dessen Leben eine einzige Bummelei ist und der sich im Zuge des Bummelns das unbummelige Weltgetriebe anschaut.“

5.4.2009: Nicht nur im Traum das Gefühl haben, als sei die Welt ein einziger Schwindel. Etwas, das einen auch schwindeln läßt.

4.4.2009: Liebe ein Färbemittel. Menschen treiben es bunt.

3.4.2009: Es ist schier unmöglich, sich nicht bestimmen zu lassen. Egal, wie sehr man hüpft, hin und her hüpft, durchs ganze Land oder gar durch die ganze Welt hüpft, immer nimmt man eine Position ein, die sich bestimmen läßt.

2.4.2009: Die Augen öffnen sich. Jeden Morgen. Unbegreifliches Geschehen.

1.4.2009: Die Wellen, die im flatternden Wind gen Küste wandern, diese duftende Lockenpracht der See.

31.3.2009: Erstaunlich, wie die Zeit sich mit jedem Tag der Zukunft nähert, ohne sie je zu erreichen.

30.3.2009: Falten und Narben, Hieroglyphen des weitgereisten Menschen.

29.3.2009: An der Küste. Der Weg der Liebe ein wechselvoller Weg. Krumm, steil, hoch überm Abgrund führt er lang und eröffnet jäh Ausblicke – in der Ferne kräuseln sich die Schaumkronen des Meers. Er ist anstrengend und wohltuend, er ist der einzige, der weiterführt.

28.3.2009: Das Lächeln, Visum für die Einreise ins Land des Gegenübers.

27.3.2009: Sobald man geboren wird, ist er da – der Rest des Lebens. Du kannst aus ihm Träume formen.

26.3.2009: Das Zögern, weiterzugehen, gehört zu jedem guten Spaziergang.

25.3.2009: In der Gemäldegalerie immer das Gefühl, in der idealen Schule zu sein.

24.3.2009: Man muß im Leben nicht esoterisch sein; das Leben selbst ist esoterisch.

23.3.2009: Sich vom Regen akupunktieren lassen.

22.3.2009: Aus einem Billett von Natalia Lisboa: „Mit den Tagen, den Vögeln in die hängenden Gärten des Blühfrühlings gehen – so will es die Natur, scheint mir.“

21.3.2009: Das Leben eine Trauerfeier.

20.3.2009: Der liebste Gesichtspunkt – der, den man küßt.

19.3.2009: Am Ufer das Verklatschen der Zeit, das Verfließen des Raums – Schweben auf dem goldnen Teppich der See.

18.3.2009: Unter dem blau leuchtenden Himmel umhergeistern und das Unaussprechliche an der Wange fühlen – Windhauch des Lebens.

17.3.2009: Augentrost. Die Erinnerung an das Lächeln eines verstorbenen Menschen ist eine unverwelkliche Blume.

16.3.2009: Ihre Augen, auf lichte Weise bewölkt.

15.3.2009: Gedicht, vorleises Mundwerk der Liebe.

14.3.2009: Zum Gesang der Welt gehört das schluchzende Weinen. Es ist ein Gesang, der intensiv ist, aber keine Freude bereitet.

13.3.2009: Angesichts des Irrsinns in der Welt ist man vielleicht nur dann normal, wenn man auf andere Weise verrückt ist. Auf andere Weise verrückt sein und mit den Toten sprechen und sie so im virtuellen Raum am Leben erhalten.

12.3.2009: Nebel und später das Meer; in ihm verschwinden die Menschen.

11.3.2009: Den Goldschatz der Liebe – bisweilen umarmt man ihn, ohne ihn zu erkennen.

10.3.2009: Das Leben aus den Gedanken sprudeln lassen wie eine Quelle.

9.3.2009: Strandgut finden, sich selbst.

8.3.2009: Auf der Kreisbahn des Lebens jeden Tag in diesen Tunnel des Schlafs einsteigen.

7.3.2009: Ein Tag, Mystiker im Wandel.

6.3.2009: Unbegreiflich bleiben, jeden Tag, wie das Leben selbst.

5.3.2009: Von der Reise eine Postkarte schreiben mit der Zeichnung der Wege, die du gegangen bist – die Zeichnung ein einziges Gewirr und ein Bild des eigenen Lebens.

4.3.2009: Beim Zitieren von Goethe das Gefühl, daß nicht ich Goethe zitiere, sondern daß Goethe mich zitiert – zu sich zitiert, auf die liebevollste, auch lustigste Weise.

3.3.2009: Im nebligen Gebirge die Orientierung verlieren und sich an das Wissen der Füße halten.

2.3.2009: Nicht nur soll man die Feste, wie sie fallen, feiern, sondern auch das Fest aller Feste, das Leben, ob es einem gefällt oder nicht.

1.3.2009: Jeder irrt auf dem Schiff der Gegenwart, das sein Leben ist. Ob mans steuern kann, während es in den sprühenden Fluten treibt, weiß man nicht und glaubt man kaum.

28.2.2009: Im Regen sich regen, im Wind wie der Wind sein, in der Luft luftig, im Feuer feurig.

27.2.2009: In die Berge steigen und sich von den umherschleichenden Wolkenschwaden an der Wange streicheln lassen.

26.2.2009: Nachts wie ein Irrlicht reisen – Irrlicht der Liebe.

25.2.2009: Hinausgehen und die Fährte des Menschen aufnehmen.

24.2.2009: Das Leben ein Wellenspiel, die Sonne blendet, alles geht vorüber.

23.2.2009: Wenn man nicht viel Zeit zum Gehen hat, kann man fragmentarisch gehen, man geht den Weg nicht zuende und bricht ihn ab. Fragmentarische Spaziergänge bewegen und lassen nicht los.

22.2.2009: Schlittschuhlaufen auf dem gefrorenen Fluß der Erinnerung.

21.2.2009: Reiseleiter, wildfremde Passanten, denen du eine Zeitlang hinterhergehst und die dir einen neuen Weg aufzeigen.

20.2.2009: Die Dusche, Grotte aus Porzellan. Der gischtsprühende Wasserfall stürzt auf dich hernieder. Wildnis, eingebettet in die Wohnung.

19.2.2009: Gesicht, Lichtung der Sinne, Lichtung der Person.

18.2.2009: Rot geschminkte Lippen wirken im grauen Alltag gut.

17.2.2009: Meteorologe der Seele: den geistigen Himmel beobachten und vor einem aufziehenden Sturm sich in acht nehmen.

16.2.2009: Die goldenen Schellenglöckchen der alemannischen Narren, hundertfach angebracht am Kostüm, klingeln und rasseln bei jedem Schritt. Der tanzende Narr eine Stromschnelle aus Hieroglyphen.

15.2.2009: Die Verwandlung der Landschaft im Schnee, das Gefühl der Weite, Helligkeit, auch Härte, das die Gänge über die Berge begleitet, geht einher, nebenbei, mit der Verwandlung des Traums vom geistigen Leben in geträumtes Leben.

14.2.2009: Von Tag zu Tag durch den Tunnel der Nacht. (Ein Traum das Licht an seinem Ende.)

13.2.2009: Verloren, ungefunden, im Gesicht des Passanten öffnet sich eine Blüte, die Welt der Träume und Anteilnahme.

12.2.2009: Carl Apfelschnitz: „Kreativ sein ist wie Wasserlassen. Ohne daß du was dafür kannst, sprudelt es.“

11.2.2009: Aus ihren Augen, blaßhell, schauen Träume weit weg in ein anderes Land.

10.2.2009: Die Ouverture des Tages – das Licht, das der Traum aus einer verwunschenen Welt herübersendet.

9.2.2009: Maxime. Pfeif auf die Maximen und geh deinen Weg.

8.2.2009: Jemanden im Regen stehen lassen, ist im Grunde eine schöne Handlung.

7.2.2009: Leger-leicht verloren in den Zimmern der Welt, in die das akkurate Lachen der Sonne scheint.

6.2.2009: Sie saß jeden Abend vor dem Fernwehapparat. Sie las Gedichte.

5.2.2009: Morgens die Gedanken schütteln, ohne den Kopf zu bewegen, es glitzern die Felder mit ihren Tauperlen. Und die Lust, die Landschaft bis zum Horizont zu erwandern, ist unzähmbar.

4.2.2009: Die Liebe, Komplizin in der Sache des Lebens.

3.2.2009: Leben, jemandem im Vorübergehen ins Gesicht blicken und in seinen Augen Funken der Liebe entzünden.

2.2.2009: Gedanken, dieses unermüdliche Heer, das ein windschiefes Dorf belagert. Das Dorf des Ichs. Eines Nachts fegt der Sturm das Dorf hinweg, und als der Tag graut, löst sich auch das Heer in Luft auf.

1.2.2009: Gedanken wie bewohnbare Häuser, in die man en passant spaziert.

31.1.2009: Auf einer Wanderung das Handinnere, den Handatlas, öffnen und seinen Weg finden.

30.1.2009: Leben, das Brennen der Bedeutungen.

29.1.2009: Wie viele Tränen verweint ein Mensch in einem Leben? Tausend und eine? So viele, wie man Sterne am Himmel zählen kann? Man weiß es nicht.

28.1.2009: Verblüffend, daß die Welt keinen Mittelpunkt hat. Anders gesagt: Egal, wo ich geh und steh, immer befinde ich mich im Mittelpunkt der Welt.

27.1.2009: Ist nicht die Linie des Lächelns die erstaunlichste des Universums?

26.1.2009: Neubeginn, dieses gewaltige Sprudeln, das allein diesem Wort entspringt.

25.1.2009: So lange gehen, bis du das Gefühl hast, im Palast des Tags anzukommen.

24.1.2009: Zwei, die sich berühren, und deren Härchen an den Unterarmen elektrisch sind und sich ineinanderweben wie Unterwassergräser im Fluß.

23.1.2009: Die blonde Träumerin, angelehnt an die grüne Marmortheke mit den weißen Adern, sagt Sätze düster wie Ginster, während sich der Verlorene im Blau ihrer Augen spiegelt und das Meer rauschen hört.

22.1.2009: Das Wartezimmer ein Ort nicht von diesem Leben. Das Wartezimmer das Antizimmer schlechthin – das unhübsche Vestibül des Todes.

21.1.2009: Das gelangweilte Kind schießt auf eine Brotscheibe. (Zen oder die Kunst des Bogenschützen)

20.1.2009: Das Bewußtsein, eine Meereswelle, die durch dich hindurchrollt.

19.1.2009: Morgens die Wohnung, das intimste Hotel, das sich nur finden läßt, verlassen, eine Reise zu machen, einen Spaziergang durch die Welt. Abends wieder absteigen und zuhausesein.

18.1.2009: Den Tagen sich so öffnen, daß ihre Helligkeit ins Innerste, Eigenste fließt und auch in dunklen Stunden dir den Weg zu gehen zeigt.

17.1.2009: Schafe. Nicht leicht ist, was vor sich geht, zu fassen, und so begreifen sie das Leben kaum.

16.1.2009: Der mäandernde Fluß leuchtender Stunden mündet ins Meer des Schlafs.

15.1.2009: Jemand liegt im Bett wie ein aufgeschlagener Weltatlas.

14.1.2009: Wenn dein Geist ein Porzellanladen ist, mußt du die Elefanten draußen halten.

13.1.2009: Man lebt eigentlich auf zwei Planeten, auf der Erde bei Tag und auf der Erde bei Nacht.

12.1.2009: Sehnsucht, dieses tausendseitige Pferd.

11.1.2009: Zugefrorene Seen und Flüsse: Landgewinn.

10.1.2009: Jeden Tag anders in die Zeit gehen, tanzen, laufen, schlittern, purzeln, eilen, schleichen, schlendern, rückwärts hüpfen und so den Raum zum Blühen, zum Singen bringen.

9.1.2009: Trauerspiel des Lebens. Aus dem neugierigen Kinde wird der alte gierige Kunde.

8.1.2009: Daß es künstliche Intelligenz gibt, weiß man inzwischen. Bei der natürlichen ist man sich nicht sicher.

7.1.2009: Die Felder von Eisblumen, zum Anschauen, nicht zum Pflücken, am Fenster, lösen sich, scheint die Sonne, in Wasser auf.

xx.xx.xxxx: Dieser Eintrag [ein Eintrag nicht nur für diesen Tag] gedenkt der Menschen, die aufgrund einer zynischen menschenverachtenden Politik verletzt, verstümmelt, getötet werden.

5.1.2009: Statt kritisieren immer nur erinnern sagen. Eine Kritik eine Erinnerung nennen.

4.1.2009: Leise schweben Kristalle vom Himmel.

3.1.2009: Gerade auch auf dem zugefrorenen See bemerkst du die Brüchigkeit des Lebens. In ihren Mollakkorden erinnern der untergründige Widerhall des über das Eis springenden Pucks – Kinder spielen Hockey – und das Echo der Schläger an ein Requiem, das aus der Tiefe des Sees erklingt.

2.1.2009: Kolumbus, alt geworden, entdeckte, daß er inkontinent war.

1.1.2009: Stille, unendliches Gut, aus der, endlos langsam, eine Melodie entsteht. Die übertönt die Stille nicht, Melodie und Stille werden ein Paar.

31.12.2008: Leicht beieinander wohnen die Liebenden, doch in der Zeit entfremden sich die Menschen.

30.12.2008: Sich in den Tag stürzen wie in das offene Meer.

29.12.2008: Aufstehen und zum mitgehenden Betrachter des Tags werden.

28.12.2008: Hinausgehen und nach bunten Kieselsteinen suchen – eine Form von Laissez-faire.

27.12.2008: Das unstillbare Heimweh – oder Stille nur in der Sehnsucht finden.

26.12.2008: Der makellos blaue Himmel ist der Himmel auf Erden.

25.12.2008: [1000. Eintrag:] Natalia Lisboa: „Unbegehbar das Haus des Lebens, es zerfällt, du wirst verwiesen, der Weg, dein Gang, das Glück, alles verloren, verlassen, verbrannt. Fetzen kreisen über den Wiesen. // Keusch sitzt du am Wegrand in Erwartung des Unmöglichen; die Nacht bricht herein, die Sterne glänzen, zittern. Die Rehe, die vorüberkommen, küssen dein Ohr, die Wange, du suchst ihren Schlafplatz und legst dich in die Kuhle, die Wärme des Rehkitzes wärmt dich, und auf deine Lider legt sich der Tau der Nacht wie ein Schleier nieder. // Verborgen in den Träumen, wanderst du ins Helle zu den Sternen hinauf. So gehts vorüber, und am Ende schmeckst du die Weite der Liebe. // Beflügelt steigst du ab und fühlst die Kälte des Tals, der Mond rollt fern vorüber, jenseits des Buchenwalds, und schweigt im Leben lieber. // Die Sonne dringt durch stürmische Schleier atmend, glühend immer weiter vor und küßt mit einemmal, befreit von diesen Jalousien, der Landschaft hügelige Busen wach zum Leben, Glänzen wieder.“

24.12.2008: Natalia Lisboa: „Zu sich kommen, wenn man gesund ist, morgens, und plötzlich den hellen Tag sehen, ist vielleicht das Unheimlichste und gleichzeitig Beglückendste im Leben.“

23.12.2008: Das Zittern, Wasserzittern, im Auge des Anderen sehen.

22.12.2008: Das Branden des Luftmeers am Hausfelsen. Das Baden der Schwalben in der Luftsee.

21.12.2008: Im tiefsten Schacht des Lebens das Licht der Liebe entzünden.

20.12.2008: Die Kühle im Kleiderschrank an der Wange fühlen.

19.12.2008: Vorausdenken, nachsinnen, das Unermeßliche ermessen, das Leben verleben, sich neu verlieben, sinnfälligstes Tun.

18.12.2008: Karl Aufpasser ist ein sorgfältiger Mensch – wenn er etwas verliert, verliert er alles.

17.12.2008: Aufsehen und in der Wolkenlücke das ameisenhafte Licht begrüßen.

16.12.2008: Aufstehen und wieder, unermüdlich, nach dem Unsinn des Lebens suchen.

15.12.2008: Aufstehen und nach der alten Erkenntnis lechzen; sie sich neu anverwandeln.

14.12.2008: Feine Wege in den Gedanken des Gegenübers entdecken.

13.12.2008: Man hat den Mund, um ihn aufzumachen.

12.12.2008: Via nova / vita nova – ein neuer Weg ist ein neues Leben.

11.12.2008: Aufwachen und sich in einer weltoffenen Gegend wiederfinden.

10.12.2008: Bestimmt unbestimmt bleiben und so vielleicht ansehnlich offen.

9.12.2008: In der Wirklichkeit verloren, unter blauem Himmel, dem Menschen nah, summend, singend, während die Welt in Schleiern langsam verschwimmt.

8.12.2008: Morgens aufstehen und wieder hereinfallen – auf die hinterlistige Illusion eines sinnvollen Lebens.

7.12.2008: Blüten abseits in einer warmen Waldlichtung, versteckt zwischen niedergesunkenen Sommergräsern.

6.12.2008: Einen neuen Weg finden, indem man die Reise mit dem schwachen Fuß beginnt.

5.12.2008: Je mehr man schläft, desto weniger Schlaf hat man.

4.12.2008: Die Fanblocks in den Stadien, fauchende Ungeheuer, furchtbare Chordrachen.

3.12.2008: Aufwachen und sich von lichten Fäden in den Tag nähen lassen.

2.12.2008: Natalia Lisboa: „Der verschlungene Weg von Sintra an das Cliff-Café hoch über dem tobenden Atlantik ist der Inbegriff der Liebe.“

1.12.2008: So wie der Wind zwischen den Häusern saust, saust der Humor zwischen den Zeilen.

30.11.2008: An eiskalten Tagen Wange an Wange verglühen.

29.11.2008: Nachts spirituell sein, unter Sternen träumen.

28.11.2008: Tags spirituell sein, wandern auf der Schneide zwischen Sprache und Musik.

27.11.2008: Jemand, der sich schon glücklich schätzt, weil er bei Grün über die Straße gehen darf.

26.11.2008: Wer gute Bücher liest und gutes Essen ißt, wird deshalb nicht gleich zum guten Menschen. Geschieht die Verwandlung zum Guten dann, wenn man unerwartet stutzt – über einen schleierhaften Gedanken, einen sonderbaren Geschmack?

25.11.2008: Sechs Tage sollst du an dir arbeiten, deine Welt verbessern, am siebten sollst du ruhen.

24.11.2008: Und das Lied, nah im Verborgenen wohnend, trägt harmonisch dich durch den Tag.

23.11.2008: Eine Sängerin, die Fülle an Tönen mit Nuancen beseelend, verzaubert so ihre Zuhörer.

22.11.2008: Liebe. Jemandem lieb, aber nicht teuer, aber auch nicht billig sein.

21.11.2008: Unverloren im Tal ein Weg, Schneewolken schleichen über die entschwindenden Gipfel.

20.11.2008: Morgens beim Aufstehen eine Nuance Nacht mit in den Tag nehmen.

19.11.2008: Jeden Tag eine Ferne finden und zu ihr wandern.

18.11.2008: Geist ist das, was Traubensaft zu Wein macht.

17.11.2008: Natalia Lisboa fragt: „Beginnt am Ende des Tages das eigentliche Studium? Mit Fragen wie diesen: Was habe ich falsch gemacht? Was richtig? Wie werde ich ein besserer Mensch? Und wird es am nächsten Morgen fortgesetzt mit der Erinnerung an die Antworten des Abends?“

16.11.2008: Ein Mensch, der schweigt, ist eine Blume, die blüht.

15.11.2008: Ferner im Alltag, wenn man an die immer gleich trostlosen Plätze hetzt, unvermutet innehalten, die Augen öffnen und die Welt wie zum ersten Mal sehen.

14.11.2008: Damit ihre Kunst nicht brotlos sei, legte die Malerin einen Laib Brot auf ihren Arbeitstisch.

13.11.2008: Man sagt den lieben, langen Tag lang leicht viel falsches; man wird ein Falschsager. Übers Schweigen, grenzenlos wie der Wind, erreicht man das Wahrsagen?

12.11.2008: Ausgehen, um nach dem offenen Gesicht zu suchen.

11.11.2008: Das eigentliche Studium der Jugend ist das Leben.

10.11.2008: Der Kälte unverfroren begegnen.

9.11.2008: Still sein, die Gezeiten des Lichts sehen, atmen.

8.11.2008: Ein zweckloses Leben führen ist höchste Kunst.

7.11.2008: Wenn in der Früh die glutrote Sonne hinterm eisbeschlagenen Fenster aufgeht, wird alles leicht.

6.11.2008: Geld sollte man prinzipiell nur verjubeln. (Das geht auch leise.)

5.11.2008: Wenn alle Autos nur mehr rückwärts führen, dann änderte sich alles.

4.11.2008: Auf dem Gehsteig einer deutungsschwangeren Frau begegnen.

3.11.2008: Morgens ratlos, welche Miene man zum Lebensspiel machen soll.

2.11.2008: Hellauf verloren im Morgentaublau.

1.11.2008: Die Zeit, wenn sie über die Ufer tritt, schwemmt das stille Land.

31.10.2008: Jeden Tag wird dir von irgendwem die Zeit gestohlen – auf Nimmerwiedersehen.

30.10.2008: Natalia Lisboa: „Mit Tränen den Salat salzen.“

29.10.2008: Der Maler malte Selbstportraits, Phantombilder.

28.10.2008: Bildung: Wo Esel war, soll Ich werden.

27.10.2008: Unbarmherzig sein – die größte Niederlage.

26.10.2008: Gerade im Spiel spielerisch sein.

25.10.2008: Bei heiterer Stimmung sind wenige gesprochene Worte die Schönwetterwolken des Gesprächs.

24.10.2008: Jeden Tag im eigenen Schlupfwinkel die weite Welt erfahren.

23.10.2008: Mitten im Alltag irgendwo eine liebliche Spur entdecken und alles vergessend ihr folgen und sehen, wohin sie dich führt.

22.10.2008: Ihre einzige Schulbildung war die Fähigkeit, gegen den Wind segeln zu können.

21.10.2008: Wer sich gern auf der Heide bewegt, wird der nicht einen Hang zum Heidentum haben?

20.10.2008: Jeden Morgen der Sonne entgegengehen, den Tag lang, und auf diese Weise, bis zum Abend, eine große Kurve in die Landschaft zeichnen.

19.10.2008: Poesie, Feuergarben, die auf dem See verschwimmen.

18.10.2008: Natalia Lisboa: „Wenn Worte versagen, sagt ein Lächeln stattdessen vielleicht genug?“

17.10.2008: Auf Papier Landstriche zeichnen.

16.10.2008: Natalia Lisboa: „Ich sah ein Kind an der Kasse mit Plastikspielzeugzahlen zahlen.“

15.10.2008: Was geht morgens in Flammen auf? – Die Sonne.

14.10.2008: Was hat man eigentlich gegen Hinterwäldler? Kann nicht hinter dem Wald eine schöne Siedlung sein, und bestünde sie auch nur aus Baracken? Ist man aus der Perspektive der Hinterwäldler nicht selbst ein Hinterwäldler? Man sollte einmal die Vorderwäldler besuchen gehen.

13.10.2008: Kinder gleichen Katzen. Sie streichen um die Häuser, schlüpfen durch Hecken, klettern auf Bäume, bringen stolz gefundene Steine und Äste mit nachhause, und wann immer es ihnen paßt, wollen sie gestreichelt und gekrault werden.

12.10.2008: In einem Konvolut bunter Laubblätter lesen und die Zeit vergessen.

11.10.2008: Der Oktober serviert die Farben.

10.10.2008: Jetzt Laubgold sammeln.

9.10.2008: Angesichts des Sonnentaus auf dem Haar einer Passantin die Augen erfrischen.

8.10.2008: Einmal wieder ins Daumenkino gehen.

7.10.2008: Von der Laufbahn abkommen und den Trödelweg einschlagen.

6.10.2008: Vorzug des Bohème-Lebens: man muß morgens nicht mehr aufstehen. Nachteil des Bohème-Lebens: man erlebt den köstlichen Schreck nicht mehr, wenn man verschlafen hat.

5.10.2008: Der Sonntag ist auch ein Seelenwäschetag.

4.10.2008: Jeden Tag bereit sein für den einen Augenblick, in dem dieser Tag als lebenswert aufscheint und er in seinem Wert in dir langsam vergeht.

3.10.2008: Wenn es draußen regnet, bleib drinnen besonnen.

2.10.2008: Sich vor einem Brombeerstrauch verneigen.

1.10.2008: Der Himmel ewiges Gemälde der Wandlungen.

30.9.2008: Natalia Lisboa: „Das Meer im Abendlicht ein goldenes Fließen.“

29.9.2008: So wie Michelangelos „David“ im Marmorblock verborgen war, so sind wohl in jedem Menschen entsprechende „David“-Gedanken verborgen. Versuche, zu einem Michelangelo der eigenen Gedanken zu werden.

28.9.2008: Philosophieren, den Sonntag zum Alltag machen. Entsprechend gilt für Philosophen: Am siebten Tage sollst du arbeiten.

27.9.2008: Das Glück der Kindheit könnte sein, nicht zu wissen, daß ihre Tage gezählt sind. Die Utopie der Erwachsenen könnte sein, die Sphäre der ungezählten Tage wiederzubeleben.

26.9.2008: Angesichts der kleinen Schatten der Sehnsucht auf den stillen Wegen erlischt die Erinnerung an heiße Sommer.

25.9.2008: Daß die Evolution das Niesen hervorgebracht hat – diese Erschütterung des ganzen Gesichts.

24.9.2008: Jeden Morgen das erneute Erwachen auf dem Zeitschiff. Der Anker lichtet sich, die Raumfahrt beginnt.

23.9.2008: Billett von Natalia Lisboa: „Wenn mitten im Tag eine Flaute sich bemerkbar macht und kein Wind die Segel bauscht, wird man diesen Wink verstehen – sich in die Hängematte legen und im Traumwind über die Meere wehen.“

22.9.2008: Ein verträumter Mensch, der gerade in seiner Verträumtheit zu träumen gibt.

21.9.2008: Märchen. Die Kinder, die in die Salzburg einfuhren, streuten heimlich Zucker. Ihr Kichern erboste den Salzgott, und er verschüttete sie. Sie fanden im Dunkeln einen Stollen, der ins Freie führte, und retteten sich. Am Horizont ging die Sonne unter. Wind kam auf. Sie liefen über taunasse Wiesen ins Tal. Das Dorf glitzerte. Im Löwen saß das Volk, es war still, nur ab und an trank einer einen Schluck von seinem Bier; es war wie nachts bei den Kühen im Stall. Da ging die Tür auf, und über die Schwelle sprangen die Kinder.

20.9.2008: Aus der Grammatikstunde unserer Clownsschule, Beispiel Steigerungsformen: Herb, Herbert, Herbst.

19.9.2008: Noch ehe der Wasserhahn kräht, wirst du den großen Morgen bewundert haben.

18.9.2008: Im flüchtigen Tag langsam gehen.

17.9.2008: Gähnen, ein gelegentlicher Genuß, der von selbst ausgelöst wird und der schicklicherweise hinter vorgehaltener Hand die Runde macht.

16.9.2008: „Kleider machen Leute“ gilt auch in dem Sinn, als der Bekleidungsstil der unmittelbaren Umgebung einen selbst stark beeinflußt, einen deprimiert, kalt läßt, beschwingt oder gar beflügelt.

15.9.2008: Morgens, im Frühlicht, aus dem Haus treten, die Pferde satteln und einen Ausritt wagen. Auf den Wegen wird der Wind den Sternenstaub wegblasen und dich mit frischen Blumen erheitern.

14.9.2008: Die Welt wird ungemein schön, weit und abenteuerlich, sobald man aufhört, Zeitungen zu lesen.

13.9.2008: Das Wetter führte Natalia die Feder. Ob es stürmisch oder heiter, bewölkt, neblig, hitzig oder gefrierend war, Wetterhistoriker lasen es aus ihren Tagebuchnotizen.

12.9.2008: Nachts bei Mond unter den Linden zwei Rehen begegnet. Die Linden rauschten. Die Rehe spielten miteinander. Schließlich gingen sie mit stummem Gruß davon. Sie liefen durchs Brandenburger Tor in den Tiergarten.

11.9.2008: So wie man einen Menschen besuchen geht, einen Baum besuchen gehen. Du leistest ihm ein Weilchen Gesellschaft, schenkst seinen windigen Erzählungen ein geneigtes Ohr, umarmst ihn zum Abschied innig und begibst dich wieder auf den Nachhauseweg.

10.9.2008: Unter den Birken am Ufer das Licht auflesen und in der Handschale nachhause tragen.

9.9.2008: Mit den Wimpern jemanden streicheln.

8.9.2008: Jeder Kopf der Palast einer geheimen Republik.

7.9.2008: Eine Schiffsreise ist gut, um die Vergangenheit über Bord zu werfen.

6.9.2008: An der Küste das wachsende Gefühl, jenem unvergleichlichen Apartment nahe zu sein, in das du eines Tages einziehen wirst.

5.9.2008: Die glitzernde Uhr der Ewigkeit, das schwebende Ziffernblatt des Unendlichen, die tausend Liebkosungen der in der Sonne ausgebreiteten See.

4.9.2008: Ein Tagebuch lesen, in dem der Schreiber ausschließlich seine genossenen Gerichte aufzeichnet.

3.9.2008: Welchen Aspekt des Rätselbergs Leben male ich heute?

2.9.2008: Bei sich, in der Fremde sein.

1.9.2008: Das Aufwühlende der Küste, die verwischte Grenze zwischen Hier und Dort, zwischen Endlichem und Unendlichkeit.

31.8.2008: Meeresrauschen, eine unaufhörliche Hörenswürdigkeit.

30.8.2008: Tränen, Weintropfen der Seele.

29.8.2008: Der schöne Augenblick, der verweilen mag, ist der Augenblick des sehnsuchtsreichen Menschen.

28.8.2008: Nachts schläft das Licht. Am Morgen wird es von Vögeln aus dem Schlaf gesungen.

27.8.2008: Ins Fahrwasser geraten, und vom Floß des Denkens die Welt bestaunen.

26.8.2008: Es soll Alt-Achtundsechziger geben, die beim Gang durch die Straße jedesmal, wenn sie das Schild „Apotheke“ lesen, den entsprechenden Laden betreten und erstmal ein Bier bestellen.

25.8.2008: Die Welt ist ein kompliziert aufgebautes Spielfeld, auf dem die Menschen ein kompliziertes Spiel spielen, das sie nicht wirklich verstehen. Sicher ist nur: jedem wird irgendwann die Rote Karte gezeigt.

24.8.2008: „Saumseligkeit“ – das vielleicht kürzeste Gedicht der deutschen Sprache.

23.8.2008: Wie kann es sein, daß der Feiertag keinen Feierabend hat?

22.8.2008: Nachts im Freien in den Augen des Anderen den Sternenhimmel betrachten.

21.8.2008: Am Bach, das Schattenspiel, die duftenden Tollkirschen, die schwebende Libelle, das Glucksen des Wassers, die versunkenen Kinder, der mit einem Rechen heuende Bauer, das im Baum sitzende Mädchen, der hoch kreisende Bussard, der betagte Mensch auf der Waldbank, das Rauschen des Winds in den Kronen, die ziehenden Wolken am Horizont, die fern klingende Musik, das ballspielende, jugendliche Paar... So geht’s hin, so geht’s weiter.

20.08.2008: Das unbezwingbare Gefühl, daß die Welt mit jedem Tag jünger und nicht älter wird.

19.8.2008: Tagwache: von seinen Beschäftigungen absehen und nur für den Tag wach sein.

18.8.2008: Auch schön: ein bewölkter Tag mit kurzen Sonnenschauern.

17.8.2008: Jeden Morgen aufs neue bestrebt sein, die eigene Ratlosigkeit zu vertiefen.

16.8.2008: Ein Grashüpfer sonnt sich auf dem Frühstückstisch – ich überlasse ihm meinen Platz und setze mich draußen ins Gras.

15.8.2008: Jeder Tag ist eine gigantische Lichthupe.

14.8.2008: Der Tag als Bergbesteigung. Auf dem Mittagsgipfel Rast machen, sich umsehen – und langsam wieder absteigen. (Am Sonntag Berg Berg sein lassen und ans Meer fahren.)

13.8.2008: Träume sind Blumen, die dir nachts blühen.

12.8.2008: In eine Kunstgalerie gehen, in der nur Spiegel hängen, und sich in den Anblick der Bilder vertiefen.

11.8.2008: Er abonnierte eine Tageszeitung, um jeden Morgen zu erfahren, welches Datum man schreibt.

10.8.2008: Der Mensch, die Schaumkrone der Evolution.

9.8.2008: Jeder Tag macht das Versprechen, daß in ihm die Bewegung geschieht, die zum Anfang einer Geschichte wird.

08.08.08: Natalia Lisboa: „Schade, daß es derzeit keinen Flugtaubenpostanbieter gibt. Ich würde meine Briefe gerne per Flugtaubenpost versenden.“

7.8.2008: Arznei: Täglich eine Sackgasse finden, die einen zur Umkehr zwingt. (Und dann: der Blick ins Weite zwischen zwei Häusern hindurch.)

6.8.2008: Küsse munden.

5.8.2008: Sich im Urlaubwald erholen.

4.8.2008: Die Morgenröte auf der Wange eines geliebten Menschen bewundern.

3.8.2008: Kinderspiel. Morgens im Bett am Klang der Welt den Wochentag erkennen.

2.8.2008: Auf der Straße stehen – und den Himmel anhimmeln.

1.8.2008: Schelmisch lächeln – weil man ein Schelm ist.

31.7.2008: Jeder Mensch spricht aus mehr oder weniger unberufenem Munde.

30.7.2008: Sich das eigene Leben nehmen, es zu sich nehmen, wie ein Waisenkind. (Bevor ein anderer es einem wegschnappt.) Und selbst aus ihm ein Kunstwerk formen. Oder es zu einem solchen wachsenlassen. Ein Kunstwerk zum Weinen und zum Lachen.

29.7.2008: Die Kinder brachten vom Feld eine Handvoll Strohhalme nach Hause und tranken damit die Limonade.

28.7.2008: Auf Rosenblätter schreiben.

27.7.2008: Lang nach Welzheim tauchte die Pferdekutsche auf mit den beiden Clowns. Der eine saß vorn auf dem Bock, der andere stand auf dem Kutschendach und machte Kniebeugen. Sie riefen und winkten mir, während ich auf meiner alten Zündapp langsam näherkam. Der Clown auf dem Dach forderte mich auf, meine Maschine Maschine sein zu lassen und in die Kutsche zu steigen. Ich folgte ihm, ohne daß ich es wollte, und die Zündapp fuhr ohne mich weiter, quer übers Feld, bis sie umkippte. Am Abend erreichten wir das Clownsdorf. In ihm leben nur Clowns, große und kleine. Es heißt Utopia.

26.7.2008: Natalia Lisboa: „Im guten Gespräch stimmen wir unsere Instrumente, die Körper, mit unseren Stimmen.“

25.7.2008: Natalia Lisboa: „Ich mag es, wenn mir Fragen gestellt werden, die mich betreffen. Fragen wie: Warum pflückst du Himbeeren am Waldrand und liest in der Wiese Gedichte von Ricardo Reis? Warum treibst du auf der Matratze quer über den Fluß? Warum gehst du in der Mittagshitze ins Kino? Natürlich kenne ich auf die Fragen nicht gleich Antworten; aber ich merke, sie erfrischen den Tag und helfen mir auf die Sprünge.“

24.7.2008: Sommerlicher Wind, Fön, der die Haare der Badenden samthändig, mit dem Duft der Blüten, streichelt und trocknet.

23.7.2008: Wolken, eine marmorierte Plastik, über den Himmel schwebend.

22.7.2008: In einem Gesicht wie in einer Novelle lesen.

21.7.2008: Auf der Landstraße eine einzelne, einsame Ameise. Auf welcher Wanderung, mit welchem Ziel, befindet sie sich nur? Ameise, es scheint, als hättest du noch eine große Strecke vor dir.

20.7.2008: Kommunismus. Im Reich der Zeit sind alle Menschen Genossen.

19.7.2008: Natalia Lisboa: „Die Schrift kettet sich wie Efeu an dich und umspielt deine ans Licht strebende Seele.“

18.7.2008: Unter einem Baum lauschen die Passanten dem Gesang der Amsel. Als das Federwesen seinen Auftritt beendet und davonflattert, wird es vom Beifall der Passanten beflügelt.

17.7.2008: In der Weinstube saßen die Gäste weinend.

16.7.2008: Natalia Lisboa: „Immer wieder dieses Ziel: Im Abendtau barfuß durch die Wiese gehen und sich vergessen.“

15.7.2008: Vaterland/Mutterland. Das Land, das der Vater/die Mutter ausmißt, ausbuchstabiert, in dem er/sie umhergeht, umherfährt, umherstreift, schwimmen geht, von dem er/sie erzählt, etc.

14.7.2008: In der Sprache wandern, einer Landschaft, die sich erst im Wandern lichtet.

13.7.2008: Wolkenmuschel, Regenperlenstickerei.

12.7.2008: Ein Geistesblitz kommt meistens aus heitrem Himmel.

11.7.2008: Es gibt viele Kirchenschiffe zu Lande, kein Kirchenschiff auf hoher See.

10.7.2008: Ideal: Oft dort hingehen, wo einen etwas wirklich angeht. Realität: Allzuoft dort hingehen, wo einen nichts wirklich angeht.

9.7.2008: Der Spiegel: Tagebuch, flüchtiges, des eigenen Lebens.

8.7.2008: Statt sich durchboxen – sich durchs Leben streicheln.

7.7.2008: Wer kann behaupten, wirklich mündig zu sein? Man kann wohl höchstens, immer wieder, versuchen, den Mund richtig einzusetzen. Beim Küssen, beim Reden.

6.7.2008: Natalia Lisboa: „Wie kommt ein Gedanke zu einem? (Was ist überhaupt ein Gedanke?) Er kommt vielleicht dann, wenn das Geplärr der Welt aufhört, wenn es still wird, wenn der eigene Organismus sich eine Weile in die Stille einschwingt; dann geschieht es vielleicht (und unvermutet), daß man ihn wahrnimmt, wie ein Reh, das sich auf einer Lichtung unbeobachtet wähnt.“

5.7.2008: Natalia Lisboa: „Ein Lichtblick – der Blick eines liebenden Menschen.“

4.7.2008: Natalia Lisboa: „Amerika, du haßt es, besser zu sein, als andere, baust jetzt Trutzburgen alteuropäisch-finstermittelalterlicher Natur als Botschaften deiner Machtpolitik, mit der du unterm Mäntelchen der Demokratie die Grundrechte mit Füßen trittst, in Abu Ghuraib, Guantánamo und in unbekannten Folterkellern.“

3.7.2008: Friedhöfe – metaphysische Postämter. Grabsteine = Briefmarken. Gräber = Kuverts. In den Kuverts die Sendungen, die liegenbleiben. Der Geist wurde aufgegeben.

2.7.2008: Schlafen: eine Bootsfahrt, von der man nichts mitbekommt. Beim Aufwachen landet man am Ufer, mit Träumen im Netz.

1.7.2008: Ein dringend benötigtes Schulfach: „Schweigen, atmen, nichts denken.“

30.6.2008: Einen Menschen schätzen: den Schatz, der in ihm liegt, sehen können.

29.6.2008: Auch Mücken schmücken das dörfliche Leben.

28.6.2008: Der Tau auf dem Gesicht einer schlafenden Frau.

27.6.2008: Der Gedanke, Regenbogen aus Neuronen.

26.6.2008: Natalia Lisboa: „Ich betrat ein Großraumabteil voller Zugvögel.“

25.6.2008: Passanten, wandelnde Romane, von denen nur Fragmente zu lesen sind.

24.6.2008: Nachts im Federbett, wenn man das Federkleid des Engels trägt, schwebt man durch die Nacht. Morgens läßt man die Flügel im Bett zurück, erhebt sich als schwerfälliger Mensch.

23.6.2008: Acqua alta. Die unendlichen Touristenströme Venedigs – auch eine Sehenswürdigkeit.

22.6.2008: Schriftsteller, die Schreibmaschinen der Gesellschaft.

21.6.2008: Das flüchtige Gold, die schwebenden Sonnensterne auf dem Seespiegel, das bleibende Gold, mit keinem Hartgold der Welt aufzuwiegen.

20.6.2008: Liebe, ein Halluzinogen.

19.6.2008: Sich verlieben – ist das nicht dasselbe wie sich vertun, sich verfahren, sich verirren?

18.6.2008: Natalia Lisboa: „Ein dicker Regentropfen trifft meine Stirn. Ich schaue in den Himmel, sehe in großer Höhe eine kleine, weiße Wolke und bewundere ihre Treffsicherheit.“

17.6.2008: Ein Mensch schwimmt im See, im Auge der Natur.

16.6.2008: Natalia Lisboa: „Diese überschäumende Versammlung von Tränen, dieses rauschende Meer.“

15.6.2008: Trödelmarkt. Menschen, die ihre Zeit trödelnd verbringen, Zeitvertrödler.

14.6.2008: Die horizontale Stille des Sees, die ein Fisch vertikal durchbricht.

13.6.2008: Die Öffentlichkeit ist das Bewußtsein einer Gesellschaft. Die Prominenten sind ihre bewußten Gedanken. (Die Prominenten = prominente Menschen, Gebäude, Institutionen etc.)

12.6.2008: Jeans, die poetischste Hose der Welt?

11.6.2008: Natalia Lisboa: „Das erlösende Wort, das ihm auf der Zunge lag, entschlüpfte ihm als Kuß.“

10.6.2008: Traumhaftes Schlafen, traumhaftes Wachen – traumhaftes Leben.

9.6.2008: Das Leben: ein Kreativurlaub.

8.6.2008: Natalia Lisboa: „Tage sind die Verschnaufpausen von den Alpträumen der Nacht.“ – Natalia Lisboas Mutter Emanuela: „Nein, umgekehrt wird ein Schuh draus. Nächte sind die Verschnaufpausen von den Alpträumen des Tags.“

7.6.2008: Die Pille für den Mann – der Fußball.

6.6.2008: Babylon – der Ort, an dem viele Babys durcheinanderschreien.

5.6.2008: Jeden Morgen die gleiche Komödie: man setzt die Füße auf den Bettvorleger und beginnt seine Reise durch den Tag.

4.6.2008: Nachts wach liegen, weil einen der Schlaf langweilt.

3.6.2008: Im Traum, inmitten von Passanten, einen blinden Hund mit einem Blindenhund sehen. (Benötigt nicht jeder Mensch einen Blindenhund?)

2.6.2008: Statt „Amen“ nur noch „Atmen“ sagen. (So sei es.)

1.6.2008: Himmlisches Meer aus Bläue und weißen Cumulusschaumkronen.

31.5.2008: Wie einen die Hitze auszieht, zieht einen die Kälte an.

30.5.2008: Sommerbad: Leib und Seele verschwimmen.

29.5.2008: Jeden Morgen in sein Rollenkostüm schlüpfen. (Der Schlaf: die unkostümierte Zeit des Lebens par excellence.)

28.5.2008: Es gibt die Weltreligion des Bettismus. Dessen Anhänger liegen im Bett und sind erleuchtet.

27.5.2008: Wie man sich geradezu „geadelt“ fühlt, wenn in der S-Bahn der wildfremde Hund einen mit freundlicher Schnauze anblickt.

26.5.2008: Sommer: der Sand in der Kuhle des Liegestuhls.

25.5.2008: Auf den Wiesen die Meisen, sie haben was zu sagen. Auf den Wiesen die Weisen, sie haben nichts zu klagen.

24.5.2008: Sinnlich leben.

23.5.2008: Ausgehen und die Schönheit an unvermutbaren Stellen entdecken.

22.5.2008: Das Leben der Fluß, den man durchquert, ohne seine Ufer zu sehen.

21.5.2008: Kindheit: Drachen steigen lassen und dabei nie an Drachen denken.

20.5.2008: Wo viele gehn, wächst kein Gras mehr; dafür kommt ein Weg zum Vorschein.

19.5.2008: Versemmelte Tage, die Sonntage der Seele.

18.5.2008: Man könnte den Weg auch „den Hin“ nennen. Du gingst auf dem Hin und warst dann da.

17.5.2008: Mit jeder Lichtwerdung zerbricht das Ei der Geborgenheit.

16.5.2008: Die Verkäuferin spricht von Armbanduhren, und alles, was ich verstehe, sind Amouren.

15.5.2008: Mensch, ein denkender Teil des Ganzen, der sich sein Teil denkt.

14.5.2008: Bibeltreue könnten sagen: das Gesicht ist die Brandmarke Gottes.

13.5.2008: Ist eine buddhistische Tageszeitung vorstellbar? Wie wären ihre Sätze formuliert? Auf welcher Seite würde man beim Lesen in einen meditativen Zustand geraten? Auf der „Panorama“- oder auf der „Sport“-Seite?

12.5.2008: Natalia Lisboa kritzelt aus Sintra: „Ein Gedicht sollte nur so lang sein, daß man es bei Ebbe bequem in den nassen Strand schreiben kann. Wie alle Gedichte verschwindet es mit der kommenden Flut. Die Schaumkronen des Meers erinnern an die verlorenen Gedichte.“

11.5.2008: Die innere Tür entriegeln und weit öffnen, um ein guter Geistgeber zu sein.

10.5.2008: Was hat „vielleicht“ eigentlich mit „viel“ und „leicht“ zu tun? Wenigschwer, daß einem vieles leicht fällt?

9.5.2008: Philosophieren: sich etwas vormachen – so, als wäre man sein eigener Lehrer, der einem etwas vormacht, damit man es ihm nachmacht.

8.5.2008: Die Welt, ein verwunschener Ort (= die lang gesuchte Utopie).

7.5.2008: Wie ein Schiffsbug durchs Wasser, so segelt das Gesicht durch die Winde.

6.5.2008: Natalia Lisboa: „Nachts leuchtet es, das Nichts des Tages.“

5.5.2008: Die Mimik, das lebendige Portrait des Inneren.

4.5.2008: Was der Frühling wieder zu Gehör bringt – das Rauschen des Regens in den Baumblättern.

3.5.2008: Frühling – dieses pflanzliche Gewitter des Werdens, das du einmal im Jahr über dich ergehen läßt.

2.5.2008: Natalia Lisboa kritzelt beim Nüsseknabbern: „Leibliche Genüsse = geistige Genüsse. Geistige Genüsse = leibliche Genüsse.“

1.5.2008: Der Angesehenste ist der Frühling. Alle sehen ihn an und werden verwandelt.

30.4.2008: Der Bauminnenraum, der durch die Blätter entsteht, der Kreißsaal der Vogelnester.

29.4.2008: Es gibt keine Nobodys. Jeder ist körperlich.

28.4.2008: Das Sonnenlicht näht die Blätter aus den Knospen.

27.4.2008: Ein Augenpaar, Meeresspiegel.

26.4.2008: Etwas bewegen = einen Weg finden.

25.4.2008: Jeden Morgen sich aufmachen und zur Insel des Augenblicks schwimmen.

24.4.2008: Wer sich selbst vergißt, erinnert sich an die Welt.

23.4.2008: Niemand steigt zweimal in denselben Gedankenfluß.

22.4.2008: Recht hatte Jean Paul, Bücher sind „nur dickere Briefe an Freunde“. Er hätte aber hinzufügen können, daß meist der Empfänger dafür bezahlt.

21.4.2008: Sich im Kreis drehen heißt, wenigstens für eine geometrische Figur gut sein.

20.4.2008: Jeder Tag, an dem die Sonne scheint, ist ein Sonntag.

19.4.2008: Philosophieren, mit der Weisheit ein intimes Gespräch führen.

18.4.2008: Das Leben, der Landweg zwischen zwei Meeren.

17.4.2008: Humor zulassen = sich ermutigen lassen.

16.4.2008: Sich mit eiskalten Gedanken wachduschen.

15.4.2008: Sobald man auf die Straße tritt, übernimmt man die Hauptrolle in der Comédie humaine. (Es gibt nur Hauptrollen.)

14.4.2008: Im Halbschlaf meditierende Katzen, Mönche des Tatzen-Buddhismus.

13.4.2008: Die Kiesel, die am Grund des Bergflusses funkeln, gefallene Sterne.

12.4.2008: Die Blüte, das Hochzeitskleid der Pflanze.

11.4.2008: Das Leben, eine Zeitung.

10.4.2008: Federbett, die Haufenwolken, unter denen du träumst.

9.4.2008: Lebenskunst, das Versprechen, das der Morgen macht, bis zum Abend erfüllen.

8.4.2008: Gedanken, die Bienen, die zur Blütenlese ausschwirren.

7.4.2008: Die Augen aufschlagen, wenn die Sonne aufgeht. Die Augen niederschlagen, wenn es regnet.

6.4.2008: Der Schlaf eine Brücke, sie führt dich ans Ufer des neuen Tags.

5.4.2008: Das Denken, das mit den Dingen der Welt spielt, das Denken, das einen auf der Welt einbürgert. Es macht dich zum Weltbürger.

4.4.2008: Liebe. Sich im Gegenüber finden und verlieren.

3.4.2008: Am See. Zwischen gespiegelten weißen Wolken in den blauen Himmel tauchen.

2.4.2008: Kinder und Blumen, eine Augenweide.

1.4.2008: Das Leben ist der April, in den du geschickt wurdest.

31.3.2008: Die Knospen der Tage im Frühling schweigen und lächeln dich vielsagend an.

30.3.2008: Der Kuß ist das Wort, das dir am liebsten über die Lippen kommt.

29.3.2008: Das Lächeln einer Frau, die Blüte einer Blume.

28.3.2008: Philosophieren: sich sich selbst überlassen und beobachten, was dabei geschieht.

27.3.2008: Man befindet sich im Café und sieht draußen eine Frau vorübergehen, als wäre sie ein Bild für das Leben. Man sieht sie mit Staunen, Zuneigung und Traurigkeit.

26.3.2008: Aufwachen in den Tag ist der tägliche Exodus aus dem Dunkel, aus dem du ursprünglich kommst. Das Dunkel, in das du am Ende zurückkehrst.

25.3.2008: Bushaltestellen, die Zentren des Wartens, Wartens auf Geschichte.

24.3.2008: Der Geist eines Menschen ist das Gemälde seines Lebens.

23.3.2008: Das Pilgern der Ungläubigen ist der Spaziergang durch die Welt. Ein Spaziergang ohne Ziel, nur der Nase nach.

22.3.2008: Einsamkeit ist der stabile Untergrund der sozialen Welt.

21.3.2008: „Einen nichtswürdigen Menschen“ – gibt es den? Würdig des Nichts. Es müßte sich um einen bedeutenden Menschen handeln. Wer wäre schon des Nichts würdig?

20.3.2008: Natalia Lisboa: „Der gerade beginnende Frühling erinnert an die Zeit der Jugend. Alles liegt vor einem.“

19.3.2008: Immer kürzere Bücher schreiben, bis am Ende ein Buch mit nur einem Wort herausspringt, oder nicht einmal mit einem Wort, sondern ohne dieses. Ein Buch, in dem geschwiegen wird, über hunderte von Seiten hin.

18.3.2008: Spazierengehen, die Augen ernähren.

17.3.2008: Die Frauen, Hieroglyphen.

16.3.2008: Natalia Lisboa: „Erst dann zu sich kommen, wenn der Andere zu einem kommt.“

15.3.2008: Auch die Steinzeitmenschen erlebten den Wechsel von Sonnenschein, Regen, Wind, Schneefall, Stille. So gesehen hat sich seither nicht viel verändert.

14.3.2008: Wolken, Besprenkelungsanlagen.

13.3.2008: Schreiben: querfeldein gehen, um wieder besser Fuß zu fassen.

12.3.2008: Natalia Lisboa nach einem Scala-Besuch: „Wir wechselten miteinander ein paar Worte, es spielte keine Rolle, welche, Hauptsache, wir wechselten sie. Jetzt trage ich sie mit mir wie Kieselsteine, die ich am Strand eingesackt habe.“

11.3.2008: Gedanken, Stromschnellen des Blutkreislaufs.

10.3.2008: Ihr Müßiggang, ihre legere Art zu gehen.

9.3.2008: Die Hände eines Säuglings vollführen pantomimische Tanzbewegungen.

8.3.2008: So lange auf dem Alexanderplatz stehen (eine Ewigkeit), bis man den aufragenden, über und über blühenden Weißdorn bemerkt.

7.3.2008: An den Klippen eines geliebten Menschen hängen.

6.3.2008: Das Gewicht einer Träne ist das Gewicht der Welt.

5.3.2008: Indem die Wolken sichtbar sind, enthüllen sie das Unsichtbare.

4.3.2008: Philosophieren heißt auf andere Gedanken kommen.

3.3.2008: Sätze, Ornamente über dem Schweigen.

2.3.2008: In den Tag hinein leben ist eine Kunst. Lebst du in den Tag hinein, lernst du ihn von innen kennen.

1.3.2008: Das Meer, Monarchie der Schaumkronen.

29.2.2008: Der 29. Februar, dieser mirakulöse Tag, ein Feiertag. Wäre er ein Mensch, müßtest du ihn umarmen.

28.2.2008: Sich in der Stille eines Sees spiegeln, sie in sich aufnehmen und mit nachhause tragen.

27.2.2008: Wer versehentlich in eine Pfütze tritt, soll sich nicht ärgern, lieber erinnern, welches Vergnügen er als Kind dabei hatte, von Pfütze zu Pfütze zu springen. Vielleicht tut er es als Erwachsener dem Kind nach und springt wieder von Pfütze zu Pfütze.

26.2.2008: Zebrastreifen, Afrika auf der Straße.

25.2.2008: Natalia Lisboa schreibt aus Paris: „Es wird zuviel gequatscht – der Mund ist zum Küssen da.“

24.2.2008: Philosophieren heißt auf Erkenntnisverhütung verzichten.

23.2.2008: Sehnsucht die belebende Fontäne in deinem Inneren.

22.2.2008: Die beste Schule ist der Mensch, aus dem du schlau wirst.

21.2.2008: Einen in der Krone haben, das geht auch in nachmonarchischen Zeiten.

20.2.2008: Der Zug, eine in die Länge gezogene Kutsche mit Bar.

19.2.2008: Welche Diät hilft mir, ein paar Kilogramm Unwissen loszuwerden?

18.2.2008: Wörter wie Stocktrauben und Baumfrüchte lesen und in Prosawein und Lyrikschnaps verzaubern.

17.2.2008: Zuhause: der Ort, wo dich jemand anheimelt.

16.2.2008: Auch zwischen den Zeiten lesen.

15.2.2008: Weil es flüchtig ist, muß das Glück etwas verbrochen haben.

14.2.2008: Eine Botschaft des Lebens eröffnen, in jeder Hauptstadt – zum Beispiel in Berlin am Pariser Platz neben dem Brandenburger Tor. Es gäbe für sie keine Sicherungsmaßnahmen, keine Videokameras, kein Wachpersonal. Jeder dürfte sie betreten, sich in ihr erfrischen, drin bleiben, raus gehen, ganz nach Gusto.

13.2.2008: Mit den Augen Bündnisse schmieden, augenblickelang.

12.2.2008: Man spürt das Gewicht des eigenen Gehirns nicht.

11.2.2008: Jeder ist sich ein Gedicht, meist unbemerkt, ungelesen, unverstanden.

10.2.2008: Gedanken in Worte fassen – sie wie Trauben in ein Faß schütten und zu Wein reifen lassen.

9.2.2008: Früher lagen die Geschichten auf der Straße. Heute sind sie aufgehoben in die Schilder am Straßenrand, und was diese schildern, sind Gebote und Verbote.

8.2.2008: Avantgarde, Nachhut sein.

7.2.2008: Spaziergang, zivilisierte Form der Flucht aus dem Alltag.

6.2.2008: Sich etwas abschminken, aber wann hat man sich geschminkt?

5.2.2008: Damit sie in ihrem späteren Leben ihre Sache verfechten könnten, lernten die Schüler fechten.

4.2.2008: Selbstvergessenheit, Sonntag der Reflexion.

3.2.2008: Gerade zur Narrenzeit sind die Narren keine Narren. Die im Alltag in Wirklichkeit närrischen Normalen nehmen an Fasching eine Auszeit von ihrem Narrentum. Paradoxer- oder närrischerweise tun sie das, indem sie sich als Narren verkleiden. Gerade in der Verkleidung des Narren befreien sie sich für ein paar tolle, im Grunde normale Tage von ihrem ansonsten das ganze Jahr über andauernden Narrentum.

2.2.2008: An den Wolken sich festhalten, mögen sie auch flüchtig und flatterhaft sein.

1.2.2008: Schengener Land. Den Berg hinaufwandern und die Schneefallgrenze überqueren, ohne kontrolliert zu werden.

31.1.2008: Kunstlos sprechen ist Kunst, wenn es kunstvoll geschieht.

30.1.2008: Schönheit besticht, und man läßt sich gern von ihr bestechen.

29.1.2008: Ich saß lang im Wald. Plötzlich landete eine Eule auf einem Ast neben mir und sah mir in die Augen. Mit einem Flügel strich sie sacht über ihre Federohren. Dann verstand ich, daß sie sich in meinen Augen spiegelte.

28.1.2008: Unglück ist auch eine Art Glück.

27.1.2008: Im Bambus sitzen und sich ins Nichts schaukeln lassen.

26.1.2008: Die japanische Schrift ein Bambuswald.

25.1.2008: Meditieren – sich entkleiden.

24.1.2008: Jena. Ein Haus, ein Garten, der alte Steintisch, an dem Goethe und Schiller manch gutes und großes Wort miteinander wechselten. Und hinterm Zaun an der Ampel wartet das Auto, aus dem das Geschrei einer Nazi-Band dröhnt.

23.1.2008: Sich zusammenreißen und die Stücke neu zusammenfügen.

22.1.2008: Die Vorstädte, Überröcke der Großstadt.

21.1.2008: Wind und Kind. Geh vor die Tür, der Wind fragt nach dir. Der Regen murmelt, die Straße schweigt. Der Weg ist weit. „Was willst du, Wind?“ „Bist du das Kind?“ Die Sonne blickt hervor durchs Wolkentor, unterm Regenbogen glätten sich die Wogen, der Fluß glänzt bunt. Kind, öffne deinen Mund. „Ob ich das Kind bin? Was, wenn ich der Wind bin?“ „Wenn du der Wind bist, dann laß uns gehn und vereint durch die Straßen wehn.“ Kind und Wind seitdem zusammen sind.

20.1.2008: Der Schauplatz, das Gesicht.

19.1.2008: „Das Unsagbare sagen, das Unmögliche möglich machen.“ (Edgar Allans Poesie)

18.1.2008: Natalia Lisboa: „Ich sah einen unmöglichen Menschen und atmete auf.“

17.1.2008: Wie das Meer hat der Mensch Ebbe und Flut.

16.1.2008: Sich großes vornehmen – dasitzen und nichts tun.

15.1.2008: Es schmückte sie, daß sie keinen Schmuck trug.

14.1.2008: Dem geliebten Menschen Küsse aufhalsen.

13.1.2008: Wann hast du zum letzten Mal jemanden aus Begeisterung weinen sehen?

12.1.2008: So wie man fürs Wohlbefinden Sport treibt, mag man sich vielleicht zwei bis dreimal im Monat verirren, um sich zu erfrischen.

11.1.2008: Vor Glück zittern wie ein Angsthase.

10.1.2008: In den Wolken schlafen Träume. Wenn es regnet, schweben sie zur Erde nieder.

9.1.2008: Ein Gemälde, Röntgenbild des Geistes.

8.1.2008: Schweigen ist Teil jedes guten Gesprächs.

7.1.2008: Grauer Alltag – ein anmutig gefärbter Tag.

6.1.2008: Die Liebe eine Kosmetikerin. Wer sich von ihr massieren läßt, wird schöner.

5.1.2008: Ein Raumtagebuch führen: welche Räume habe ich heute durchschritten und was durfte ich dabei empfinden?

4.1.2008: Ober- und Unterlippe sind wie zwei Leiber, die sich immer wieder aufeinanderlegen, einander liebend schweigen sie.

3.1.2008: Weghören, so wichtig wie hinhören.

2.1.2008: Ins Kino gehen, sich etwas träumen lassen.

1.1.2008: Ein neuer Tag, ein neues Jahr im kleinen.

31.12.2007: Zuversicht, Blick auf das Anrollen des tosenden Meers.

30.12.2007: Einst trugen Männer Hut, sie waren behütet. Heute sind sie entweder unbehütet oder bemützt. Die Mützen geben den Älteren das Gepräge der Fitneß und Jugendlichkeit.

29.12.2007: Es gibt keine Noteingänge.

28.12.2007: Sätze schreiben, die wie Passanten an dir vorübergehen und dich berühren.

27.12.2007: Träume lösen sich wie Seifenblasen, schweben von dir fort; du siehst ihnen nach, sie zerplatzen.

26.12.2007: Rauh sein, reif sein. Rauhreif sein.

25.12.2007: Schreiben: jemandem zusprechen. Lesen: Zuspruch erfahren.

24.12.2007: Jede Nacht, in der du gut und tief schläfst, sollte dir heilig sein.

23.12.2007: Von den Kindern geerbt – des Lebens ernstes Spielen.

22.12.2007: Paris Hilton, eine Mona Lisa des Medienzeitalters.

21.12.2007: Ideal: die Zartheit, die ein Kind im zartesten Alter hat, auch als Erwachsener haben.

20.12.2007: Zwei Leser schauen sich an wie Kollegen.

19.12.2007: Küsse sind Lippenbekenntnisse.

18.12.2007: Der Himmel auf Erden – der Privathimmel, den Verliebte über sich aufspannen.

17.12.2007: Theorie der Rillen auf einem Apfelbaumblatt. Setzt man nur die Nadel der Phantasie drauf, erklingen frühlingshafte Lieder.

16.12.2007: Leben: immer wieder aufwachen, ans Licht der Welt tauchen.

15.12.2007: Schreiben: umhertollen wie ein Kind.

14.12.2007: Die Erde ein Raumschiff, die Erdlinge Kosmonauten.

13.12.2007: Landstreichler sein.

12.12.2007: Gefräßiger Grund? Einer nach dem anderen wird vom Erdboden verschluckt.

11.12.2007: Die Liebe ein Glücksspiel, das älteste der Welt.

10.12.2007: Im Zug. Die tschechischen Schaffner stempeln die Fahrkarten. Das hat etwas von k. und k.-Amtsstube.

9.12.2007: Schreiben: wie ein Kind einen Satz machen.

8.12.2007: Die Welt ist das Haus des Lebens, auch, wenn es in Trümmern liegt.

7.12.2007: Liebe heißt jemanden auch mit den Augen in den Himmel tragen.

6.12.2007: Jeden Tag der Zeit ins Gesicht sehen als wärst du frisch in sie verliebt.

5.12.2007: Jemanden bewundern, ihn als Wunder sehen.

4.12.2007: Das Leben eine Zimmerflucht. Vom Mutterbauchzimmer an durchläuft der Mensch im Laufe seines Lebens mehrere Zimmer bis er endlich im Sargzimmer landet.

3.12.2007: Einen Menschen getroffen, der seit Jahrzehnten im Licht der Sterne ein Nächtebuch führt.

2.12.2007: Liebe, Unterschlupf anbieten.

1.12.2007: Liebesgeplauder. Weil die Zahl der Nähkästchen, aus denen zu plaudern wäre, abnimmt, mußt du dich um so mehr an den Nähekasten halten, das Bett, und aus ihm heraus plaudern.

30.11.2007: Manchmal hat man das Gefühl, daß man sich selbst gegenüber inkognito bleiben möchte.

29.11.2007: Der November der Eremit unter den Monaten, still, düster, ohne Putz.

28.11.2007: Ein abgebrühter Mensch muß mal Schmerzen gelitten haben.

27.11.2007: Die Trübnis eines trüben Tages ist auf eigene Weise schön.

26.11.2007: Straßen sind trockene Flüsse, Autos Boote mit Rädern.

25.11.2007: Ein Tagebuch könnte man auch Regelbuch oder Buch der Periode nennen.

24.11.2007: Obdachlose sind öffentliche Personen. Öffentliche Personen Obdachlose.

23.11.2007: Ein Haus ohne Bücher gleicht einem Kopf ohne Geist.

22.11.2007: Schleichende Mobilmachung der Bevölkerung? Immer mehr Zivilisten tragen Tarnkleidung.

21.11.2007: Wach sein heißt sein Leben bewachen, damit nichts passiert.

20.11.2007: Lieben, jemanden beatmen.

19.11.2007: Junge Paare studieren Wirschaftswissenschaften. Alte Paare sind Wirschaftsweise.

18.11.2007: Allzweckaffe – ein anderes Wort für Mensch.

17.11.2007: Ideal: sich jeden Tag einen Denkzettel verpassen.

16.11.2007: Egal, wie weit du dich von deinen Wurzeln entfernst – irgendwann heißt es: back to the roots.

15.11.2007: Menschen benötigen Sauerstoff und Süßstoff (die Liebe).

14.11.2007: Manche Wintertage sind lediglich fadenscheinige Kopien der Nacht.

13.11.2007: Was not tut: Erwachsenenspielplätze.

12.11.2007: Was ist Ehrfurcht anderes als Furcht vor dem wirklichen Nichtwissen? Die Hochform, in die ein Mensch sich bringen kann, ist diese Furcht. Nicht „Fürchtet euch nicht...“ soll es heißen, sondern: „Fürchtet euch... denn ihr wißt tatsächlich nichts...“ Erst das Wissen vom eigenen Nichtwissen macht den Menschen zu einem interessanten Idioten.

11.11.2007: Frauenhandschriften haben meist rundere Formen als Männerhandschriften.

10.11.2007: Man muß sich verfragen, um Neuland zu finden.

9.11.2007: Die eingebildeten Fahrten des Lebens bestreiten, so gut es geht.

8.11.2007: Begeistert sein, von einem Geist bewohnt werden.

7.11.2007: Konsum, ergo sum.

6.11.2007: Jeder Tag hat eine Lücke, durch die das Unbegreifbare greift.

5.11.2007: Enttäuschung heißt die Täuschung erkennen, der man aufgesessen ist.

4.11.2007: Eine Wallfahrt der aufgeklärten Menschheit ist die Allfahrt.

3.11.2007: Das Leben eine Fahnenstange. Irgendwann ist ihr Ende erreicht.

2.11.2007: Ideale sind nützliche Halluzinationen.

1.11.2007: Wo es Friedhöfe gibt, gibt es auch Kriegshöfe.

31.10.2007: Leben ist der Wechsel von horizontal und vertikal.

30.10.2007: Heimat ist der Ort, an dem du etwas verloren hast.

29.10.2007: Selbst wenn man sich in ein Erdloch verkriecht, kommt man nicht umhin, Weltbürger zu sein.

28.10.2007: Menschen sind Arbeiter im Weinberg des Hirns.

27.10.2007: Es gibt Menschen, die das Leben absitzen wie eine Gefängnisstrafe.

26.10.2007: Manche Menschen sind eine Kur: Man sieht und hört sie und gesundet.

25.10.2007: Herbst, blattgoldene Wege gehen.

24.10.2007: Menschen irrlichtern durchs Leben.

23.10.2007: Manchmal scheint das Leben vor einem selbst so verborgen zu sein wie ein Fluß im Nebel.

22.10.2007: Das Leben der Ort, an dem man sich einleben muß und an dem man sich auslebt.

21.10.2007: Natalia Lisboa kritzelt in einem Brief aus Sintra: „Ein Leben, das nicht Tage kennt, an denen man nichts denkt, nichts sagt, höchstens nur Gedanken denkt und Worte sagt, die so haltbar sind wie eine Welle am Strand oder ein Blatt, das der Wind trägt, wäre kein gutes Leben. Zu einem solchen gehört das Unvollkommene. Wer die Vollkommenheit sucht, schließt die Narben des Unvollkommenen mit ein.“

20.10.2007: Frauen, die in Pflanzungen reden. Frauen, die Pflanzungenküsse geben.

19.10.2007: Die letzten Kolonien der Deutschen sind die Kleingartenkolonien.

18.10.2007: Ein schöner Mensch kommt einem entgegen, und man wurzelt verzaubert auf dem Gehsteig fest.

17.10.2007: Ins Schweigekonzert gehen. Dem schweigenden Chor lauschen und ein klügerer Mensch werden.

16.10.2007: Tagedieb. Tagederb.

15.10.2007: Dichter alphabeten.

14.10.2007: Auch der Herbst ist ein Frühling. Die Welt erblüht in Baumfarben.

13.10.2007: Bei dem, was man sagt, soll ein Schweigen mitschwingen. Das Schweigen ist auch ein Fragezeichen des Lebens. Ohne Fragezeichen wachsen keine Flügel.

12.10.2007: Ein Gedicht, die Blume auf dem Misthaufen der Sprache.

11.10.2007: Dichterberuf: ein Lebenswörtchen sagen.

10.10.2007: Das älteste Gewebe der Welt: das Horizontgewebe der Dichter. Dichter weben mit den Fäden des Alphabets Horizonte ins Auge des geneigten Lesers.

9.10.2007: Pathetisch – immer opulent gedeckt.

8.10.2007: Sinnieren = etwas sinnvolles tun.

7.10.2007: Der Mensch ist eine Zeitblume.

6.10.2007: Ein Kunststück: sich nicht von der schlechten Stimmung anderer anstecken lassen.

5.10.2007: Lesen und den Geist umbuchen.

4.10.2007: Herbst. Der schöne Schein der Bäume blättert ab. Das Gerippe tritt hervor.

3.10.2007: Der morgendliche Kaffeegenuß ist für viele die letzte Bastion des Paradieses.

2.10.2007: Auch den Augen und Ohren ein Frühstück bereiten.

1.10.2007: Jemanden anfeuern, jemanden brennen lassen. Der Schädel die Feuerstelle des Geistes.

30.9.2007: Wörter sind Steine. Man kann mit ihnen Häuser bauen, Menschen erschlagen.

29.9.2007: Jede Erzählung ist im Grunde endlos. Immer läßt sich ein Wort hinzufügen.

28.9.2007: Lebensziel eines Kindes: „Bloß leben.“ Bloß, das heißt auch entblößt, schutzlos, machtlos, frei.

27.9.2007: Leben, Wechsel von schwach sein, wach sein.

26.9.2007: Das bestellte Gericht im Lokal gibt es nur, wenn auch das Land vor den Fenstern bestellt ist. Bauern heißen nicht umsonst Landwirte.

25.9.2007: Wolken, Jalousien der Erde.

24.9.2007: Was ist der Mensch anderes als ein Taugenichts? Er ist so wirklich und so flüchtig wie Tau.

23.9.2007: Die Erde, ein Tropfen im Weltall.

22.9.2007: Jemandem beiwohnen ist die höchste Form von Wohnkultur.

21.9.2007: Das Schicksal ist nicht schick. Es ist unschick. Soll es Unschicksal heißen?

20.9.2007: Philosophieren – sich vergewissern, daß man nichts weiß.

19.9.2007: Ins Leben verliebt sein. In den Nebel verirrt sein.

18.9.2007: Immer baden gehen, im Laub, im Schnee, in der Luft, im See. Die Badesaison ist nie zu Ende.

17.9.2007: Natalia Lisboa schreibt aus dem Berufsverkehr, in dem sie am Rossio steckt: „Es gibt die Pflicht, glücklich zu sein. Auch im Stau.“

16.9.2007: Was in den Märchen die Riesen, sind in der wirklichen Welt die Türme. Einen Turm besteigen und die eigene Kleinheit hinter sich lassen. Auf dem Turm stehen, auf der Schulter eines Riesen, und die unten liegende Welt mit den Augen des Riesen betrachten. Einstürzende Türme einstürzende Riesen.

15.9.2007: Fußball wird schön, wenn man wie bei einem Tanzball tänzerisch mit dem Ball spielt. Fußball ist geselliger Tanz.

14.9.2007: Das Gehirn das größte erdnahe Labyrinth. Dank dem Luftgeist Ariel entfliehen Enten aus diesem Irrgarten und fliegen in die freien Lüfte. Gedanken sind die im Himmel schwirrenden Enten.

13.9.2007: Der Körper Korb des Lebens.

12.9.2007: Liebe, das Hoheleid des Leibs kurieren.

11.9.2007: Statt kapitulieren lieber rekapitulieren.

10.9.2007: Eine schöne Tat – die Flinte ins Korn werfen.

9.9.2007: Jedes Haus sollte einen Tanzboden haben.

8.9.2007: Ideal: Lyrische Dunkelheit, feinsinnig ins Nichts überleitend.

7.9.2007: Manche Menschen wohnen in einem Saustall.

6.9.2007: Auch nach dem jüngsten Gericht gibt es einen Digestif.

5.9.2007: Für den inneren Schweinehund gilt Maulkorbzwang.

4.9.2007: Not gebiert Notizen.

3.9.2007: Für Ordnung mußt du sorgen. Unordnung entsteht von selbst.

2.9.2007: Augen, Auen der Tränen.

1.9.2007: Dem Leben eine Wende geben. Beim Spazieren unerwartet in eine andere Richtung gehen.

31.8.2007: Regen, ein senkrechter Fluß.

30.8.2007: Sommer heißt sich unter dünner Wasserdecke im Flußbett erholen.

29.8.2007: Junge Naive sucht Alternative.

28.8.2007: Bei vollem Mond sprich nicht. Bei vollem Mond kritzle ein Gedicht.

27.8.2007: Am Anfang war es finster. Dann baute jemand Fenster.

26.8.2007: Das Sonnenlicht, frühmorgens an der Innenseite des Fensters erscheinend, Espresso für die Augen.

25.8.2007: Wenn ein „ich“ liebt, wird es licht.

24.8.2007: Einmal in der Woche freundgehen.

23.8.2007: Man ist Zuschauer und Spieler gleichzeitig. Man schaut zu und spielt mit. Man ist Schauspieler.

22.8.2007: Sie steht gern früh auf. Sie, ein frühlicher Mensch.

21.8.2007: Der Mann, der gerade seinen Regenschirm aufgespannt hat und jetzt unter der Kunststoff-Kuppel feierlich weitergeht.

20.8.2007: Das Gefühl, wenn man in einer Sommernacht durch die Wiesen geht und eine Grille zirpt, ist das Gefühl nimmermüden Lebens.

19.8.2007: Ein anderes Paradies – die Streuobstwiese, in der einem der Apfel fast von selbst in die Hand fällt.

18.8.2007: Das Beispiel – ein Spiel, das du öfters spielen solltest.

17.8.2007: Einen Teil des Lebens verschläft man, eine Zeit arbeitet man, ein Teil geht mit der Erledigung der Formalitäten drauf. In der restlichen Zeit kümmert man sich um die Katze.

16.8.2007: Tage sind manchmal aufgeschreckte Vögel, die über einen hinwegziehen.

15.8.2007: Das hartnäckige Gefühl, daß jeder Tag ein Feiertag ist.

14.8.2007: Jeder Mensch ein Seufzender. Von Zeit zu Zeit seufzt er. Vermutlich seufzt er als Kind zum erstenmal, vermutlich im Gespräch mit seinen Eltern.

13.8.2007: Jeden Tag so leben, als gäbe es einen Schatz zu finden – und dann den Schatz tatsächlich finden.

12.8.2007: Im Nichtstun Fortschritte machen – darauf kommts an.

11.8.2007: Sänger: Menschen, die große Töne spucken.

10.8.2007: Wer immer das Niemandsland erfunden hat, er tat gut daran, denn wo sonst sollte man aufatmen, wenn nicht dort?

9.8.2007: Jemand kniet nieder. Er bindet seinem Kind die Schuhe.

8.8.2007: Im Schlaf ähnelt der Mensch dem Schaf; deshalb kuschelt er im Bett so weich, so brav.

7.8.2007: Der Schlaf ist erholsam, weil er einen für eine Zeit vom Leben erlöst.

6.8.2007: Die Sommertage, wenn warmer Wind geht und das Flirren des Blätterschattens auf dem Gras dich kirre macht, sind homerische Tage. Tage des strauchelnden Gesprächs und eines vom Wind hinweggetragenen Gelächters. Tage, in denen Sonnensterne auf dem goldenen Wein in die Runde blinzeln.

5.8.2007: So wie man in einer Wohnung, in der eigenen Bibliothek, Entdeckungen machen kann, so macht man auch in sich Entdeckungen – unliebsame wie liebsame.

4.8.2007: Als der Mensch das Flugzeug entwarf, wurde er flügge. Menschen, Vögel mit künstlichen Flügeln.

3.8.2007: Jede abschätzige Betrachtung hat sich schon verloren ins Nichtlebendigsein. Die Beschreibung des Lebens ist ein fröhliches Tun.

2.8.2007: Den Weg gehen, den es noch nicht gibt, der erst im Gehen entsteht, ist ein Abenteuer.

1.8.2007: Zuversicht schenken ist wahrscheinlich das sinnvollste Geschenk, das du machen kannst.

31.7.2007: Man sagt, man soll mit anderen nicht allzu streng sein, sich lieber selber anstrengen und so jemand werden, der ganz unangestrengt lachen kann. Wo Menschen lachen, entstehen hübsche Sachen.

30.7.2007: Innere Wolken reißen auf, wenn du bilderreich denkst.

29.7.2007: Fragen, die einen wirklich interessieren, sind der Wind in den Segeln des Lebensschiffs.

28.7.2007: Pan. Wo man Ja zu Pan sagt, muß Japan sein. Die alten Griechen, die ihren Hirten- und Röhrengott Pan verehrten, müssen Japaner avant la lettre gewesen sein. Das moderne Japan ist zu einem Gutteil nur die Fortsetzung des antiken Griechenlands mit anderen Mitteln.

27.7.2007: Auch in der Ernüchterung liegt etwas Berauschendes.

26.7.2007: Den bewundernden Aufblick – zu was auch immer, zum Himmel, zu den Wolken, den Schwalben, zur Decke der Sixtinischen Kapelle oder in die Augen des Gegenübers – ihn benötigst du, wenn nicht jeden Tag, doch einmal pro Woche.

25.7.2007: Das Karussell – von dem man oft nicht weiß, wie man es schreibt, mit zwei r? einem s? mit einem oder zwei l? – ist das Jahrmarktsgefährt schlechthin. Denkst du an es oder siehst du eins, empfindest du unmittelbar Freude. Der Mensch geht von seiner körperlichen Verfassung her geradlinig; das Sichimkreisdrehen der Kinder auf dem Boden oder, in höherer Kulturform, das Kreisen im Karussell, ist der vergängliche Sonntag des Gehens..

24.7.2007: Wenn zwei unter einer Decke stecken, handelt es sich um eine Form von Liebe.

23.7.2007: Natalia Lisboa schreibt aus Sintra: „Jeden Morgen liest man in der Zeitung das Wort Fortsetzungsroman, und man wundert sich, wenn man darin liest, daß er nicht von einem selber handelt. Wäre das nicht für eine Zeitung etwas, das sie leisten müßte? Zu erzählen vom eigenen Leben? Jedes Leben ist schließlich ein Fortsetzungsroman – jeden Morgen setzt man den eigenen Roman fort, und so entsteht das Lebensganze. Und wie bei jedem Roman, der auf sich hält, gibt es im Leben keinen glücklichen Ausgang.“

22.7.2007: Es ist Lebenskunst, wenn aus einem Muß durch Adoption eines e Muße entsteht.

21.7.2007: Kunst ist Ausdruck der Sehnsucht.

20.07.2007: Damit einem etwas einfällt, muß man die innere chinesische Mauer schleifen und die Gedanken-Mongolen zum Einfallen einladen; sie werden sich nicht zweimal bitten lassen. Man trägt China, das Reich der Mitte in sich. Mongolen, sind sie nicht die in ihm umherstreifenden Hirngespinste zu Pferde?

19.7.2007: Wenn einem etwas nicht mundet, darf man deshalb nicht gleich maulen.

18.7.2007: Hereinspaziert, hereinspaziert! So könnte man jedes Neugeborene begrüßen. Hereinspaziert in den verrücktesten Zirkus des Universums.

17.7.2007: Kino. Im Freien übernachten und zu den Sternen aufschauen.

16.7.2007: Dort, wo eine Frau und ein Mann zärtlich sind, entsteht ein Gedicht.

15.7.2007: Bäume und Wiesen sind klangliche Leinwände des Windes.

14.7.2007: Küsse, Gymnastik der Lippen.

13.7.2007: Eine anziehende Frau, sie wird von so vielen geliebt: Miß Verständnis.

12.7.2007: Ideal: Das Leben spielerisch führen.

11.7.2007: Gesellschaftskunst. Der Mensch ist von Natur aus verführbar. Es kommt darauf an, sich zum Gelingen sozialen Miteinanders verführen zu lassen.

10.7.2007: Wer täglich ein Humorbad nimmt, hält den Geist frisch.

9.7.2007: Die Liebe ist die einzige Weltmacht, die von ihren Untertanen anerkannt wird.

8.7.2007: Leben heißt in der Fremde heimisch werden müssen.

07.07.07: Die Musik, die du hörst, wenn das Licht durch die Blätter rieselt, macht dich zum träumerischen Kind, das die Zeit nicht kennt.

6.7.2007: Ein Spaziergänger schreibt sich in die Landschaft ein.

5.7.2007: In den Regen hinaufschauen und sich den Kopf waschen lassen – die Gelegenheit sollte man sich nicht entgehen lassen.

4.7.2007: Schallplatten, lange Jahre nicht gehört: Zeitfloße, die dich in längst verflossene Zeiten zurücktragen.

3.7.2007: Regengüsse, diese wilden Küsse des Himmels.

2.7.2007: Antworten geben auf drängende Fragen heißt Verantwortung übernehmen.

1.7.2007: Fangerles ist das Urspiel schlechthin. Die Kinder tun es, die Erwachsenen tun es wieder. Sie versuchen, einen Menschen zu fangen und tun alles dafür, nicht gefangen zu werden.

30.6.2007: Philosophische Disziplin: Schüler seines eigenen Traums sein.

29.6.2007: Eine heutige Form der Meditation: sich unter der heißen Dusche vergessen.

28.6.2007: Am ästhetischen Menschen ist alles Musik. Jede Geste, jedes Lidzucken, jeder Schritt, jedes Lachen, jedes Weinen und Sprechen sind Teil einer Symphonie, eines Zusammenklangs aus Liebe und Sehnsucht, aus Angst und Vertrauen. Seine Maxime lautet: Lebe jederzeit so, daß ein „da capo“ dich erfreuen würde.

27.6.2007: Ein gezeichneter Mensch erscheint reizend.

26.6.2007: Alles, was der Denker wahrnimmt, gibt er in wahren Gedichten zurück.

25.6.2007: Der Stift ist das Surfbrett auf den brandenden Wellen der Phantasie.

24.6.2007: Gedanken sind das sich kräuselnde Wasser auf der Meeresoberfläche. Niedergeschriebene Gedanken Photographien von sich kräuselndem Wasser.

23.6.2007: Herrschaftszeiten – Alltag. Ohnmachtszeiten – Kunst. Kunst ruft Momente ohne Macht hervor. Momente ohne Macht = Schönheit.

22.6.2007: Im Sommer glaubt man, das Leben bestünde nur aus Tag und Licht und Auge – die Nächte wären nur ein Blinzeln.

21.6.2007: Kinderlied. Nach der Rückkehr aus dem Reich des Schlafes sind wir ganz weich wie Schafe, dann frühstücken wir wie Küken und sind glücklicher als Fürst Pückler. Mittags fahren wir nach Essen und vergessen uns im Gewimmel der Metropole. Abends bewundern wir das Rot, die Aureole am Himmel. Dann besteigen wir das Boot, kurven wie Ben Hur auf der Ruhr und gleiten im Mondschein auf dem Rhein und schlafen ein.

20.6.2007: Liebe, die Energie, die zunimmt, wenn du sie verschwendest.

19.6.2007: Natalia Lisboa sendet vom Café Nicola ein Billett: „Manchmal erscheinen mir die Augen wie Schaufenster, die die Menschen voneinander trennen.“

18.6.2007: Die Wolken bildeten die erste sichtbare und noch heute wirksame Internationale. Sie spenden mit blinden Augen ihren Segen in Form von regenerativem Regen.

17.6.2007: Ein Mensch, der mit einer Situation unzufrieden ist, soll nicht bruddeln, er soll wettern. Wer wettert, erscheint am Gesellschaftshimmel wie eine Schönwetterwolke. Bewundernswert.

16.6.2007: So leben, daß die gelebte Zeit als die Gelobte erscheint.

15.6.2007: Der Sommer ist die Zeit der Verheißung.

14.6.2007: Für die Stadt ist der Fluß ein Beatmungsgerät.

13.6.2007: Der Mensch ist ein sich richtendes Tier. Es muß sich immer nach etwas richten, sich neu ausrichten und einrichten. Oft richtet es wider Willen etwas an.

12.6.2007: Man soll, muß jeden Tag ganz Gegenwart sein. Auch dann, wenn man den Tag verbummelt.

11.6.2007: Jeder Tag eine Einladung, etwas schönes zu machen, es bunt zu treiben.

10.6.2007: Die innere Bewegung, die du beim Bad im Meer empfindest, rührt vielleicht auch vom Wissen her, eines Tages für immer baden zu gehen.

9.6.2007: Der Kreisel ist die Aufhebung der Kreuzung. Der Kreisel ist die Aufhebung des Todes. Kein Kreuz mit dem Kreis.

8.6.2007: Daheimsein, lachen heißt sich einen Reim auf sich selber machen.

7.6.2007: Eine erschöpfte Taube fährt mit der Rolltreppe von der U-Bahn-Ebene zurück ans Tageslicht.

6.6.2007: Das Wort Brauchtum klingt altmodisch. Aber jeder Mensch hat sein eigenes Brauchtum. Jeder Mensch hat etwas, das er braucht. Das ist sein Brauchtum. Ein Mensch, der nichts mehr braucht, ist am Ende.

5.6.2007: Seinen Weg machen, jeden Tag, bringt Glück.

4.6.2007: Liebende sind füreinander existentieller Honigkuchen.

3.6.2007: Das Leben gelingt am ehesten, wenn man es aus Liebhaberei betreibt.

2.6.2007: Liebe ist eine Herzensangelegenheit. Liebende legen sich einander ans Herz.

1.6.2007: Die Leiter, die in den Himmel führt, ist die Tonleiter.

31.5.2007: Jeder liegt in den Händen der Zeit. Sie ist die Bildhauerin des Lebens.

30.5.2007: Durch das Leben bläst immer ein Sturm. Zivilisation ist der Versuch, dem Sturm aus dem Weg zu gehen.

29.5.2007: Man muß sich auch selber verführen – zu einem guten Leben.

28.5.2007: Menschen sind Musiker. Sie spielen anderen etwas vor.

27.5.2007: An einem Brunnen. Am jüngsten bleibt der Geist, / der unermüdlich reist.

26.5.2007: Jede Gesellschaft braucht einen Ort, wo ihre Mitglieder toben und rasen dürfen. In Deutschland heißt er Autobahn.

25.5.2007: Eine Frau am Bahnsteig sieht dem sich entfernenden Zug nach und wirkt befreit, als ließe sie alle Hoffnung fahren.

24.5.2007: Etwas unverblümt sagen – mit Blumen.

23.5.2007: Verdi ist wie Monteverdi, nur ohne Monte.

22.5.2007: Fräulein Lisboa schreibt, wie sie sagt, lächelnd: „Im Schlaf sind wir unter Tage. Im Tod bleiben wir dort.“

21.5.2007: Menschen, die sich ineinander verlieben, sind zwei Flüsse, die beim ersten Kuß ineinander münden.

20.5.2007: Denken heißt Ansichten haben. Man sieht ein Ding von unterschiedlichen Seiten an, hat dadurch mehrere Ansichten von ihm. Ein Mensch, der sein Denken schriftlich festhält, ist ein Ansichtskartenschreiber.

19.5.2007: Im Licht glänzen auch die grauen Mäuse.

18.5.2007: Die natürliche Vorform des Weckers ist der schreiende Säugling. Den Wecker abstellen heißt ihn stillen.

17.5.2007: Kein Tag ohne Zeile gegen Langeweile.

16.5.2007: Blumen sind die Gedanken der Wiese.

15.5.2007: Natalia Lisboa schreibt: „So reizend die Schönheit der Erde sein mag, ohne die Möglichkeit, sich mit dem Blick in einen wolkenverhangenen Himmel zu retten, wäre das Leben unerträglich.“

14.5.2007: Das erste Spielzeug, das Kinder geschenkt bekommen, ist die Zeit.

13.5.2007: Natalia Lisboa sendet ein Billett vom Atlantik unweit Sintra, an dessen Ufer sie spazieren geht. „Weil der Geist ein Meer ist, entstehen Sätze unermüdlich wie Wellen am Strand. Wie die Wellen am Strand lösen sich die Sätze wieder auf. Schrift besteht aus Reihen von gefrorenen Wellen. Liest ein Mensch die Wellen, erwachen sie wieder zum Leben.“

12.5.2007: Manche tragen beim Denken ein Verhüterli, das verhüten soll, daß sie Fehler machen. Aber wer nicht riskiert, Fehler zu machen, kann auch nicht fruchtbar denken.

11.5.2007: Das ß erinnert in seiner Form an eine schwangere Frau. Allein schon deswegen magst du es hochhalten.

10.5.2007: Morgens, am Ufer der Nacht, wenn man verschlafen aus dem Boot steigt, steht der Tag vor einem wie ein Gebirge, das man überqueren soll. Man weiß nicht, wie, doch geht man, als wärs ein Kinderspiel.

9.5.2007: Der Fortschritt ist nicht per se der Schritt zum Besseren, oft ist er nur der Schritt fort vom Guten.

8.5.2007: In einer vollständigen Geschichte der Malerei müßten auch jene Künstler verzeichnet sein, die nur auf lautmalerische Weise, nur mit der Stimme ihre Bilder schaffen.

7.5.2007: Das ganze Leben ist eine Übergangszeit. Leben heißt über die Zeitbrücke gehen.

6.5.2007: An Erfahrung gewinnt, wer etwas verliert.

5.5.2007: Die menschliche Gesellschaft müßte ein Naturschutzgebiet sein, in dem auch seltene Pflanzen gedeihen.

4.5.2007: Wer die Schleppe der Vergangenheit abschneidet, kann wieder rennen.

3.5.2007: Sich die Meise auf dem Fenstersims zum Vorbild nehmen – nur leben und singen.

2.5.2007: Das Leben ist ein Spiel mit Murmeln am Sonntag nachmittag. Ehe du dich versiehst, ist die Zeit verflogen.

1.5.2007: Auch die Natur dichtet. Ihre Gedichte sind nicht jugendfrei.

30.4.2007: Jede Gemeinschaft hat einen Hang zur Gemeinheit. (Hexenweisheit)

29.4.2007: Wenn alles mit allem zusammenhängt und der Mensch will, daß die Menschen weniger leiden, muß jede Handlung, jedes Handzeichen, jeder Blick eine befreiende erotische Güte haben.

28.4.2007: Wer denkt, geht schwanger.

27.4.2007: Stell dir ein Internat vor, dessen Zöglinge in der Früh von einem Witz geweckt werden, der wirklich Witz hat und den eine Frau mit sanfter Stimme erzählt. Würden die Zöglinge nicht bereits wach in ihren Betten liegen, bevor der Witz erzählt wird, und würden sie nicht im Lachen aufstehen und auf diese Weise den Tag beginnen? Welche Generation würde man dadurch heranziehen?

26.4.2007: Nicht allein die Früchte von Wald und Flur, auch die des Denkens munden. Im Denken gibt es gleichfalls Tollkirschen und Fliegenpilze.

25.4.2007: Von Zeit zu Zeit hört man, es käme eher darauf an, Fragen zu stellen, als Antworten zu geben. Meist wird diese Aussage von einem Anflug leicht triumphalischen Mienenspiels begleitet, als würde die Aussage denjenigen, der sie tätigt, schon zu einem klügeren Menschen machen; wobei das Mienenspiel zugleich das Bedauern ausdrückt, daß derjenige, demgegenüber die Aussage gemacht wird, leider nicht zu diesen Menschen zählt. Aber warum sollte das mit den Fragen eigentlich so sein? Sicher, Fragen sind wichtig und zum Glück so dem Rasenmäher trotzend wie Gänseblümchen. Fragen wie etwa diese: „Warum bewegt sich Ottilie nicht mehr? Was passiert mit Menschen, wenn sie sterben? Warum gibt es das Universum? Warum gibt es Obdachlose? Wieso befindet sich die Armut der Welt in den Händen vieler Menschen? Wieso gibt es Menschen, die hungern und aufgrund von heilbaren Krankheiten früh sterben?“ Keine Frage, Fragen sollen nicht unter den Tisch fallen. Doch wer Fragen stellt, und Fragenstellen ist einfach, muß der nicht auch Antworten geben? Antworten sind das Salz in der Fragensuppe.

24.4.2007: Der Mensch „hat“ einen Leib, der einer schwimmenden Insel ähnelt, und einen Geist, der dem Meer gleicht, das die Insel umspült. Die Insel wandert in den Meeresströmungen. Das denkende Ich, an der Inselküste wohnend, unternimmt Ausflüge ins Meer, läßt sich von den Wellen schaukeln, taucht am Riff, betrachtet die Gedankenkorallen, beobachtet die vorüberziehenden Fische. Manchmal, bei Unwetter, stürmt das Meer die Küste und droht, das Ich in seine Tiefen zu reißen.

23.4.2007: Natalia Lisboa schreibt: „Das Leben mag jeden Tag neu versucht werden. Was heute gelingt, kann morgen mißlingen; was heute mißlingt, kann morgen gelingen. Im Gelingen bleiben Menschen ein Leben lang Lehrlinge. Die Lagen, in die sie gespült werden, denen sie nicht entweichen können, sind unvorhersehbar und so launisch wie das Meer.“

22.4.2007: Zum Tanzen und Singen zählen stillstehen und schweigen.

21.4.2007: Das Lächeln ist die Schleife um das Geschenk des Lebens.

20.4.2007: Suchende und unsichere Menschen sind das Salz der Erde.

19.4.2007: Jeder Mensch ein Museum, das Tag für Tag vergrößert wird. Das Museum ist voller Erinnerungen und Narben. In manchen Räumen verweilt man gerne, bleibt länger, setzt sich auf eine Bank; andere durcheilt man hastig, man wendet den Blick von den ausgestellten Objekten. So oder so, man ist froh, wenn man wieder im Freien ist – ein Museumsbesuch ermüdet.

18.4.2007: Der Tag ist ein Gänseblümchen, klein, nahrhaft, vollkommen.

17.4.2007: Zum Frühstück eine Melange / dieses Glück / jeder Tag eine Chance.

16.4.2007: Wenn die Tage im Frühjahr wieder ins Land gehen, öffnet sich den Augen taufrisches Sehen.

15.4.2007: Frühling. Wer nicht unter Menschenschnupfen leidet, genießt die aufblühenden Menschen.

14.4.2007: Menschen sind tagsüber komisch, nachts kosmisch.

13.4.2007: Die Haut ist ein zerbrechliches Haus, ein unzerbrechliches weht im Wind, ist der Geist, das himmlische Kind.

12.4.2007: Das Tier ist eine Tür in die Vergangenheit des Menschen.

11.4.2007: Ideal: Jeder lebt willkürlich nach dem eigenen Gutdenken.

10.4.2007: Spielen heißt das Seelengeschirr spülen; der Spieler ist ein Seelengeschirrspüler.

9.4.2007: Meeresfrüchte. Meeresströme rauschen in jedem Menschen; Meersalz klebt auf seiner Haut. Durch das endliche Tier fließt ein unendlicher Strom.

8.4.2007: Der Jubel über das Leben ertönt in den Nebenklängen der Stille.

7.4.2007: Wege in die Weite, Küsse aufs Herz.

6.4.2007: Du mußt die Stille sich artikulieren lassen, um ihre Botschaft zu hören.

5.4.2007: Menschen sind Romane, nicht jeder ist lesenswert.

4.4.2007: In jedem Genießer wohnt ein Genie.

3.4.2007: Egal, wie unaufgeräumt die Wohnung dich anblickt, wichtig ist, daß du aufgeräumt bist.

2.4.2007: Wer seiner naiven Wahl traut, wird glücklich sein.

1.4.2007: Unter den Monaten ist der April, der lacht, wie er will, ein Scherzo.

31.3.2007: Ein Jahr – du umkreist einmal die innere Sonne.

30.3.2007: Jemand spricht abfällig von einem „einfachen Menschen“. Lieber ein einfacher Mensch sein als ein Mensch voll Hochmut.

29.3.2007: Egal obs draußen warm oder kalt ist, man trifft sich auf dem Gemeinplatz.

28.3.2007: In jedem Menschen ist eine ganze poetische Welt niedergelegt.

27.3.2007: Die Gelblichtszene, in der man sich morgens, bei schräg einfallendem Sonnenlicht, in der Wohnung, im Freien wiederfindet, erweckt die Lust zu leben.

26.3.2007: Gewohnheiten im Denken sind die Laufställe der Erwachsenen.

25.3.2007: Europa, der Name des kleinsten, buntesten, jahrtausendealten Kulturkontinents, ist, wie man weiß, der Name einer Frau. Europäer haben zwei Mütter, die leibliche und Europa.

24.3.2007: Transzendenz heißt lächeln.

23.3.2007: Jeder sollte von Zeit zu Zeit über die Milchstraße schlendern. Das eröffnet das anmutigste Panorama, erfrischt die Augen.

22.3.2007: Ein lauterer Mensch ist leise.

21.3.2007: Das Meer ist der terrestrische Himmel. Auch deswegen läßt es nicht kalt, an sein Ufer zu treten und von rauschenden Wellen umspült zu werden.

20.3.2007: Man sieht etliche Menschen ihre Hunde ausführen. Mögen sie auch ihre guten Gedanken ausführen!

19.3.2007: Der Geist, der in dir wohnt, ist ein Gast, den du gut verpflegen muß; sonst geht er flöten.

18.3.2007: Es ist kein Wunder, daß man beim Nageln immer wieder danebentrifft. Beim Nageln sieht der Mensch neben dem Werkzeugnagel noch Daumen- und Zeigefingernagel. Diese Nägelhäufung führt zu Verwirrung und Zielunentschiedenheit – mit der schmerzhaften Folge.

17.3.2007: Kein Mensch ist von Natur aus ein Kind von Traurigkeit. Menschen sind Früchte von Frohnaturen. Ein Mensch, von dem man sagt, er sei ein Kind von Traurigkeit, lebt im Exil. Seine Heimat, die er wiederzufinden sucht, ist die Frohnatur. Der Mensch ist ursprünglich ein Rheinländer.

16.3.2007: Ein Kreativer seufzte: „Ich brauche dringend eine unkreative Pause.“

15.3.2007: Humanismus ist eine Lustgabe. Er gibt entmutigten Menschen wieder die Lust zu leben. Der Frühling ist der natürliche Humanismus.

14.3.2007: Im Winter wärmen sich die Menschen in den vier Wänden. Im Frühling geraten sie aus dem Häuschen.

13.3.2007: Wer die Musik der Welt hören will, muß einmal ruhig sein und lauschen.

12.3.2007: Natalia Lisboa sendet vom Marktplatz in Sintra ein Billett: „Man muß sich jeden Tag klar machen, wie zutiefst fremdartig und verlockend die Schönheit ist, die uns umgibt und unsere Augen küßt.“

11.3.2007: Die Stille läßt die Zeit langsam gehen.

10.3.2007: Jeden Morgen legt das Schlafboot an einem unbekannten Ufer an. Der Sand schimmert wie tausend schlafende Sterne. Der Schlaf hat den noch Versunkenen über den Strom der Nacht gesetzt. Im Zwielicht geht der Himmel auf. Der Fahrgast erwacht von Vögeln umzwitschert und betastet mit den Augen den neuen Tag.

9.3.2007: Nach einer Wanderung durch den Zoo mit all den Tieren aus allen Erdteilen ist man müde wie nach einer Weltreise.

8.3.2007: Verssucher, Dichter.

7.3.2007: In der Vogelwelt rechnet man den Menschen zur Spezies der schrägen Vögel. Weil dieser nicht mehr selber fliegen kann, hat er Flugzeuge gebaut. Der jahrtausendealte Traum des Menschen vom Fliegen war der Wunsch, selber wieder in die Lüfte zu steigen.

6.3.2007: Wer lebt, schlägt Sahne. Der Tod ist ein Absahner.

5.3.2007: Tränen, die salzigen Tröpfchen, Abgesandte des Meeres.

4.3.2007: Liebe ist ein Happyning.

3.3.2007: Die Trübsal ist das Instrument, das noch immer zu viele von ihren Eltern spielen lernen. Kaum haben die Zöglinge ein paar Stunden Unterricht genossen, beherrschen sie das Instrument für den Rest ihres Lebens. Herrscht irgendwo gute Stimmung, fühlen sie sich auf den Plan gerufen, nehmen ihr Instrument und blasen Trübsal.

2.3.2007: Natalia Lisboa sendet aus Sintra ein Billett: „Das Licht und der Wind sind ein Kindergesicht, aufheiternd und wohltuend – ein Vergißmeinnicht.“

1.3.2007: Menschen gleichen laufenden Bildern. Der Hautfilm erzählt von der Zeit des eigenen Lebens.

28.2.2007: O mio babbino caro, lindere meinen Schmerz, laß mich zu meiner Freude, zu meinem Geliebten, ziehen – das ist leicht variiert der Inhalt von Laurettas flehklagender Arietta in Puccinis Oper „Gianni Schicchi“. Man wird hier Zeuge dessen, was im Grund jede lyrische Erhebung ausmacht, Zeuge des Versuchs, die schwer erträgliche Nähe von Schmerz und Freude, die ein liebender Mensch fühlt, mithilfe ihrer Mitteilung erträglich zu machen.

27.2.2007: Die Rede ist ein Fluß. Die Zunge ein Boot. Im Reden schaukelt es. Im Schweigen gleitet es lautlos dahin.

26.2.2007: Noch jedes Kaff hat seine Fee. Du nennst sie Kaffee.

25.2.2007: Selbst-Interview (Ausschnitt). Warum interviewen Sie sich selber? – Weil ich schon immer wissen wollte, was ich mich selber fragen würde. – Und, sind Sie mit der ersten Frage zufrieden? – Nun, mich irritiert, daß ich mich selber sieze. Warum duze ich mich nicht? – Fragen Sie das mich? – Nein, ja, das heißt, ich frage mich das selber. – Und wie lautet Ihre Antwort? – Was glauben Sie? – Bin ich der Fragensteller oder Sie? – Aber haben nicht Sie mich gesiezt? – Doch, das ist wahr, offen gesagt, bin ich aus dem Konzept gekommen. Am besten wir beginnen von vorne. – Gut. Fangen Sie an. – Warum siezt du mich?

24.2.2007: Bücher sind Wolken. Sie kennen keine Grenzen, überqueren Länder und Meere. Jeder kann diese luftigen Wesen mit den Augen sehen und lesen, kann ihnen folgen und sich von ihnen, lösen sie in Tränen sich auf, erregen und beseelen lassen.

23.2.2007: Das Zwielicht ist das Brunnenlicht des Menschen.

22.2.2007: Wer einen Vogel hat, muß sich nicht wundern, wenn er morgens allzu früh erwacht. Der Vogel zwitschert mit seinen Genossen im Garten.

21.2.2007: Was den Grund des Universums und des Lebens angeht, weiß man fast nichts, das heißt man weiß nur, daß man nichts sicheres darüber weiß. Dieses Fast-Nichts-Wissen sich bewußt machen nennst du fasten.

20.2.2007: Ausgerechnet an Karneval lassen die Menschen ihre Masken fallen.

19.2.2007: Der Baum ist der Wal unter den Pflanzen.

18.2.2007: Renate sagte immer So-so-so, irgendwann nannten wir sie Sonate.

17.2.2007: Schöne Schleier – die offenen Haare der im Frühlingswind gehenden Frauen.

16.2.2007: Mit der Weisheit verhält es sich wie mit einer Partitur. Es nützt nichts, sie unbemerkt im Regal stehen zu haben, man muß sie lesen und zur Aufführung bringen.

15.2.2007: Wörter, die etwas kleines bezeichnen, haben einen eigenen Charme. Kajüte, Kiesel, Ameise, Kind, Bach. Wörter, die etwas großes bezeichnen, eher nicht. Wahrheit, Palast, Staat, Krieg, Präsident. Der charmante Staat – klingt utopisch. Vielleicht wäre es wünschenswert, einen Staat mit Charme zu haben.

14.2.2007: Jeder Tag ist ein Buch. Der Mensch liest selbstredend den Tag auf seine eigene immer wechselnde Weise. Mal hudelt er durch, verschläft einen Teil, driftet mit den Gedanken ab, verpaßt eine Spanne, mal liest er genau, jede Zeile für sich, als handelte es sich um einen Klassiker, der ihm selbst an den scheinbar unscheinbaren Stellen etwas sagen mag, und er braucht ewig, bis er ans Ende kommt. Ob der Tag dick oder dünn ist, hat nichts zu sagen. Laotses Taoteking ist ein dünnes Buch, das auch nach zweieinhalb Jahrtausenden noch nicht zu Ende gelesen ist.

13.2.2007: Zum Beispiel bei Krankheit, wenn man flachliegt, zeigt sich einem wieder einmal: Der Körper ist ein einziges Instrument, eines aus vielen einzelnen Instrumenten: Beine für das Wandern, Hände zum Greifen, Mund zum Atmen, Essen, Sprechen und Lieben, etc. Des Lebens Element ist das Instrument. So oder so, leben heißt ein Instrument sein.

12.2.2007: Musikalischer Imperativ. Lebe so, daß sich immer wieder neue Töne in dein Leben einspielen.

11.2.2007: Das Morgenorange der Seele Frühmelange.

10.2.2007: Das Morgenrot der Seele Boot.

9.2.2007: Das Morgenblau eine Seelenau.

8.2.2007: Wirklich schade. Erwachsene sitzen nie auf Bäumen. Von Baumgärtnern abgesehen, sieht man dort nur Kinder und Tiere. Es würde jenen guttun, immer wieder in einem Baum zu sitzen und die Welt von dort zu betrachten. Eine Welt, in der Erwachsene auf Bäumen sitzen, müßte eine erträgliche sein.

7.2.2007: Natalia Lisboa seufzt in einem Billett: „Schon beim Wort shoppen fühle ich mich schlecht. Beim Anblick von Einkaufstüten muß ich mich hinlegen.“

6.2.2007: Das Leben eine Heimsuchung. Jeder Mensch sucht sein Heim.

5.2.2007: Flower-Power. Wenn der Mensch eine Blume ist, ist sein Lächeln die Blüte.

4.2.2007: Wer alles fahren läßt und stehenbleibt, vergeht; wer alles fahren läßt und selber geht, bleibt im Spiel.

3.2.2007: Menschen, die herzkonservativ sind. Sie glauben an die Liebe. Sie wollen die Welt retten.

2.2.2007: Die Welt wird von den Guten regiert – oder sie sollte es zumindest.

1.2.2007: Amsterdam. Nebel, atmende Fee, bella donna des Tages, streift die Colonnaden; mit einem Streichholz, Marke Riesa, reißt Rembrandt eine Flamme auf, träumt von Mona Lisa.

31.1.2007: Zwei, die sich anziehen, ziehen sich aus.

30.1.2007: Luftikusse stammen aus dem Völkchen der Wölkchen.

29.1.2007: Wer im Meer baden geht, kann sich vom Wellenkamm frisieren lassen.

28.1.2007: Der Mensch ein Tauchender, er taucht im Nebelmeer der unbewußten Gedanken.

27.1.2007: Höherer Sieg – auch der Niederlage etwas abgewinnen.

26.1.2007: Periode. Liebe ist wie die Mode – sie geht vorüber, je früher je lieber.

25.1.2007: Winterlunge. Auf Wegen, über hingesausten Sternen, wehen glasierte Schleier feenhaft schüchtern übers Himmelbett und glitzern, in der Sonne, mit elektrisierter Zunge lüstern unentdeckt.

24.1.2007: Schneetreiben. Der Winter ist ein Pianist, für Kinder, er kann auf Tasten, vom Winde verweht, lautlos schneien, und die Kinder, die Phantasten, schreien aufgedreht.

23.1.2007: Pflücke den Tag, schreibt Horaz an die Jungfrau Leukonoe. Natalia Lisboa kritzelt hinzu: „Und dring auch selber auf gründliche Befruchtung, damit die anderen nach uns noch Tage pflücken können.“

22.1.2007: Sich überwinden, sich vom Wind tragen lassen.

21.1.2007: „Laß mal!“ sagt der eine zum anderen, und der andere läßt das, woran er gerade ist, liegen. Sie gehen und setzen sich in der Nähe auf einen Stapel geschnittener Latten und schauen ins Tal. Die Landschaft breitet sich vor ihnen aus. Am Horizont brandet die See. Sie schweigen und schauen. Abends werden sie das Gefühl nicht los, an diesem Tag mehr als sonst geleistet zu haben.

20.1.2007: Du hast einen Vogel. Glück sollst du nicht erzwingen, dir nicht greifen, auch wenns zum Greifen nah ist. Glück sollst du in Ruhe lassen wie einen Vogel, der im Laub nestelt. Wenn er heraushüpft und zu dir unter die Jacke schlüpft, ist es gut. Irgendwann flattert er davon, in den nächsten Baum. Wer wollte was dagegen haben?

19.1.2007: Fräulein Lisboa im nächtlichen Billett: „Die angenehmen Nachtträume sind zum Genießen da, nicht, um sie auszulegen. Was im Schlaf gelingt, zu träumen, sollte auch im Wachen wie im Schlaf gelingen. Ein Tag ohne Tagträume ist kein Tag.“

18.1.2007: Nimm wahr, was dir vor die Augen kommt. Das klingt einfach, ist schwer.

17.1.2007: Das Leben ist eine Gewohnheit. Ohne Gewöhnung wäre es nicht zu leben, müßte jeder verrückt werden. Bei Licht besehen ist es unbegreiflich, wundervoll, den Verstand übersteigend. Vor dem unaushaltbaren Anblick dieser exzentrischen Wohnung rettet die Gewohnheit. Jeder ist das Leben gewohnt und gleichzeitig obdachlos.

16.1.2007: Das Schaf auf der Wiese braucht keine Wissenschaft. Der Mensch auf seinem Wanderstab labt sich an Erlebnissen, insbesondere auf Kissen, an Leckerbissen wie den Küssen. Zugänglich für andere, in jedem Land, ist er lebenslänglich sehr verfänglich und am Ende, dem blühenden, unzulänglich und vergänglich.

15.1.2007: Opernpause. Gelöste Männer und rätselhafte Frauen passen gut zusammen.

14.1.2007: Untergrundbahngespräch. „Das Türstehertum ist einer der peinlichsten Beweise für die allgemeine Geschmacklosigkeit unserer Zeit.“ – „Du redest nicht gerade kollegial – ich hätte dir gern widersprochen. Aber der Wahrheit widersprechen ist unmöglich.“

13.1.2007: Hygiene. Zumindest einmal am Tag schweigen, abgeschieden, zumindest einmal am Tag lachen, zweisam, unbemerkte Minuten lang.

12.1.2007: Der Geist ein Förderturm. Er bringt etwas zutage. Menschen sind Bergwerke.

11.1.2007: Philosophieren, sich schönen Dingen hingeben.

10.1.2007: Den Augenblick genießen meint auch im Augenblick des geliebten Gegenübers versinken.

9.1.2007: Natalia Lisboa, in einem Billett über Erlösung: „Menschen sind beim Anblick der endlosen Wellen des Meers dergestalt aufgewühlt, daß sie den Sand des Alltags nicht mehr fühlen.“

8.1.2007: Zwei, die sich ergänzen, erglänzen. Zwei, die sich teilen, heilen andernorts.

7.1.2007: Lokalologie (Erörterung). Wer an seinem Ort ist, ist in Ordnung. Wer nicht an seinem Ort ist, sucht seine Hortensie.

6.1.2007: Lieb und Leid, vereint, erklingen als Lied.

5.1.2007: Was die Wiegenlieder für die Kleinen, ist der Fernseher für die Großen. Ein Einluller par excellence.

4.1.2007: In die Lehre gehen. Einzig sinnvolles Ziel der Penne wäre, daß aus Lernenden Lehrende werden. Wer aus der Schule entlassen wird, soll das Zeug haben, sich selbst zu belehren. Jeder Tag wäre einer, an dem jeder sich belehrt. So wäre das Ideal eines Menschen erreicht: die Gemeinschaft des Lehrenden und Lernenden in einer Person.

3.1.2007: Menschen sind unentwegte Tiere. Sie machen immer ihren Weg, selbst wenn sie von ihm abkommen.

2.1.2007: Grundrechtsartikel 1. Die Bürde des Menschen und des Tiers ist antastbar. Sie zu erleichtern und aufzulösen wäre Verpflichtung aller menschlichen Gewalt.

1.1.2007: Sich schöne Augen machen. Schöne Augen sind die in die Welt flatternden Liebesspatzen.

31.12.2006: Menschen, die sich mögen, haben Vermögen und verwöhnen sich. Einen Menschen verwöhnen = ihm die Welt wohnlich machen.

30.12.2006: Den Dingen und Menschen lustvoll beiwohnen und gleichzeitig lässig bleiben, durchlässig, darauf kommts an.

29.12.2006: Zwischen den Jahren. Sonnenschein, das Meer zerfahren, wellenfein. Zwischen Dialogen Sangesmenschen, farbiger Bogen, gute Wünsche.

28.12.2006: Natalia Lisboa sendet wieder aus den Wäldern Sintras ein Billett: „Uhu, Bär, Tannenmeise, oder welche Tiere immer, welche Blumen immer in die Sinne kreisen: heilsam sind sie, eines Tages Tusculum.“

27.12.2006: Die Handschrift ist die sichtbare Melodie der Seele.

26.12.2006: Das ideale Leben ist für viele wie das Schnappen nach der Wurst auf dem Festplatz – die Wurst bleibt unerreichbar. Ihr reales Leben ist ihnen dabei wurscht, sie haben Augen nur für die glänzende Festplatzwurst. Aber was heißt das – das Leben erreichen? Jeder hat sein Leben schon, lebt es aber nicht immer? Nicht so, wie es ihm möglich wäre. Ein Lebenskünstler ist einer, der Wurst Wurst sein läßt und sich um das kümmert, was er schon hat, seine tägliche Möglichkeit, am Leben zu sein.

25.12.2006: Natalia Lisboa kritzelt: „Wenn ich das Gefühl habe, die Welt nicht mehr ertragen zu können, gehe ich im Atlantik baden. Danach fühle ich mich leicht und neugeboren.“

24.12.2006: Der Mensch ist das Tier, das mit sich reden kann. Manchmal ist er auch das Tier, das mit sich reden läßt.

23.12.2006: Natalia Lisboa notiert in einem Billett mit gänseblümchengelber Tinte: „In Liebe dem Geliebten beiwohnen ist menschlichstes Tun.“

22.12.2006: Humanheliologen vermuten beim Menschen das Vorkommen innerer Sonnenwenden. Jedes Menschenjahr habe seine lichtabnehmende und seine lichtzunehmende Hälfte. Wenn die innere Sonne ihren Tiefststand erreiche, schreite der Mensch durch ein dunkles Tal und sei zugleich schon überm Berg. Man spricht dabei vom Mons-Vallis-Paradox.

21.12.2006: Der Mensch ist wohl doch ein Wartender – er muß sein Leben wie ein Auto warten. Aber oft wartet er es kaum, statt dessen vertut er es in irgendeiner Schlange wartend.

20.12.2006: Königin der Nacht. Ihr Gesang die akustische Sonne.

19.12.2006: Ich nehme wunder, also bin ich.

18.12.2006: Wer findet, wird suchen.

17.12.2006: Was hast du dir dabei gedacht? Die aus dem Alltag gegriffene Frage deutet hintenherum an, daß es offenbar darauf ankommt, sich bei dem, was man tut, etwas zu denken. Wobei die Frage je nach Tonfall entweder eine Rüge darstellt – „wie konntest du das nur tun? wo hattest du deinen Kopf?!“ – oder ein fast sachliches, wissensdurstiges Verlangen.

16.12.2006: An manchen Morgen erwacht der Mensch scheinbar neben sich und fragt sich verwundert: Welchen Fremdling habe ich mir gestern bloß ins Bett geholt?

15.12.2006: Feiner als Einfluß, der Menschen schleichend etwas einflößt, ist ein Fluß, der unter freiem Himmel sie fließend anspricht und verschönert.

14.12.2006: Feste locken an und lockern feste Banden auf.

13.12.2006: Regen versieht das Dorf mit Lachen. Lachen bereitet Freude.

12.12.2006: Manche Wörter leben weiter, obgleich sie eigentlich ausgestorben sind. Das aus dem Alltag praktisch verschwundene Verb schmieden lebt in der Wendung Pläne schmieden fort. Kaum jemand sieht im Alltag noch einen Schmied schmieden. Dafür sind fast alle Menschen Pläneschmiede. Für diese gilt die Maxime: Man muß die Pläne schmieden, solange die Gedanken heiß sind.

11.12.2006: Du sollst dich immer bereitwilligst von der Intelligenz eines vorüberreisenden Enthusiasten anstecken lassen.

10.12.2006: Niemanden suchen, jemanden finden („ach, da bist du!“).

9.12.2006: Die Welt ist eine Art Gehirn.

8.12.2006: Lider, die kleinen Bettdeckchen der Augen.

7.12.2006: Wie du dich auch drehst und wendest, immer entsteht ein Kreis.

6.12.2006: Der feinste Lebkuchen, der in einem Stiefelpaar vor der Haustür stecken mag, ist ein geliebter Mensch.

5.12.2006: Sehnsuchtsort Neusehland.

4.12.2006: Täglich gehen, heißt es, sei gesund; aber eines Tages begeht man Fehler.

3.12.2006: Jeden Tag erlebt der zeitig wache Mensch den Advent des Tages, das Tagen des Lichts der Welt, der Sonne.

2.12.2006: Sich des Herabziehenden zu entschlagen, tut dem Herzschlag gut.

1.12.2006: Niemand ist perfekt, jeder ist präsent.

30.11.2006: Welche Tiere tanzen? Nur der Mensch. Der freie Tanz ist eine symbolische Bewegung, ein Inbild des Menschen. Charakteristisch für den freien Tanz, und damit für den freien Menschen, ist das Ineinander von augenfälliger Klarheit und bleibendem Geheimnis. Während der vom Tanz gefesselte Betrachter sich der Sinnlichkeit der Bewegung öffnet und sich an ihrer Schönheit labt, schaut er zugleich gebannt auf sich selber, das rätselhafte Tier.

29.11.2006: Unlustige lustig machen ist Kunst.

28.11.2006: Jeder umsichtige Satz enthält, auch wenn er mit einem Punkt endet, die Frage: Ist es wirklich so?

27.11.2006: Trachten, die nie aus der Mode kommen – die Tracht Prügel und die Niedertracht.

26.11.2006: Einer mag noch so wasserscheu sein, seine Fehler darf er selber ausbaden.

25.11.2006: Leben heißt auch, jeder blamiert sich so gut er kann.

24.11.2006: So viele fahren Auto, aber wer kann behaupten, ein Erfahrender zu sein?

23.11.2006: Kleiner Mangel kann Großes diffamieren, wie ein aus dem Essen gegabeltes Härchen ein noch so geschmackvolles Gericht verdirbt.

22.11.2006: Friedhofsmauergraffito: „Jeder November / gebiert Novampir.“

21.11.2006: Ein merkwürdiges Fach ist das Handschuhfach. Im Gegensatz zum Schuhfach, das meist Schuhe enthält, finden sich im Handschuhfach meist keine Handschuhe. Es finden sich darin Straßenkarten, Scheibenkratzer, Bonbons, Taschentücher und sonstiger Krimskrams. Das Handschuhfach ist ein Krimskramsfach. Erfunden wurde es, weil der Autofahrer anfänglich als Reiter beziehungsweise als Pferdekutschenlenker konzipiert wurde – gerade in Stuttgart, das seine Ursprünge als Stutengarten nicht vergißt. Der Kutschenlenker lenkt das künstliche Pferd. Und wie ein geläufiger Pferdekutschenlenker sollte der Kunstpferdekutschenlenker mit Handschuhen die Zügel halten, das Steuer. Zur Ablage dieser Handschuhe erfanden die Ingenieure das Handschuhfach. Heute tragen Autohandschuhe meist nur noch Leute, die Oldtimer fahren oder höhere Allüren haben.

20.11.2006: Ist das Winterlicht ein Fragelicht, ein Licht des Fragens?

19.11.2006: Eine gute Antwort hat nichts abschließendes, oder, wenn sie abschließt, öffnet sie zugleich eine neue Tür.

18.11.2006: Noten lindern, ausbezahlte wie gesungene.

17.11.2006: Der vollkommene Staat wird derjenige sein, der jeden seiner Bürger hochleben läßt.

16.11.2006: Sammelsurium, alternative Bezeichnung für den menschlichen Geist.

15.11.2006: Für jeden geöffnet: das Wolkenkuckucksheim. Und wenn der Himmel blau ist? Dann vermißt man es nicht, dann fühlt man sich auf der Erde daheim.

14.11.2006: Man muß anstößig denken, um Anstöße zu geben.

13.11.2006: Fast jeder Mensch hat das Genie, sich Illusionen über sich zu machen.

12.11.2006: Beim Judo geht der Judoka zunächst in die Fallschule, in der er das Fallen einübt, so daß er sich dabei nicht verletzt. Man sollte Schülern spätestens ab der Mittelstufe existentielles Judo beibringen. Wie falle ich im Leben, ohne mir bleibende Schäden zuzufügen? Wie falle ich einem Laster, einem Lebensstil, einem geliebten Menschen anheim, ohne auf immer verloren zu sein? Allerdings hätte das zur Voraussetzung, daß die Beamten, die jetzt die Lehrpläne erstellen und die Lehrer ausbilden, selber erst zu existentiellen Judo-Meistern ausgebildet werden müßten. Auch wenn solches Unterfangen utopisch anmutet, dürfte allein die Vorstellung, daß in den Kultusministerien und an den Pädagogischen Hochschulen Judokas schalten und walten, Gefallen finden. Gefallen finden können ist auch eine Judokunst.

11.11.2006: Auch wenn kein Geld im Geldbeutel ist, kann man sich als etwas ausgeben.

10.11.2006: Manche Menschen sind reserviert. Erstaunlich, daß man sie reservieren kann, als wäre der Mensch ein Stuhl. Ein Merkmal des Stuhls ist, daß er ganz sein kann und doch nicht vollständig. Denn auch wenn er ganz ist, erfüllt er seine Bestimmung erst, wenn sich ein Mensch auf ihm niederläßt. Aber auch ein Stuhl kann reserviert sein. Betritt man einen Vortragssaal, sind die meisten Stühle nicht reserviert; jeder kann sich einen beliebigen freien Stuhl aussuchen und sich auf ihm niederlassen. Die reservierten Stühle dagegen genießen eine Sonderstellung, weil sich nur ganz bestimmte Personen auf ihnen niederlassen dürfen. Das gilt für jede Art von reserviertem Stuhl, sei es der gewöhnliche Vortragssaalstuhl, der Heilige Stuhl oder der elektrische Stuhl. Menschen, die reserviert sind, geben einem zu verstehen, daß nur ganz bestimmte Menschen bei ihnen Platz nehmen dürfen.

9.11.2006: Der alltäglich sein Leben führende Mensch gleicht in gewissen Ansichten der Donau. Wo diese exakt entspringt, ist eine Streitfrage, wie bei jenem. Mehrere Gemeinden behaupten, auf ihrer Gemarkung befände sich der Ursprung, die anderen, die das gleiche für sich reklamieren, lägen falsch. Die Donau hat freilich unterschiedliche Ursprünge, wie der Mensch. Wie die Donau ist dieser zunächst ein unscheinbarer Tropf, langsam wächst er, staut sich, erzielt Durchbrüche, durchläuft Stadien und Länder, wird größer und in der Nachbarschaft bekannter. So zieht er hin. Am Ende zeigt er einen Hang zum Trägen, Mächtig-Langsamen, zerfasert sich, als wolle er nicht münden.

8.11.2006: Fast jeder Mensch hat irgendwann in seiner Kindheit einen ersten Sprung absolviert – den Ursprung. Der Sprung war gewagt, aber man hat ihn überlebt. Auch Erwachsenen stünde ein Sprung nicht schlecht zu Gesicht. Kein Sprung vom Boden in die Luft oder vom Wohnzimmertisch hinunter auf den Teppich, sondern auf ungefährliche Weise, im Geiste. Jeden Tag öffnet das Gymnasium für den neuen Gedankensprung. Dabei ist jeder sein eigener Lehrer, der den Schüler in sich zu seinem Tagessprung animiert.

7.11.2006: Angesichts der unfaßbar schlichten, allerdings nie ganz begreifbaren Tatsache, daß man in diesem ziemlich großen unwirtlichen Universum auf einer Kugel lebt, von Kugeln umschwirrt, müßten eigentlich auf der Erde alle Gewehrkugeln schweigen. Der einzig sinnvolle Intelligenztest ist doch der Intelligenzkugeltest. Mit ihm stellt man fest, ob ein Mensch angesichts der alles in allem ausweglosen Gesamtsituation bereit ist, sich zu entblöden und Gewehrkugel Gewehrkugel sein zu lassen und statt dessen eine Eiskugel zu schlecken, oder sich vor Lachen zu kugeln.

6.11.2006: Krieg: die Welt in tatsächlichen Kampfhandlungen erobern wollen. Frieden: sie in einer Kunstsphäre eropern können.

5.11.2006: Die abendliche Trunkenheit, die gesund und menschlich, ist die Schlaftrunkenheit. Am Morgen wachst du traumtrunken auf. Du wankst ans Fenster, schüttest Licht ins Gesicht und klarst den Geist auf.

4.11.2006: Das Leben macht es einem gerne schwer. Es kommt darauf an, es leicht zu nehmen.

3.11.2006: Die Strategie von Jägern, am Rand einer Lichtung auf dem Hochsitz auf ihr Opfer wartend, ähnelt jener von Spinnen. Die Fliege verfängt sich im Spinnennetz, das Reh fängt eine Kugel. Vielleicht erklärt sich von daher die Furcht vieler Frauen vor Spinnen. Sie fürchten sich vor den Attacken aus dem Hinterhalt, davor, Beute eines spinnenden Mannes zu werden.

2.11.2006: Die letzten Minuten. Hannah Arendt sagte, im Jahr 1964, im Gespräch mit Günter Gaus, sie „würde wahrscheinlich noch drei Minuten vor dem sicheren Tode lachen“. Warum drei Minuten? Was geschieht nach dem letzten Lachen in einem Leben, was geschieht in den verbleibenden hundertachtzig Sekunden? Zeit für ein trauriges Gesicht? Der Tod ist ein ernster Meister, soll man ihn, tritt er über die Schwelle, auf eine Weise begrüßen, die ihm zuwider ist wie dem Teufel das Weihwasser? Lachend sterben, sich zu Tode lachen, der menschlichste, jedenfalls kein trübsinniger Tod.

1.11.2006: Das Gegenteil von Armut ist Anmut. Ein anmutiger Mensch macht Mut, tut vorbeieilenden Menschen gut.

31.10.2006: Wirkliche Bildung ist zu nichts nütze. Universitäten in einem friedlichen Sinn sind Nichtsnutzgehäuse. Wirkliche Schönheit ist zu nichts nütze. Museen sind Nichtsnutzgebäude. Künstler sind Nichtsnutze. Nichtsnutzigkeit prägt die Sphäre der Freiheit. In ihr spielt die Nützlichkeit keine Rolle. Wer frei sein will, sei ein Nichtsnutz.

30.10.2006: Natalia Lisboa sendet von ihrem in der Mittagszeit sonnigen Waldweg am Atlantik wieder ein Billett. „Glück“, schreibt sie, „das ist ein kleiner Vorgang, ein unscheinbares Etwas. Zum Beispiel das auf dem Sandpfad verträumte Mädchen. Eine lila Aster steckt in seinem Haar, und vom aufgebrachten Meer heult der Wind, löst die Aster und schleudert sie in den Wald. Das aufgeschreckte Mädchen läuft davon. Das ist alles. Ein kurzes Drama am Rande der Welt.“

29.10.2006: Die Wahrheit mag nicht schön sein. Aber Schönheit ohne Wahrheit ist auf keinen Fall schön.

28.10.2006: Mundlandung. Im Leben fast jedes Heranwachsenden kommt irgendwann der Moment, an dem er zum Flug auf den Mund eines geliebten Menschen abhebt. Das ist ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein gigantischer Sprung für den Heranwachsenden.

27.10.2006: Wenn man in einem Schuljahr oder einem Semester etwas lernen würde, feierte man an seinem Ende das Lerntedankfest.

26.10.2006: Der älteste Air-conditioner ist der Schrei, mit dem sich Menschen und Tiere Luft machen.

25.10.2006: Menschen sind auch ladende Wesen. Ständig laden sie ein und laden sie aus. Das Laden bezieht sich auf ihre ebenfalls ladenden Mitmenschen, denen sie begegnen, in der Fußgängerzone, auf der Straße. Mit minimalen Gesten zeigen sie ihre Bereitschaft an – bitte, komm näher! – oder ihre Verschlossenheit – treten Sie mir nicht zu nahe! Ein anderer Fall sind die Geladenen und die Ungeladenen. Geladene sind oft garstig und unfreundlich, sie müssen ihre Ladung loswerden und feuern sie wie seelischen Mist gegen Gegenstände und Mitbürger. Ungeladene wiederum sind gerne sauer und mißgestimmt, weil sie damit hadern, nicht zu den Geladenen zu gehören.

24.10.2006: Die herkömmliche Landeisenbahn gleicht einem rollenden kinematographischen Institut.

23.10.2006: Universalsprache. Singsang verstehen auch Asiaten.

22.10.2006: Daß wir geboren werden und daß wir sterben müssen, dafür können wir nichts; für alles andere aber können wir ein bißchen etwas. Auf dieses Bißchen kommts an.

21.10.2006: Sich wehren, ein Weh abwenden.

20.10.2006: Sich erinnern heißt nach innen gehen. Wer in sich geht, ist auf dem Weg. Wer bewegt ist, kommt voran.

19.10.2006: Die Welt ein Amorphismus, verschleiert von einem Aphorismus.

18.10.2006: Das Meer erinnert auch daran, daß es unter dem Himmel mehr gibt als die ewigen Sorgen des Alltags. Es erinnert an die vorübergehenden Freuden, die in ihrer Flüchtigkeit so verwischbar sind wie Spuren im Sand.

17.10.2006: Musik, Seele der Menschen.

16.10.2006: Hunde, Menschen und Schweine. Menschen sind gegenüber dem Tod grundsätzlich Underdogs. Es wäre unfair, ihnen die Sympathie, die sie von daher genießen, nur deshalb zu entziehen, weil sie im Leben sich oft wie Schweine aufführen. Unfair wäre es auch gegenüber den Schweinen. Kein Schwein führt sich so unmöglich und unfreundlich auf, wie es den Menschen immer wieder auf spielende Weise gelingt. Vermutlich wird die heute als Beleidigung firmierende Bemerkung „Du Schwein!“ in einer nicht allzu fernen Zukunft als schmeichelhaftes Lob durchgehen.

15.10.2006: Dichter flechten melodische Kränze der Welt.

14.10.2006: Beim Versuch, sich zu übernehmen, kommt es vor, daß man sich übernimmt. Man sollte in diesem Fall nicht an Aufgabe denken, sondern es als Aufgabe begreifen, es erneut zu versuchen. Die Ursache jedes Versuchs ist die aufbauende Macht, die von der Versuchung ausgeht.

13.10.2006: Frohlocken. Lachen, auch wenn man wirklich nichts zu lachen hat. Darin besteht eine Lebensaufgabe. Mancher wirkt wie ein Kleinod der Tristesse. Sein Seelenholz scheint tot. Die Kunst wäre, ihn zurückzuversetzen in den Zustand, in dem das Holz wieder austreibt. Lachen, die Versuchung der Tristesse austreiben.

12.10.2006: Auch Mücken schmücken das Antlitz der Welt.

11.10.2006: Weltkulturerbe. Die Schlösser, die keinen Unterhalt kostend die charmantesten weit und breit sind – sind die Luftschlösser.

10.10.2006: Herbst. Der glänzende Leitfaden zur Erkenntnis des Schönen ist der Spinnfaden.

9.10.2006: Haute Couture. Der Mensch ist das Tier, das sein Federkleid selbst entwirft.

8.10.2006: Etwas überwinden, etwas in den Wind schreiben und verwehen lassen.

7.10.2006: Nach Wochen des Schweigens meldet sich Fräulein Lisboa von einem Trambahnausflug nach Belém wieder zu Wort: „Um wieviel hübscher wäre die Welt, wenn die Menschen endlich begreifen würden, daß wir in einem Zirkus zu Hause sind und nicht alles zu ernst nehmen sollten. Gott ist eine Zirkusdirektorin. Allerdings hat man sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Die Clowns sagen, sie liege seit einem Unfall in ihrem Wohnwagen im Wachkoma.“

6.10.2006: Redewendungen. Die Reden geben den Dingen zu selten eine Wendung. Wir reden, und kaum etwas passiert, kaum etwas wendet sich, schon gar nicht zum Guten. Das Gute ist das, was allen nach eigener Aussage guttut („ja, das tut mir gut“). Wie also sollte man reden, damit die Dinge sich zum Guten wenden? Jede Rede benötigt ein beflügelndes Wort. Ohne es scheint es unmöglich, dem Herabziehenden davonzufliegen.

5.10.2006: Die Luft ist weniger geschwängert als selber schwängernd. Sie einatmen, sofern sie blitzblank ist, heißt, sich beleben lassen, schwanger gehen und Gedanken gebären.

4.10.2006: Jeder Tag ein Sturz ins offene Meer.

3.10.2006: Regen, mit durchsichtigen Tropfen die Erde färben.

2.10.2006: Menschen sind von Natur aus nicht ganz bei Trost. Tränen sind die an die Oberfläche quellenden Vertreter des inneren Trostkraftwerks. Sie erquicken und ermuntern den Betrübten. So getröstet, mag er getrost andere scheinbar Untröstliche trösten.

1.10.2006: Menschen erinnern an Häuser. In der Regel bekommt man sie von außen zu Gesicht. Man kann durch ein geöffnetes Gedankenfenster hineinschauen und manches ausmachen. Um das Innere näher kennenzulernen, muß man, sofern man einen Gesprächsschlüssel hat, die Tür aufschließen. Manchmal wird sie von innen geöffnet, und man wird hereingebeten. Aber selbst, wenn man drinnen ist, erfährt und sieht man nicht das Ganze. Wenn an einem Haus die Rolläden runtergehen, erlischt es in dunkler Nacht.

30.9.2006: Eins der Wörter dieser Tage, die zu hassen einem nicht zur Schande gereicht, eher zur Zier, sofern Haß und Zier sich gedanklich verbinden lassen, ist das Wort Gewinnspiel.

29.9.2006: Lernen heißt, sich das, was einem begegnet, egal, was es ist, eine Lehre sein lassen.

28.9.2006: Der Sinn von Kopftüchern ist schleierhaft.

27.9.2006: Zu den Traditionen, denen ein gewisser Witz innewohnt, sowohl für ihre Beobachter als auch für ihre Träger, zählt das Auflesen der ersten gefallenen Kastanien.

26.9.2006: Ein feuriges schwarzes Waldbäuerchen ritzt in seine Hütte die Devise: Der Mensch ist der Wirt des Weins. Der Wirt ist nur da ganz Mensch, wo er weint.

25.9.2006: Im Kosmos, diesem halbwegs geordneten dunkelprächtigen Lichtersaal, scheint der Mensch der einzige Gast zu sein, der in seiner Sehnsucht nach Ordnung für Unordnung sorgt, Chaos schafft. Es ist, als lautete seine ihm auf die Stirn geschriebene Losung: Wo Kosmos war, soll Chaos werden. Oder, als neigte er zu dieser Beschreibung seiner selbst: Der Mensch ist ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute, die Ordnung, will, und stets das Böse, die Unordnung, schafft.

24.9.2006: Sich die Hand geben ist eine gute Handlung.

23.9.2006: Das Leben zu bestehen, bedarf es Wehmut.

22.9.2006: Es ist gut für die Gesellschaft, wenn die Menschen einander das Wasser reichen.

21.9.2006: Der blaue Himmel, das lautlose Meer, das an seinen Ufern, in den Bäumen und Gräsern, raschelt und rieselt.

20.9.2006: Natalia Lisboa sendet von ihrem Felsen an der Atlantikküste wieder ein Billett: „Was not tut, ist ein elektronikfreier Tag pro Woche. Keine E-Mails, kein Fernsehen, kein Mobiltelephon. Nur atmen, gehen, schauen, reden, lieben, schweigen, hören.“

19.9.2006: Spirituelles. Ein „Buchgefäß“ (Marileen) enthält literarischen Branntwein.

18.9.2006: Der befremdlichste Fremde ist noch immer jeder sich selbst.

17.9.2006: Loben, lieben, leben – dreieinig leckerste Reben.

16.9.2006: Das Merkmal des Lebens ist seine Denkwürdigkeit.

15.9.2006: Leichthörigkeit. Die Liebenden lesen die Wünsche des Geliebten von dessen Lippen ab, ohne daß dieser etwas zu sagen bräuchte.

14.9.2006: Menschenbild. Gerade auch Unbilden bilden den Menschen, dieses bildliche Wesen.

13.9.2006: Weltaufgang. Ob mit, ob ohne Gott, die Welt geht auf; wenn gleich nicht wie eine Rechnung, doch so klar wie die Sonne, mit den Sinnen, jeden Morgen.

12.9.2006: Wer im Binnenland verankert, auf die hohe See sich wünscht, soll einstweilen wandernd und ankerlichtend sich zum Sehmann machen.

11.9.2006: Unter den Linden bei linden Winden den linden Menschen finden, ihn mit einem Lächeln binden an der Linden Rinden und gemeinsam ein bindendes Wort entbinden.

10.9.2006: Gehgesundheit ist des landläufigen Menschen Glück.

9.9.2006: Vollkommen verkommt der vollkommen im Kimono voll kommende Vollkommene.

8.9.2006: Man hat nur mehr oder minder Einfluß; man bewegt sich, schwimmt und treibt in Flüssen mit unnachahmlichem Tempo Richtung Meer.

7.9.2006: Nie aus der Mode kommt die Kommode, das menschliche Gedächtnis.

6.9.2006: Lebe, liebe, lache, mehr brauchts nicht.

5.9.2006: Mit Anmut, Neugier, Stil. Sich immer wieder gehen lassen, in die Welt. Geh in die Welt und sammle Küsse und küsse selber. Küsse zwitschern so anziehend wie Singvögel.

4.9.2006: Weil wir Fassung bewahren, können wir sie verlieren.

3.9.2006: Bitte, Musik! Gewisse natürliche Tanzbewegungen dienen dazu, Sorgen abzuschütteln.

2.9.2006: Natalia Lisboa spaziert wieder am Atlantik und sendet dieses Spätzlein von Sätzlein: „Der Sinn der Liebe ist trösten und getröstet werden.“

1.9.2006: Wer andere für sich schuften läßt, ist ein Schuft.

31.8.2006: Jeder Mensch ist eine Wurfsendung der Natur ins Leben. Unsichtbar steht auf seiner Haut geschrieben: Vorsicht, zerbrechlich!

30.8.2006: Eins der aufhellenden Gefühle, die man anderen – Menschen und manchen Tieren – vermitteln kann, ist das Gefühl, erwünscht zu sein. Wer dieses Gefühl verspürt, wird frei für die praktische Liebe.

29.8.2006: Man benötigt, mehr noch als Wohnräume, mehr Spielräume. Nur wer Spielraum hat, atmet frei.

28.8.2006: Der Tor ist wie ein Tor, das offensteht, eine Frage, die Neugier erregt. Die einlädt, durchs Tor ins Innere zu gehen und eine menschliche Erfahrung zu machen. Manchmal bleibt man vor dem offenen Tor stehen und wartet. Man wird zum Torwart und ist gespannt, was im Tor erscheint.

27.8.2006: In andere Umstände kommen. Jeden Tag aufs neue prägnant werden. Und staunen darüber, was geboren wird: eine Geste, ein Wort, ein Blick, ein Gang, ein Rezept, ein Tanzschritt, ein Spiel, eine Umarmung, eine Traube, gepflückt am Weinstock, und endlich ein Kuß.

26.8.2006: Das Gegenteil von Distanz ist – Tanz.

25.8.2006: Eine Schülerin sagt: „Ich blicks.“ – Aber was? Das Leben. Sie hat das Leben im Blick und versteht es.

24.8.2006: Natalia Lisboa schreibt wieder aus ihrem Büro im Bairro Alto: „Der Verlust des Lebens, während man noch lebt, ist die Unfähigkeit, Lust zu empfinden.“

23.8.2006: „Fahr lässig!“ könnte man einem Autofahrer sagen, der gleich losfährt. Ist es auch richtig, lässig zu fahren, so wäre es trotzdem fahrlässig, im Leben nur fahrlässig zu sein. Empfiehlt es sich, auch fahrzornig zu sein? Nur mit einem gerüttelt Maß an Fahrzorn läßt sich die Welt zum Besseren wenden. Fahrzornig muß man die allgemeine und die eigene Dummheit loswerden.

22.8.2006: Guter Dinge sein, trotz allen Übels, ist gutes Tagewerk.

21.8.2006: Das Reichen einer Blume, das Reichen eines Apfels, das Reichen einer Hand: Reichtum, der die Menschen stärkt.

20.8.2006: Statt: Der Mensch lebt, könnte man auch sagen: Der Mensch weht. Wie ein Blatt im Wind. Er hat ein Weh, er windet sich vor Schmerzen, er ist der Wind, der vorübergeht.

19.8.2006: Natalia Lisboa schreibt: „Die übermütigen Kinder sind so schön wie die brandenden Wellen am Atlantik, die die Kinder immer wieder unter sich begraben und aufs Meer hinausziehen. Die Kinder spielen mit dem Abgrund, aus dem sie kommen, in den sie zurückkehren. Die Erwachsenen verlieren das Übermütige und schließen Versicherungen ab.“

18.8.2006: Mit jedem Tag, den wir älter werden, sollten wir uns um diesen einen Tag verjüngen, den Geist neu beleben. Wenn schon älter werden, dann so, daß der Geist jung und weise wird.

17.8.2006: Wir tun oft so als wären wir im Bilde. Dabei stehen wir meist nur davor und sehen vor lauter Flecken das Bild nicht.

16.8.2006: Jeder ist Augenzeuge. Zeuge des schwer begreifbaren Geschehens in der Welt. Aber mit den Augen kann man auch zeugen, wenn auch keine Körper. Liebe zeugen Menschen zuerst mit den Augen.

15.8.2006: Wer die Sehnsucht nach dem wahren, schönen, guten Leben preisgibt, wird käuflich.

14.8.2006: Es ist im Leben immer höchste Zeit für die hohe Zeit der Hochzeit. Was heißt Hochzeit anderes als das Leben lieben, die Liebe leben, den Leib lieben, die Liebe sich einverleiben. Die Hochzeit ist ein Zeithoch. Die Tiefzeit hat ausgespielt.

13.8.2006: Der Tod ist unbezahlter, unersuchter, unbefristeter Urlaub vom Leben.

12.8.2006: Freundliche Worte bauen eine Brücke über den zwischenmenschlichen Abgrund.

11.8.2006: Die Reife, die Menschen gern für sich in Anspruch nehmen, ist die Urlaubsreife.

10.8.2006: Tag für Tag. Zwar wirst du jeden Tag in einen neuen Tag gehoben, doch lebst du nicht immer diesen Tag, läßt ihn allzu oft allzu gern verstreichen, und vertagst, was dir wichtig, ohne daß du wähnen dürftest, an einem andern Tag auch noch tagen und das Licht des Tags sehen zu können. Womöglich ist es dann schon Nacht, und mit dem Tagen ist es vorbei. Du solltest jeden Tag danach trachten, zu tagen, hell zu werden, dich mit saumseligem Schwung dem Licht des Unwiederbringlichen auszuliefern.

9.8.2006: Liebemacher, Herzschrittmacher.

8.8.2006: Die sich zieren, sind eine Zier der Menschheit. Die sich nicht zieren, verunzieren die Welt.

7.8.2006: Natalia Lisboa meldet aus den Sintrawäldern: „Wer angesichts von Kriegen, Leiden, Zerstörung öffentlich seufzt, ach, und darin sich erschöpft, scheint fast verachtenswert; nachahmenswert dagegen scheinen die, die Erich Kästners Gedicht Moral beherzigen: Es gibt nichts Gutes / außer: Man tut es.

6.8.2006: Umfangen von Wind und Wolkensturm und auf dem Pfad, der vom Fluß hügelan über die nassen Wiesen führt, kommt dir jemand entgegen. Als ihr nah beieinander seid, lächelt er dich plötzlich strahlend an. Es ist als würde die Landschaft vom Blitz getroffen.

5.8.2006: Etwas aufs Spiel setzen, in Bewegung geraten, Erfahrung gewinnen.

4.8.2006: Ein Gespräch mag sich verlieren ins allgemeine und ins nebensächliche; es wird dadurch weit und gibt den Gesprächspartnern Raum, sich zu dehnen, zu strecken und ein anrührender Anblick zu sein.

3.8.2006: Träumerische Nachtlektüre ist, was in den Sternen geschrieben steht.

2.8.2006: Erst wenn Menschen zu Wort kommen, kommen sie ganz zur Welt.

1.8.2006: Wenn zwei sich streiten und Frieden das Ziel ist, kommt es weniger darauf an, sich auszusprechen, als darauf, ansprechend zu sein. Wer ansprechend ist, spricht den anderen an, kommt mit ihm ins Gespräch, verführt ihn dazu, selbst ansprechend zu werden oder zu sein.

31.7.2006: Auf den Einspruch, sie nehme es schon sehr genau, eingelegt bei einem Gespräch im Café A Brasileira, sagt Natalia Lisboa: „Ich nehme es nicht sehr genau, ich nehme es genau.“

30.7.2006: Literatur macht dir Mut, du selbst zu sein. Sie weckt Anmut.

29.7.2006: Man muß zerstreut sein, um sich sammeln zu können.

28.7.2006: Philosophieren ist Fremdweh, der Trieb überall in der Fremde zu sein.

27.7.2006: Natalia L. sendet vom Gestade des Atlantiks einen Gruß. „Wir Menschen sind Schwimmer, gehoben und getragen von schäumenden Wellen, und während wir für einen Augenblick uns im Anblick des Horizonts verlieren, werfen uns die Wellen ab, und wir sind froh, den Sand unter uns zu fühlen.“

26.7.2006: Menschliches Weben am Teppich des Lebens ist Schweben. Wir haben doch keinen festen Boden unter den Sohlen. Nur den Teppich, den wir weben, während wir leben und auf ihm schweben.

25.7.2006: Senhora Lisboa schreibt aus ihrem gekühlten Büro im Bairro Alto: „Wir sind ins Leben verstrickt. Aber stricken wir selbst oder werden wir gestrickt? Gibt es ein Muster? Was genau wird gestrickt – eine Komödie? eine Tragödie? eine Farce?“

24.7.2006: Nicht mit dem Wagen, der rollt, solltest du dich durchs Leben bewegen, sondern mit dem Wagen, das einhergeht mit Risikomut. Nur wenn du etwas wagst, gewinnst du das erfrischende Gefühl, selbst gelebt zu haben – und das auch in der Niederlage.

23.7.2006: Zuviele Dinge, die uns nichts angehen und nichts sagen, nehmen uns in Beschlag und wollen erledigt sein. Die Kunst bestünde darin, daß wir uns erledigen, uns freimachen für die Dinge und Menschen, die uns wirklich angehen und berühren.

22.7.2006: Träume, Räume der Utopie.

21.7.2006: Der gute Freitag, der Tag der Liebesgöttin Freia. Im Grunde sollte jeder Tag ein Freitag sein.

20.7.2006: Warum fesselt dich das Feuer? Natalia Lisboa schreibt, sie sitze auf einem Felsen am Atlantik, die Wellen branden und schließen sie ein: „Die Ewigkeit entzündet sich, wo sie auf Endliches trifft. Im Feuer werden Ewiges und Endliches eins. In der Flamme siehst und spürst du den nicht begreifbaren Widerspruch – endliche Ewigkeit.“

19.7.2006: Dem Unergründlichen eines Gedankens entspricht die oberflächliche Schönheit seiner Wellen.

18.7.2006: Die Erkenntnis, daß nur die Vergänglichkeit unvergänglich ist, tröstet sogar die Untröstlichen.

17.7.2006: Sorgenfalten verunzieren. Sorgfalt schmückt.

16.7.2006: Um einen Anhalt dafür zu finden, was es mit dem Leben auf sich hat, muß man anhalten. Mit dem Automobil am Straßenrand; wenn man zu Fuß unterwegs ist, indem man vom Weg abkommt und sich an einem Baum niederläßt. Derart angehalten, hat man den ersten Anhaltspunkt. Der Gedanke, was es mit dem Leben auf sich hat, gesellt sich dazu, wie ein Wanderer, der plötzlich auftaucht und sich mit einem unterhält. Später, wenn man wieder unterwegs ist, hängt man dem Wanderer und seinen Gedanken lange nach.

15.7.2006: Umgestalter Juli – an heißen Sommertagen scheint es, als schmölze das Wachs des Charakters. Menschen werden neu erwachsen, erwachen zu ungewohnter geistiger Form.

14.7.2006: Die Vernunft der Turm im Sturm des Lebens; der Verstand der Flieger ins Land der Phantasie.

13.7.2006: Menschen verlaufen sich schneller, als sie denken.

12.7.2006: Im Gegensatz zu reifen Erdbeeren, Himbeeren oder Stachelbeeren, sind reife Menschen anders, und das nicht nur, weil man sie nicht pflücken kann. Der Mensch kann immer nur reifen, aber nie reif sein. Paradoxerweise gilt der Satz: Ich bin dann reif, wenn ich weiß, noch nicht reif zu sein.

11.7.2006: Schicksal: Die Menschen werden wie Blätter vom Winde verweht.

10.7.2006: Das Leben gleicht einer Wanderung mit bekanntem Ziel und unbekannten Wegen. Es kommt darauf an, bewegende Umwege zu gehen.

9.7.2006: Das Meer in dir, das auch im Schweigen beredte, sehnsüchtige, sendet immerfort seine Wellen an die Küsten des Alltags.

8.7.2006: Findet man sich auch als Lebenden vor, muß man sich doch erst ins Leben finden.

7.7.2006: Ein Gedanke ist kein Hut, den man kaufen und sich aufsetzen kann. Denken steht einem nicht. Denken wiegelt auf und dreht einen vom Kopf auf die Füße, damit man gehen kann. Denken heißt sich davonmachen. Wer sich davonmacht, gibt zu denken.

6.7.2006: Sich um das Teuerste, das Leben, gut zu kümmern, sollte dir billig sein.

5.7.2006: Das Schlafen der Hafen, in dem du nachts vor Anker liegst und die Ladung löschst – vor der nächsten Ausfahrt in den neuen Tag.

4.7.2006: Als die Unsterbliche, die hohe See, den Sterblichen, das feste Land, erstmals küßte, gaben sie der Bettstatt ihrer Verbindung, diese auszuzeichnen, den Namen Küste. Im Lauf ihrer stillen, mal stürmischen Beziehung entsprangen, entspringen noch immer, ihre sterblich-unsterblichen Kinder, die Künste. Diese eröffnen vom Ufer des Endlichen aus den Anblick des Unendlichen.

3.7.2006: Der Frieden entspringt geteilten Freuden.

2.7.2006: Sich selbst nicht genügen, ist die Tugend der Jugend, ihr erfrischendes Vergnügen.

1.7.2006: Wolkenstraßen, in keinem Autoatlas zu finden und doch den Erdball umrundend.

30.6.2006: Natalia Lisboa notiert in einem mit Meeressand und einem Ginkgoblatt ausgerüsteten Brief: „Sind die herzstärkenden Momente des Lebens nicht die, da wir gleichzeitig lachen und weinen? Offenbart sich unser menschlichstes Verhältnis zum Leben nicht im lachenden Weinen und weinenden Lachen?“

29.6.2006: Sommerwinde, heilsames Luftwasser.

28.6.2006: Der auch in der Fremde ein heimatliches Dach bietet, ist der Himmel.

27.6.2006: Der Korrespondent des Schläfers ist der Wächter – der Wächter ist ja wach, er ist der Wachhabende. Und was bist du im Alltag? Schläfer oder Wächter? Verschläfst du das Leben oder bist du sein Wächter und bewachst es? Das Leben bewachen – muß man das? Darfst du nicht das Leben verschlafen? Oder geht beides: es eine Weile verschlafen, um dann für es wach zu werden? Das Rätsel des Lebens ist dunkel, du bist im dunkeln. Egal ob Wache schiebend oder schlafend, erst wenn das Dunkel sich lichtet, wenn die Nacht vorübergeht und der Tag anhebt, wirst du das Rätsel des bewachten und verschlafenen Lebens begreifen.

26.6.2006: Die Naht des Paars ist die Liebe. Die Liebe näht, sie naht.

25.6.2006: Der Juni ist die Juno unter den Monaten.

24.6.2006: Er fegt den Kopf beim Lesen, ein guter Satz ist wie ein Besen.

23.6.2006: Senhora Lisboa schreibt wieder aus Sintra: „Im Traum im Oval Office gesessen, und auf die Frage: Was ist der Mensch? geantwortet: Er ist ein Errorist.

22.6.2006: Das Gesicht ein Gedicht, unerschöpfliche Urschrift.

21.6.2006: „Die Sonne tönt nach alter Weise…“: Die Sonnwende ist eine Songwende. Nach dem Tonleiteraufstieg begibt sich die Sonne langsam wieder in die Mittellage. Die Zeit auf dem Gipfel ist kurz. Auch die Königin der Nacht, die Schattenfrau des Sonnentags, vermag nur augenblickelang in den höchsten Höhen zu singen.

20.06.2006: Nur solange wir lieben, leben wir.

19.6.2006: Nicht der Staat stellt dir den Paß aus, sondern das Leben. Den Laufpaß. Auf ihm steht geschrieben: Hier, Mensch, hast du deinen Laufpaß, du bist rechtmäßig in dein Leben entlassen, lauf selbst, sieh zu, wie du läufst, daß es läuft.

18.6.2006: Etliche liegen sommers am Sonnenbusen, gerade auch in seinem Schatten, einem von linden Winden umsäuselten, erfrischenden.

17.6.2006: Alle Menschen haben Talente; nicht jeder hat das Geschick, sie zu entfalten.

16.6.2006: Wer einen Vers dichtet, stiftet Zuversicht.

15.6.2006: Man ist ausgebildet und doch eingebildet. Entbildung tut not. Entbildung als Entbindung. Man ist festgebunden an die leerlaufende Bildtonsäule des öffentlichen Lebens – und sieht nicht die Welt, hört nicht ihre Klänge. Entbindung: sich von der Bildtonsäule losbinden, lossagen, um sich mit eigenen Sinnen von der Welt selbst bilden zu lassen, vom Buch der Bücher, der Natur. Durch diese Bildung verwandelst du dich in ein Bild von einem Menschen.

14.6.2006: Auch eine Begabung: Hingabe als die Gabe der Liebe. Jeder Mensch hat sie und hat oft nicht den Mut, sie freimütig zu geben.

13.6.2006: Die Menschen tendieren zu oft dazu, sich auszuwechseln statt sich einzumischen.

12.6.2006: Der Schein der Sinne. Sich sinnen verleiht farbigen Glanz dir.

11.6.2006: Nicht nur sich sonnen, auch versonnen sein.

10.6.2006: Der Mond, der schweigende Ball, wirkt wie der, den man nur vom Sehen kennt. Sein regelmäßiges Auftauchen am Horizont ist einem liebgeworden wie ein Freund.

9.6.2006: Ballade. Die Welt ist alles, was der Ball ist. Der Ball ist rund. Eine runde Sache hat Leben. Das Leben ist die Welt. Die Welt ist rund. Die Welt ist alles, was der Ball ist.

8.6.2006: Natalia Lisboa brütet wieder in Sintra und schreibt: „Wir haben Augen, um uns anzusehen, einen Mund, um miteinander zu reden, Ohren, um einander zu hören; wir haben Beine, um uns zu besuchen, und Arme, um uns zu umarmen.“

7.6.2006: Die Flößerin am Himmel: Nach langer Regen- und Kältezeit erscheint die Sonne wie eine Flößerin, sie flößt den Menschen Mut ins Herz.

06.06.06: Der heikelste, menschlichste Versprecher: das Versprechen der Liebe. Man verspricht Liebe und verspricht sich nur.

5.6.2006: Lebensziel Euphorie: Sich tragend gut getragen werden.

4.6.2006: Der Mensch hat seinen Geist wie Landsiedler ihre Brunnen. Um zu schöpfen, muß er sich seines Quells innewerden.

3.6.2006: Menschen sind Eintagsflieger.

2.6.2006: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner Schüchternheit.

1.6.2006: Das Leben ist eine Hochzeit. Es ist immer hohe, höchste Zeit, zum Leben Ja zu sagen und es ganz zu leben.

31.5.2006: Musik ist der Sauerstoff des Geistes.

30.5.2006: Du solltest dich regelmäßig entsetzen. Dein Gesetztsein vor dem Abgott des Eigendünkels bedenken, dich erheben, den Tempel der Trägheit verlassen, hinausgehen in die verzweigte Landschaft. Dort atmen, ein Vogel sein, vogelfrei, das Herz pulsieren fühlen, zart, leise, unbestimmt.

29.5.2006: Gegenwart sein als Aufgabe: das, was einem begegnet, aufmerksam erwarten, bis es einem nahegeht und aus der Begegnung Leben entsteht.

28.5.2006: Anregen und sich anregen lassen, auch daraus besteht das Leben. Man könnte auch sagen: Anregnen und sich anregnen lassen, darauf kommts an.

27.5.2006: Die Schwangerschaft eine Morgendämmerung, die Geburt der Sonnenaufgang des Lebens.

26.5.2006: Wenn jeder ein Stern ist, wandert sein Licht nach dem Tod weiter durch den Weltraum.

25.5.2006: Sehnsucht ist nicht laut, sie muß nicht gestillt werden. Sehnsucht ist ganz Sehnsucht, wenn sie als Sehnsucht auffällt. Sie ist Sehnsucht nach der Sehnsucht. Der Sehnsüchtige denkt über sich hinaus und will nirgends hin.

24.5.2006: Ist jeder Mensch ein Stern im sozialen Weltraum?

23.5.2006: Das gute Schlagen: die Augen aufschlagen als ein Akt der Liebe. Die Augen aufschlagen und einen Schlag gegen die Gewalt führen.

22.5.2006: Worte, kleine Orte der Sinnstiftung.

21.5.2006: Es ist im Leben nie zu spät, den Fang zu tun, der dich erfrischt und dir Beine macht. Nenn ihn Anfang.

20.5.2006: Oft machen sich Menschen aus etwas nichts, zum Beispiel aus einer Speise – „ich mache mir nichts aus Kuchen“. Für das Selbstbewußtsein entscheidend scheint, daß sie sich aus etwas bestimmtem etwas, wenn nicht alles machen, aus ihrem Leben.

19.5.2006: Der Morgen: Die Sterne gehen unter, die Stirnen erwachen. Der Abend: Die Stirnen sinken nieder, die Sterne gehen auf.

18.5.2006: Der Regenbogen erscheint dir als das große Tor ins Wunderland. Nur gelingt es dir nie, unterm Torbogen durchzulaufen. Vielleicht geht es nicht darum, durchzulaufen, sondern darum, zu erkennen, daß du das Tor bereits durchquert hast und dich schon im Wunderland befindest. Auf der Welt sein, im Wunderland sein.

17.5.2006: Das Leben ein Regenbogen, bunt, wirklich vorhanden und nicht zu greifen.

16.5.2006: Die tägliche Choraufführung ohne Chorleiter und Botenlohn: das Konzert der Vögel. (Ein paar Brosamen fliegen aus dem Fenster.)

15.5.2006: Flieder – augenfällige, duftende Lieder der Liebe.

14.5.2006: Senhora Lisboa weiter: „Bei der Arbeit gerate ich ins Träumen, und ich frage mich: Findet mein Leben im Labor statt? In Sintra frage ich mich das keineswegs. Da erscheint das Leben als ein Garten. Ein Garten flatternder Vögel und unabschließbarer Räume, die hinunter bis zum Atlantik reichen. Ein Garten, der am Gestade versandet und unter dem Meer weiterwächst.“

13.5.2006: Senhora Natalia Lisboa schreibt in einem Brief, laut Poststempel in Sintra eingeworfen: „…die Unglücklichen sind die Wanderer. Die Wanderer wundern sich. Die sich wundern, haben Wunden. Wunden = Zeichen des Lebens. Leben heißt am Wunder des Lebens leiden. Am Wunder leiden, das Unbegreifliche küssen. Küssen, vermissen. Der Mensch ist auch einer, der vermißt. Wer vermißt, geht ins Leere. Im Leeren träumt er von der Fülle. Die Fülle ist der Aufgang der Sonne. Die Sonne ist die Unansehnliche, die Unansehnliche die Sehnsucht. Die Sehnsucht ist das Gedicht des Webens. Das Weben beginnt im Kindesalter. Das Kind ein sich verlierendes Wesen. Sich verlierende Wesen sind Weltenöffner. Weltenöffner sind Finder. Finder finden Feinde. Feinde sind Freunde. Freunde sind Schenkende. Schenkende umarmen dich. Die dich umarmen, machen dich reich. Wir sind ein Reich. Unser Reich ist unsichtbar und überall. Überall sind wir jetzt.“

12.5.2006: Schöne Diebe, Tagediebe. Sie lassen es sich gut gehen, indem sie den unvergleichen Tag verehren, sich ganz auf ihn besinnen und nichts tun.

11.5.2006: Das Zimmer der Leere ist jenes, in dem nichts sich befindet. Kein Möbelstück, keine Steckdose, keine Fackel. Jedes Haus sollte ein solches Zimmer haben. Es hat ein Fenster. Tagsüber ist es hell, nachts finster. Wiederkehrend grüßt der Mond am Himmel. Im Winter werfen Schneeflocken Lichtschleier an die Wand. Das Zimmer der Leere ist wie atmen, lebensnotwendig.

10.5.2006: Der Mensch soll sein wie eine Schlange und sein enges Heute abstreifen und ein neues weites bilden.

9.5.2006: Es ist nicht gewiß, ob das Leben einen Grund hat; offenkundig jedoch ist, es hat einen Abgrund.

8.5.2006: Maifliederwindsonnentage. „Alles in der Welt läßt sich ertragen, / Nur nicht eine Reihe von schönen Tagen“, reimt Goethe. Tatsächlich wäre das Leben nicht zu ertragen ohne die wiederkehrende Erfahrung einer Reihe von schönen Tagen.

7.5.2006: Wie Wasser rinnen, ist Kunst. Die sich im Augenblick, dem guten, trennen, entrinnen in ein neues Land.

6.5.2006: Senhora Natalia Lisboa notiert in einem Brief: „Es ist doch unmöglich, nur glücklich oder nur traurig zu sein. Die höchste Laune, die tiefste Anwandlung, die ein Mensch erfahren kann – ist die Trauerwonne, die Glückstraurigkeit. Alles andere scheint fast nur Schmu, nur Grille und Kaprice zu sein.“

5.5.2006: Angler des Meeres. Der Mensch ein Menschenfischer. Fischt nicht nach anderen, fischt nach sich selbst. Fischen, sich wünschen, daß der anbeißende Fisch das Wesen ist, mit dem sich in der Kajüte ein Gespräch führen läßt.

4.5.2006: Lebenslänglich ein Anfänger sein. Mit der Zeit immer etwas anfangen können.

3.5.2006: Metaphysik des Federbetts. Das Federbett ist auch ein Sinnbild der Heimat. Die Seele erinnert sich, daß sie ein gefiedertes Wesen ist; träumend stiehlt sie sich davon.

2.5.2006: Die nicht an einem vorübergehen, sind die Kelche des Lebens mit ihren weinseligen Wassern der Liebe, der Lust, der Sehnsucht, der Erinnerung und des Abschieds.

1.5.2006: Der erste Mai gilt unter Liebenden als der Feiertag des Lebens. Das Leben, dieser sichtbar-unsichtbare, überall spürbare Gast, von dem es heißt, sein Name sei Geist. Stoß auf ihn an, laß ihn hochleben, bei einem Fest und alleine, im Schweigen.

30.4.2006: Well’ an Welle, heitre Quelle, helle Schritte in die Mitte, bei Gesundheit, hübsche Rundheit, der Tanz heut in Ganzheit.

29.4.2006: Jeder hat die Möglichkeit, sich befruchten zu lassen. Sich befruchten lassen, offen sein für den Anflug weiser Gedankenbienen.

28.4.2006: Dein Geist, ein Vergißmeinnicht. Zart, leuchtend, im Wind stehend.

27.4.2006: Spazieren gehen, ein Freiluftgehsang.

26.4.2006: Die Möglichkeiten, die in dir träumen, zur richtigen Zeit wecken und in den Tag springen lassen.

25.4.2006: Das Verplempern der Zeit ist die Schwelle, über die du gehen mußt, Schwelle auf dem Weg in die Besinnung, ins Freie zu einer Begegnung, welche die Augen labt.

24.4.2006: Einst gab es auf der Welt keinen einzigen Weg. Heute ist die Welt voller Wege. Den eigenen findet jeder selbst.

23.4.2006: Der inkommensurable Kommentar der Natur zur Frage nach dem Sinn des Lebens ist das Vorkommen von Nachkommen.

22.4.2006: Leere ist keine bloße Leere. Leere ist die Lehre der Fülle.

21.4.2006: Der Jungbrunnen des Leibs muß noch erfunden werden. Den der Seele gibt es schon – der Frühling.

20.4.2006: Manche Künstler verwechseln Dunst mit Kunst. Du nennst sie Dünstler.

19.4.2006: Schreiben und Schreien hängen zusammen. Weil der Schreibende schreibt, schreit er nicht. Und doch schreit er. Angesichts der unerträglichen Mißstände der Welt kann er nur schreien. Das Schreien verhallt. Das Schreiben soll den Schrei in einen haltbaren verwandeln. Der Schreibende ist der Schöpfer des bleibenden Schreis.

18.4.2006: Brote, diese Briefe aus dem Boden. In der Bäckerei holst du täglich die postlagernden Sendungen ab. Das deutsche Bäckereiwesen, das brieffreudigste der Welt und die Deutschen das bodenberichthungrigste Volk der Geschichte. Am deutschen Bäckereiwesen wird die Welt zwar niemals genesen; doch werden die Briefe von ihren Empfängern mit Hingabe gelesen.

17.4.2006: Ja, das tiefsinnigste Wort im Universum?

16.4.2006: Dich erinnert das morgendliche Aufstehen aus dem Bett bisweilen an das Aufstehen eines Boxers, den ein Haken zu Boden gestreckt hat. Der Niedergeschlagene erhebt sich mühsam wieder. Das wiederholt sich im Leben einige Male. Doch endlich bleibt er liegen. Das Leben, ein Boxkampf gegen die Weltmeisterin aller Klassen, die Zeit.

15.4.2006: Schreiben heißt auch auf das Stift der Nachdenklichkeit zureiten.

14.4.2006: Ein Bild abgeben: nicht allein der Schriftsteller, Maler, Musiker ist ein Künstler, sondern auch derjenige, der ein Bild abgibt, das andere inspiriert.

13.4.2006: Poesie ist die Gassenpfütze, die flüssige Leinwand für das Portrait des Himmels.

12.4.2006: Der Autor schätzt den Tor in sich. Torf tut dem Boden gut.

11.4.2006: Ist der Mensch schon das scherzende Säugetier, so ist er doch um nichts weniger auch das stolpernde Lebewesen. Nicht nur der Mensch, sofern er ein Kind ist, stolpert; auch der älterwerdende und alte Mensch stolpert immer wieder. Die Bedeutung des Stolperns geht über das eigentliche Stolpern hinaus. Als Thales, der ionische Naturphilosoph, beim Betrachten der Sterne stolpert und in einen Brunnen fällt, erschallt aus der Nähe das spöttische Lachen einer thrakischen Magd. Die lästert, Thales wolle wissen, was am Himmel sei, aber ihm bleibe verborgen, was zu seinen Füßen liege. Das Stolpern des Thales wie auch der Spott der Magd haben nicht allein anekdotischen Charakter, die Geschichte offenbart eine übertragene Aussage. Im mägdlichen Lachen zeigt sich das Realitätsprinzip, hingegen drückt sich im Sternebetrachten und Stolpern des Thales die Erkenntnis aus, daß zwischen Himmel und Erde mehr ist, als die Weisheit der Magd sich träumen läßt. Wer stolpert, dem fällt etwas auf. Philosophieren heißt auch, das Stolpern nicht zu verachten. Im Stolpern offenbart sich der Weg.

10.4.2006: Der Grund, weshalb Regen Regen heißt, liegt wohl darin, daß bei Regen sich die Pflanzen regen. Der Satz wird in der ganzheitlich ausgerichteten Ökonomie unter dem Begriff Regennomie zusammengefaßt.

9.4.2006: Das dich belebende Danke ist der gelingende Gedanke.

8.4.2006: Die Küsten des Glücks sind auf keiner Landkarte verzeichnet.

7.4.2006: Lebenssünde, sich nicht entblöden.

6.4.2006: Carl Apfelschnitz meint: „Kunst, ist sie nicht anders denkbar als in Form einer Frage?“ Wo Kunst sei, finde sich eine Frage, zumindest verborgen. Kunst stelle in Frage, immer und grundsätzlich das Leben. Das Leben, das sich aus sich selbst in Frage stellt, wäre also Kunst? Deshalb schreibe man: Kunst = Leben? Das Fragezeichen gehöre zum Leben, sei das Zeichen, das übertragen das letzte Wort behalte. Leben und Leben? seien Wörter mit unterschiedlichen Bedeutungen. Kunst sei Leben?

5.4.2006: Carl Apfelschnitz schreibt in einem Brief: „Die Glückseligkeit eines Menschen zeigt sich an seiner Liebendigkeit.“

4.4.2006: Sehnsucht und die Sucht zu sehn, ein Geschwisterpaar?

3.4.2006: Briefträger, weltliche Engel.

2.4.2006: Wer sich in den großen Wald traut, vertraut seiner Findigkeit. Die Welt ist ein Märchen. Die ersten Menschen heißen Hänsel und Gretel.

1.4.2006: Mißverstehst du den Scherz im Glauben, er sei ein Scherz und nicht zum Ernstnehmen? Will nicht der Scherz wie auch das Spiel und die Liebe in aller Ernsthaftigkeit gemacht werden? Entblößt sich der Mensch nicht im Scherz? Ist er nicht das scherzende Säugetier? Der Scherz ist kein Scherz.

 

 



Wegmarken

Es ist der Künste kleinste nicht, den lang ersehnten freien Tag nicht zu vermasseln.

(Romea Juliandóttir)

 

 


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