DIE TERRASSEN DES
PHILOSOPHISCHEN GARTENS
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TAGTRAUMPFADE DURCH DAS ARCHIPEL BERLIN Skizzen Auf der Suche nach Berlin kommt der Reisende durch alle siebenundneunzig Ortsteile der Stadt. Er tut dies in der Hoffnung, im Laufe der Reisen die Gesuchte zu finden. Jede Reise wird mit einer datierten Skizze dokumentiert, die Augenblicke, Aspekte, Begegnungen festhalten mag und als Überschrift den Namen des Ortsteils trägt. Es geht um Wahrnehmenswürdigkeiten. Eine Bedingung für jede Skizze ist, daß der Reisende sich innerhalb des jeweiligen Ortsteiles aufhalten muß und sie aus der Begegnung mit dem Ortsteil entsteht; wohin er im Ortsteil den Fuß setzt, bleibt dem Zufall überlassen, der Laune, der Neugier, der Erschöpfung. Es sind traumwandlerische Unternehmungen. In der Begegnung mit der Stadt kommt jeder mehr oder weniger zu sich, kann jeder sich mehr oder weniger verloren gehen oder sich finden. Es sind Traumpfade, die nirgends angeschrieben sind und die flüchtig verwehen wie Träume und doch sind sie wirklich. Sie sind gleich wirklich wie Tagträume. Der Tagträumer findet immer aufs neue einen Traumpfad. Tagträume und Traumpfade vereinigen sich zu Tagtraumpfaden. Die Tagtraumpfade führen durch das Stadtinselmeer Berlin. Matthias C. Müller
PLÄNTERWALD Am Ufer angeln Angler, augenblicklich, augenscheinlich, erfolglos, während die Fähre fährt, nach Oberschöneweide. Sie stehen unweit des Anlegers, auf demselben auch. Die Fähre mit Namen „Fähr Bär“ wird mit solarem Strom betrieben. Ein Angler zieht die Rute heraus, an deren Haken ein Kunstköder blitzt. Er geht spreeabwärts, ein anderer folgt ihm. Der Kunstköder ist einer der evolutionären Tricks: Täuschung des Opfers. Im Falle des Fisches wäre dieser freilich selber ein „Räuber“, der einen anderen, kleineren Fisch zum Opfer gemacht und gefressen hätte. Ein Mann sitzt auf einer Sitzbank, hört Radio und räumt seine zehn geleerten Beck's-Flaschen in seine geräumige Tasche ein. Die grauen Abfalleimer am Wegrand sind auf ihrer Schauseite rot und weiß besprüht, in den Farben des Fußballklubs Eisern Union. Ein Güterschiff zieht spreeaufwärts. Freizeit- und Partyboote ebenso, auch spreeabwärts. Steh- und Sitzpaddler. Eine Radlerin hat es sich auf einem nicht angefahrenen Anleger bequem gemacht, eine Decke ausgebreitet und die Beine auf eine Geländerstange hochgelegt. Aus dem Plänterwald strömt kühle Luft, die Welt steht unter Strom, von Strömen durchströmt. Cumuluswolken-Strom. Jede der vielen Sitzbänke am Wegrand ist gezeichnet mit den Unterschriften von Sprühern. Ein Mann mit graumeliertem Zöpfchen hat zwischen zwei Uferbäumen eine honigmelonengelbe Hängematte gespannt, sitzt aber gerade an der Uferkante und läßt die Beine über dem Wasser baumeln. Neben dem ehemaligen Funkhaus der DDR, auf der anderen Uferseite, befindet sich der Kajakverleih, dessen froschgrüne Kajaks den Fluß bevölkern. Ein motorisiertes Schlauchboot rast flußabwärts. In einem Schlauchboot mit vier Personen, flußaufwärts rudernd, sagt ein Mann: „Ein Bier wär jetzt nicht schlecht.“ Seine Stimme ist glasklar zu hören, als stünde er nebenan. Es liegt an dieser stumpf-schwülen Luft heute, denkst du, die sie herüberträgt. Eine Jolle mit zwei jungen Männern schippert flußaufwärts. Eine Frau im besten Alter, etwa 55 Jahre alt, mit roten Bermuda-Shorts, sitzt am Ufer auf einer Decke und liest ein Buch, den Zeigefinger führt sie über die Zeilen, während einige Schritte weiter eine Ratte über den Weg huscht. Kastanienbäume sind von der Miniermotte in Mitleidenschaft gezogen, braun gefärbte, spröde Blätter liegen am Wegesrand. Uferbäume sind umgittert, Schutz vor Bibern, den braunfelligen Baumfällern. Du kommst zum Eierhäuschen, der Biergarten hat geöffnet. Das eigentliche Eierhäuschen hat heute geschlossen, wegen einer Hochzeit, scheint es. Zwei lange Tafeln mit weißen, gestärkten Tischtüchern werden eingedeckt. Im Biergarten sitzen Familien, Paare, Freunde, darunter einige feminine, grazile Bewegungen mit den Fingern vollführende, die angeknickte Hand ans Herz drückende und einen aus spitzem Munde kommenden Ton tief empfundener Erleichterung von sich gebende, gestutzte Schnurrbärtchen tragende, Vokuhilafrisuren habende, in ärmellose Hemdchen und kurze Höschen gekleidete, anglophon sprechende Männer: „Oh My Gooosh!“ Schlanke Bikini- Stehpaddlerinnen paddeln flußaufwärts. Ein älterer Herr fährt im Elektrorollstuhl auf dem Uferweg spazieren. Ein Saunaboot zieht vorbei. Eine Touristenführerin hält auf dem Weg vor dem Eierhäuschen eine Ansprache an eine Handvoll Touristen. Eine Deutsche in luftigem Top setzt sich mit einer mutmaßlich zum Islam konvertierten, kopftuchtragenden Deutschen an einen der Biertische; letztere dürfte angesichts der Hitze schwitzen. Hinterrücks hat sich ein gewitterdräuendes Gewölk gebildet. Von den Spreebooten her ist ein dauerndes Dröhnen in der Luft. Auch tönt von allen Seiten das Piepsen der Essensruf-Funkgeräte. Du gehst weiter, spreeabwärts. Dem Stichkanal gegenüber steht ein Gitarrist am Ufer, den Rücken zum Fluß gekehrt, und spielt für Passanten, die freilich nicht stehenbleiben. Der „Spreepark“, der ehemalige Vergnügungspark aus DDR-Zeiten, wird für seine Wiedereröffnung umgebaut. Eine goldene Nixe liegt im Gras am Ufer, eine weiße Jacke über die Körpermitte geschwungen. Du verläßt den Fluß und gehst zu dem kleinen Park neben dem Rathaus und betrachtest den Fischerbrunnen von Reinhold Felderhoff. Auf der einen Seite hält sich ein Paar mit Kind und Schäferhund auf, auf der anderen spielen zwei wohlgenährte Frauen Uno. Eine andere Frau hat neben sich eine Art kleinen Kinderwagen mit einer Außerirdischenpuppe darin. Ein Partyschiff hupt dreimal, das Horn durch den Plänterwald zu hören. Rostfarben sind die hochgebundenen Haare der Frau gefärbt. Am Rand hat jemand auf das Schild „Geschützte Grünanlage“ einen Aufkleber geklebt mit der Forderung: „RELEASE ALL HOSTAGES NOW! DESTROY HAMAS“. Ein türkischer Hochzeitskorso fährt hupend vorbei. Am Rathaus eine Berliner Gedenktafel für den ehemaligen Bürgermeister Rudolf Grunow, von den Nazis 1933 aus dem Amt entfernt. Der armen „Karpfenjule“, einer Bronzeskulptur vor dem Eingang, an die Treptower Fischverkäuferinnen erinnernd, hat jemand ein violettes Hitlerbärtchen aufgemalt. Die Inschrift oberhalb der Rathaustreppe lautet: „Bezirksamt-Treptow Berlin“, auch das Standesamt beherbergend. Auf dem Gehsteig liegen Rosenblütenblätter. An der Eingangstür hängt ein Zettel, welcher den Hochzeit Feiernden das Streuen von Rosenblütenblättern und allem, was rutschig sein könnte, wie Reiskörner, untersagt. Du gehst die Neue Krugallee weiter. Zur Linken tut sich ein windschiefer Garagenhof auf, aus DDR-Zeiten noch. Einander gegenüber liegend, bilden die kleinen Garagen eine Flucht. Es ist dies ein dich erfreuender, geradezu begeisternder Anblick. Ihn sehend, hast du das Gefühl, in der Zeit zu reisen. Weitergehend, betrittst du wieder den Plänterwald. Eine Waldschule liegt verborgen im Grünen und wirbt mit einem Zitat von Franz Kafka: „In den Wäldern sind Dinge, über die nachzudenken man jahrelang im Moos liegen könnte.“ (Ohne Quellenangabe.) Nahebei sprudelt das Wasser der „Kinderplansche Plänterwald“, „Altersempfehlung 2 - 8 Jahre“. Einzelne Gruppen kopftuchtragender Gäste sitzen isoliert neben den mehr oder weniger Nackten. Vor zwei Jahren wurde hier eine Deutsche, die oben ohne sonnenbadete, des Bades verwiesen, von der Polizei hinausgebeten. Sie verklagte das Land Berlin und bekam Recht, vor kurzem erst. Sie hatte und hat das Recht, oben ohne sonnenzubaden. Recht so. Heute ist wieder die Polizei da. Sie nimmt Aussagen zu irgendeinem müßigen Streit auf, den es gegeben haben muß, über den du aber nichts weißt. Du gehst weiter, weiter durch den Laubwald. Ein langer, dunkler Weg verführt dich, an dessen Ende ein Sonnenstrahl einen Baum hervorhebt. Am Wegrand kommst du plötzlich an einer meeresblauen Hängematte vorbei, in der eine junge Frau versunken liest. Du beneidest die Versunkene. Zufällig kommst du wieder am Eierhäuschen heraus, und auf der Spree fährt ein älterer Herr auf einem Tragflächen-Surfbrett vorüber, dreißig Zentimeter oberhalb des Wassers. Vor dem Eierhäuschen sind noch immer die Tafeln eingedeckt, ohne daß jemand aufgetaucht wäre. Hunderte von Weingläsern glänzen, aber wo bleibt die Gesellschaft? Acht Stehpaddler, Männer und Frauen, flußaufwärts. Es ist ein Treiben hin, ein Treiben her. Du gehst flußaufwärts. Eine Frau wirft ihrem Hund einen roten Ball ins Wasser, den er mit Mühe erschwimmt, seine Besitzerin freut sich: „Super gemacht! Bravo!“ Auf einem Partyboot wird getanzt, zwei Kajakfahrer weichen Richtung Ufer aus, von hinten kommt ein Ausflugsdampfer, „Das Wappen von Berlin“, mit großer Geschwindigkeit von Köpenick her gefahren, das Horn blasend, es ist ein lauter, furchteinflößender Ton. Im Ufergras sitzen vier junge Männer und spielen Karten. Die Frau mit den roten Shorts sitzt immer noch da und liest immer noch in ihrem Buch, immer noch mit Zeigefinger, gleichfalls versunken, und versunken ziehst auch du deines Wegs, während oben die Fähre weiter hin und wider fährt. Die Angler glänzen in Abwesenheit, den Fischen zum Frommen. 17.8.2024
FRIEDENAU Um 16 Uhr servierst du dir einen Espresso am Cafe „Lehmbrucks“ am Saum des Südwestkorsos, Ecke Fehlerstraße. Die Stühle sind noch naß und voll Spritzer vom Regen heute. Die Sonne nimmt dich ins Visier, Haufenwolken glänzen ringsum, die Stimmung löst sich im Photonenbad, verschwimmt in allgemeiner Leichtigkeit. Zwei jugendliche Mädchen vertiefen sich ins Gespräch über Beziehungen, drei junge Männer spielen Skat. Ein älterer Herr unterhält sich mit dem „Tagesspiegel“. Ein anderer ißt Kuchen und trinkt Kaffee. An anderen Tischen hüpfen Spatzen in den stehengelassenen Tellern bereits ihrer Wege gezogener Gäste und picken Krümel. Der Südwestkorso ist dir, von den größeren Straßen Friedenaus, die eine angenehme. Auf den Straßeninseln hohes Gestrüpp und wilde, junge Bäume. Eine Mutter lehrt ihre beiden Zwillingsmädchen, drei Jahre alt, die Fehlerstraße zu überqueren, fehlerfrei. Die Skatspieler reden ausschließlich über ihr Skatspiel. Ein Elektrobus, Nummer 248, zum Breitenbachplatz, rauscht vorüber. Die Passanten wirken durch die Bank, als kämen sie von der Arbeit. Keine Spaziergänger. Eine mittelalte Frau mit hennabraun gefärbtem, langem Haar setzt sich an einen Tisch, legt ihre Siebziger-Jahre- Schultasche ab und breitet die „Süddeutsche Zeitung“ vor sich aus. Ein Vater und eine Tochter kommen den Korso herauf, beide tragen kurzärmelige Hemden, beide haben die Arme verschränkt. Ein älterer Herr mit weißer Stoffjacke trägt an der linken Hand eine Herrentasche. Ein 248er fährt Richtung Alexanderplatz. Ein Elektroauto, „Renault Zoe“, kommt wiederholt vorbei auf der Suche nach einem Parkplatz. Das Auto macht dabei ein „komisches“ Geräusch, als hätte es in einer Komödie einen Auftritt. Das Leben gleicht auch einer Komödie, nicht selten einer unfreiwillig komischen. Die Komödie mag in ihrem Ursprung göttlich sein, in ihrem Verlauf ist sie menschlich komisch, unfreiwillig zunächst. Unzweifelhaft kann sie auch freiwillig komisch sein, auch in der tragischen Wendung, der sie am Ende nicht entkommt. Unfreiwillig-freiwillig lebt der Mensch. Die Skatspieler erheben sich unfreiwillig- freiwillig und ziehen von dannen (16.32 h). Ein Maler in Malershorts mit einem Dosengetränk in der Hand geht nachhause. Auch du gehst jetzt, gehst in die Fehlerstraße. Robinien und gelb blühende Linden füllen den Blick. Vor Haus Nummer 8 ragt die Skulptur eines Frauentorsos empor. Du gehst außen an der Mauer des Friedhofs Stubenrauchstraße entlang. Auf dem Friedhof ragt eine riesige Hängebuche empor. Von Süden zieht ein weiß-blaues Wolkengebirge auf. Nach dem Friedhof gehen Jungs nach links auf einen Fußballplatz, du gehst nach rechts in die Laubacher Straße. An der Ecke zur Varziner Straße betrittst du den Gastgarten der Gaststätte „Straßenbahn“. Du hast einen Sonnenplatz mit der schützenden Hauswand im Rücken. Der Blick wandert auf die andere Straßenseite zur „Theaterschule für Kinder und Jugendliche Goldoni“, die in Wilmersdorf liegt. Als du zum Bestellen hineingehst, siehst du auf den ersten Blick: Die „Straßenbahn“ ist eine ziemlich weitläufige, hohe Decken aufweisende, gewissermaßen urgemütliche, trotz seiner Düsternis sonnenlichttrunkene Altberliner Gaststätte aus echtem Schrot und Korn. Ohne dich länger in ihren Anblick versenken zu müssen, bist du gleich fast hin und weg, fast scheint es, als wärst du nachhausegekommen. Die Menschen im Hauptraum sind vom Mobiliar kaum zu unterscheiden, was ihre tägliche Präsenz hier und ihre unumstößliche Solidität in Charakterbildung angeht. In einem Nebenraum spielt eine Runde älterer Damen Karten, von der durchs Fenster wie bei einem Filmdreh herein- scheinenden Sonne in höheres Licht gehoben. Die Damen sind ihres Lebens froh. Draußen auf dein aufgegebenes Bitburger Faßpils mit 0,0% Alkohol wartend, saust nahebei auf dem Hochdamm die Ring-S-Bahn 42 vorbei. Der Kellner, in Alltagskluft, Haarzöpfchen am Hinterkopf, erscheint mit dem Getränk. Kurz darauf erscheint er wieder und wischt mit dem Wasserabzieher den Tisch trocken: „Jetzt hat die Sache Hand und Fuß.“ Auf deine Anmerkung, das Bier schmecke ganz gut, antwortet er: „Ich finds auch gut, ganz ehrlich.“ Ganz ehrlich, an der ehrlichen Mitteilung seiner Meinung über das Bier hattest du dem in deinen Augen ohnehin glaubwürdigen Kellner zu zweifeln keinen Anlaß gegeben, noch hattest du einen Anlaß gehabt, daran zu zweifeln. Seine Bekräftigung mit dem „ganz ehrlich“ wäre also auf der inhaltlichen Wahrheitsebene unnötig gewesen. Warum hat er diese Floskel gleichwohl verwendet, fragst du dich, als er seines Weges zieht, fast tänzelnd, um die anderen Gartentische zu trocknen. Handelt es sich hier um etwas darüber hinaus gehendes, um einen adverbialen Sprechakt, eine bestärkende Phrase, mit der allein er seine implizit authentische Bewertung des Biers meinte explizit unterfüttern zu können? Sobald die Sonne von einem Wölkchen ungehindert voll auf dich scheint, atmest du auf. Angesichts der heute niedrigen Temperatur bist du zu leicht angezogen. Wirbelwind von Süden. Neben dir zu deiner Linken steht ein Hochbeet, Minze, Rosmarin, Salbei, Oregano. Eine violette Clematis rankt sich am Holzspalier empor. Ein Mordsverkehr auf der Straße, als wären alle noch schnell unterwegs irgendwohin, bevor die Welt ihren Laden schließt. Der Doppeldecker 101 hält direkt an der Straße, sein Ziel: U-Bahnstation Turmstaße. Der Bus in Gegenrichtung hält, Ziel: Sachtlebenstraße Zehlendorf. Es ist, auch wenn um dich, auf der Straße und auf dem Bahndamm, der Transferverkehr fährt, wenn diese Formulierung durchgewunken werden darf, ein stiller Moment Sonne in Friedenau. Oder so gesagt: Obwohl es hier laut ist, ist es doch still. Bei allen Lautheiten hier, ist doch stille Einkehr, wenigstens für dich. Zwei Gäste, Mutter und Tochter, blond, eher schick gekleidet, die im Garten des Lokals gesessen hatten, freilich im schattigen Teil zur Varziner Straße hin, stehen jetzt an der Haltestelle und halten, Wange an Wange, das Gesicht in die Sonne. Zeit auch für dich, zu gehen. Das Friedenauer Sportcasino an der Ecke zur Fehlerstraße ist zugewuchert. Hier ist auch die Geschäftsstelle / Abteilung Fußball des Friedenauer TSC 1886. Du gehst hinein zum Fußballplatz, kunstrasenbelegt. Die F-Jugend trainiert, zwei Teams, ohne Tor. Ziel ist das Ballhalten des jeweiligen ballbesitzenden Teams, und zwar durch schnelle Pässe. Du bekommst den Ball, und spätestens die zweite Berührung muß der Paß zum nächsten Mitspieler sein. Grundlagentraining. Ihr habt das früher auch gemacht, allerdings mit Tennisbällen. Du gehst weiter wieder entlang der Friedhofsmauer, wilder Wein wuchert über sie. Du betrittst den Friedhof, um einmal endlich das Grab deines Bekannten zu finden, der laut „Tagesspiegel“ hier seine letzte Ruhe gefunden hat. Wieder und wieder bist du in den letzten Jahren die Gräber abgegangen, hast aber immer noch nicht das gesuchte Grab gefunden. Sonderbar, ein junger Mann repariert unweit von Marlene Dietrichs Grab sein Fahrrad. Er hat es auf den Kopf gestellt, auf Sattel und Lenker, und fummelt jetzt am Vorderrad herum. Mutmaßlich macht er es genau dort, weil ebenda die Sonne gerade wärmend und wie bei einem Brennglas sachlich hinscheint. Irgendwo muß der Mensch sein Fahrrad reparieren. Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er repariert. Die „Wegwerfgesellschaft“ ist unmenschlich. Du suchst Grab um Grab und findest es wieder nicht. Aber auf einem Grabstein liest du die These: „Das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes“. Und auf einem anderen liest du: „Am Ende wird alles gut“. Das Grab ist mit Lavendel, der bereits zu blühen beginnt, bedeckt. Du zupfst etwas Lavendel ab, zerreibst ihn zwischen den Fingern, nimmst seinen Duft auf und ziehst deines Wegs, ins Unbekannte, Offene. 28.5.2024
BRITZ Der Eindeckerbus Nummer 170 faucht auf der nach dem Flugpionier Hans Grade benannten, immer wieder asphaltturbulenten, die Fahrgäste durch harte Stöße erschreckenden Gradestraße grade Richtung Britz. Er fliegt durch die blühenden Wolken des Kleingartenvereins „Sorgenfrei“ und saust am BSR-Wertstoffhof mit zig geparkten Kehrmaschinen und Müllwagen und am verwaisten BVG-Betriebshof vorbei und taucht, jenseits des Britzer Damms, in die Blaschkoallee hinein. Während jeder Sitz im Bus belegt ist und weitere Gäste nur im Stehen sich an den Stangen festhaltend Platz finden, erscheint links ein 2013 dem „Gott“ Sri Mayurapathy Murugan geweihter Hindutempel srilankanischer Tamilen. Kurz darauf zieht das ehemalige Krankenhaus Britz den Blick auf sich, ein roter Klinkerbacksteinbau, der, von der Straße und dem Eingangstor zurückgesetzt, mit seinem zentralen Erkerturm und den Seitenflügeln, wie ein Schloß anmutet. Heute beherbergt es eines der Bürgerämter von Neukölln, darunter auch das Standesamt. Und tatsächlich steht gerade eine heitere Hochzeitgesellschaft am Tor beisammen - die Braut in einem goldseidenen Kleid, einen Blumenstrauß in der Hand. Sie wirkt gelöst und erleichtert. Nur wen hat sie geheiratet? Den Bräutigam kannst du auf die schnelle nicht entdecken. An der Haltestelle Blaschkoallee springst du hinaus, froh, der zusammengedrängten Völkerversammlung zu entkommen. Den Park „Akazienwäldchen“ betrittst du und grüßt den hohen wilden Weizen und die knorrigen Akazien, wenn auch diese Robinien zum Verwechseln ähnlich sehen. Du gehst durch die Fritz-Reuter-Allee Richtung Hufeisensiedlung. Zur Linken salutieren Holunderblütenschirme, ihren inkommensurablen Duft verströmend. Kornblumen, Margariten und orangefarbene Mohnblumen zittern am Wegesrand. Der Blick reist zur Linken in das kurvige, leicht abfallende Sträßlein „Hanne Nüte“, in dem putzige Reihenhäuschen niedliche niederdeutsche Geborgenheit suggerieren. Du gehst weiter und kommst zur Rechten auf den Vorplatz und zum breiten, offenen Zugang zur Anlage des Hufeisenhauses. In der Mitte befindet sich eine nach unten führende Freitreppe, womit du nicht gerechnet hast. Der Anblick empfängt dich so ähnlich, wie du vom Olympiastadion empfangen wirst, du blickst hinab in das große, zentrale Rund, es geht dir durchs Herz. In der Senke liegt ein eiszeitlicher Teich. Um ihn dreht sich eine oval angelegte Wiese, frisch gemäht, um die Wiese wandert ein öffentlicher Weg, oberhalb des Weges, hinter einer Hainbuchenhecke, liegen die weiter zum Haus hin ansteigenden Terrassen der privaten Gärten der Anwohner. Welch ein Anblick, überraschend. Langsam gehst du die Treppe hinab. Stille und Ruhe kehren ein. Auf der Wiese döst ein Bernhardiner. Die Weiden am Ufer flüstern im Wind. Ein Schild erinnert an den ersten Verwalter des Hauses, Erich Grashoff, der, von den Nazis vertrieben, nach dem Krieg erneut Verwalter geworden sei und anderen Verfolgten des „NS“-Regimes und Kriegsheimkehrern bei der Zuweisung von Wohnraum geholfen habe. Auftauchend aus dem Anblick, gehst du die Treppe wieder hinauf. Auf der Terrasse des an der Treppe angesiedelten Restaurants „Zum Hufeisen“ sitzen, an getrennten Tischen, zwei alte Paare, schweigend, eines von ihnen speist. Eine Katze, graugetigert mit weißen Pfoten, sitzt auf dem Boden, springt dann auf einen freien Stuhl, mutmaßlich zum Schlafen. Ein Mann irrt vorbei, eine FFP2-Maske tragend und irgendeinen Maskennotstand proklamierend. Die „Anwohnerinitiative Hufeisern gegen Rechts“ plakatiert an einer Litfaßsäule Informationen zur Siedlung und gibt Hinweise auf Veranstaltungen. Im Cafe der „Info Station“ des Welterbes Hufeisensiedlung sitzen relativ schick angezogene, betagte Eheleute bei Kaffee und Kuchen. Obwohl es sommerlich warm ist, sitzen sie nicht draußen, es ist ihnen zu windig, in der Tat wirbelt Kiesstaub immer wieder durch die Lüfte. Du setzt dich trotzdem hinaus mit einem Espresso. Die verantwortliche Laden-Lady kommt in ihrem grünen Sommerkleid heraus, setzt sich zu dir, schenkt dir Schokoladenkekse, und während sie erzählend die Siedlung dir auseinandersetzt, läßt sie die Gäste im Cafe-Innenraum sitzen. Cumuluswolken ziehen. Ein kleines Mädchen mit langen Haaren geht auf dem Gehweg der „Hanne Nüte“, geht irgendwohin, sein Gehen hat die Anmutung eines ewigen Erscheinens, als würde ein solches Gehen sich ewig in der Zeit wiederholen, als wäre es Teil einer ewigen Musik, die von selbst aus dem Nichts ertönt und niemals verstummen kann. Auf der anderen Straßenseite steht ein Briefkasten, hinter ihm ragt ein gewaltiger blühender Holunderbusch empor. Im Cafe befand sich einst ein Kolonialwarengeschäft, und die es betreibende Familie wohnte eine Vierteltreppe höher hinter dem Laden. Du kannst die Wohnung besichtigen, sie war, im Vergleich mit den damaligen sonstigen Arbeiterbleiben in den dunklen Hinterhöfen, ein luxuriöser Traum, das Bad mit Wanne, die Küche mit Tisch, zum Plaudern groß genug, ein kleiner Balkon mit Zugang zum Garten, die Wände in kräftigen Farben gestrichen. Und so ziehst du weiter, wieder zum Hufeisenteich, an dessen Ufer gelbe Lilien blühen. In einem der Gärten auf der Nordseite blüht wieder ein Holunder. Am Teich sitzt ein älteres Paar in heller Kleidung im Gras, mit dabei zwei Möpse. Auf der anderen Uferseite sitzen zwei junge Leute im Schatten und hören aus dem Telephon Musik. Am westlichen Wiesenabhang spielen drei Kinder im Schatten eines großen Baumes Ball. Eine mittelalte Frau umrundet unten am Ufer mit ihrem lütten Pudel langsam den Teich. Im westlichen Hausdurchgang zum Lowise-Reuter-Ring fegt der Wind wie ein Wüstensturm. Der nordwestliche Durchgang hat unterschiedlich gesetzte Klinkersteine. Vor der Miningstraße 35 steht ein über und über blühender rosa Rosenstrauch. Die Vorgärten sind hier in der Regel in Autostellplätze umgewandelt worden. Nicht aber in der Onkel-Bräsig-Straße. Zwischen den Häuserzeilen mit ihren nach hinten hinaus gehenden schmalen Kinderspielparadiesgärtchen führen Fußweggängchen entlang, es findet sich da auch ein abschließbarer, nur den Anwohnern zustehender Trockenplatz zum Aufhängen der Wäsche. Im Hüsung gehen die Häuserzeilen rhombenähnlich auseinander und machen so in der Mitte Platz für einen Platz, eine Art Dorfanger. Eine Rundbank umrundet einen Kugelahorn, auf der du dich niederläßt. Kinder spielen Verstecken. Eine englischsprachige Nachbarin spricht den Vater der Kinder an, der gerade sein Auto belädt. Eine Schlanke unterhält sich mit wirbelnden Armen mit zwei Siebzigjährigen. Vor einem Hauseingang stehen zwei jugendliche Schüler, Mädchen und Junge, es wirkt, als wären sie frisch verliebt. Plötzlich verschwinden sie im Haus. Eine junge Mutter trägt ihr neugeborenes Kind in einer Brustschlaufe. Es ist still. Du gehst die Paster-Behrens-Straße hinunter, ein Schildchen über dem Schild sagt: „bis 1933: Moses-Löwenthal- Straße“. Es zieht zu. Im Westen rauscht eine riesige Buche. Eine Schülerin mit Lutscher im Mund geht Richtung Parchimer Allee. Ein voluminöser Range Rover parkt vor einer Haustür, ein Fahrzeug, das nicht zu diesen schmalen Häuschen passen will. Ein Vater und seine Tochter unterhalten sich mit einer Mutter und ihrem Sohn. Der ist etwa 13 Jahre alt und trägt das neue, pinkfarbene Trikot der Fußballnationalmannschaft, auf dem Rücken stehen der Name Wirtz und die Nummer 17. An der Parchimer Allee hängen an jedem Laternenpfahl Wahlplakate, eines der SPD zeigt den Kanzler Olaf Scholz und die Brüsseler Politikerin Katarina Barley: „Deutschlands stärkste Stimmen für Europa“ liest du. Aber was soll das heißen? Vor dem Mehrzweckladen „Sun Box“ sitzen vier polnische Handwerker und trinken Augustiner-Flaschenbier. Überall blühende Gärten, Rhododendren, Mohnblumen, jetzt rote. Die Hufeisen-Apotheke ist klein und süß, die kleinste und süßeste Apotheke der Welt, scheint dir. Die Straße Dörchläuchting. „Seniorenfreizeitstätte Bruno Taut“ an der Ecke zur Fritz-Reuter-Allee. Die Bäckerei Hufeisen hat seit 15 Uhr geschlossen. Auf dem Vorplatz unterhalten sich zwei Männer über ein neues Motorrad der Marke Kawasaki, der eine hat lange, graue Haare und führt seinen struppigen Hund aus, der jetzt auf dem Kies liegt und hechelnd ausruht, der Kawasakifahrer hat eine Denkerstirn. Gegenüber kommst du am Friseur „Sabine Glaubitz“ vorbei. Wimpernfärben ist für 11 Euro zu haben. Neben dem Hufeisen-Cafe befindet sich „Nicole's Beauty & Wellness Ecke“, die dir vorhin entgangen ist. Du geht in die „Hanne Nüte“ und siehst am Eck zur Havermannstraße unter einem Baum elf Bienenkästen stehen. Über den Krugpfuhl kommst du wieder zur Fritz-Reuter-Allee. Am Hufeisen-Restaurant setzt du dich ganz außen, am letzten Tisch, auf Höhe der Treppe, in die Sonne. Der Laden macht auf dich einen eher ausladenden Eindruck, keinen einem UNESCO-Welterbe angemessenen. Aus einem Abluftrohr bläst ein Luftgemisch, das aus ranzigem Bratfett zu bestehen scheint, und dem Glas des kleinen „Berliner Kindls“, das der Kellner dir höflich kredenzt, „Zum Wohlsein, mein Herr“, entweicht ein Aroma wie von brackig-moderigem Spülwasser. Du versenkst dich in den Ausblick über den Hufeisen-Teich hinweg in die ferne Ferne des Westens mitsamt der dort zwischen einzelnen Schicht- und Haufenwolken jetzt gleißenden Sonne. Die wohl zum Restaurant gehörende Katze legt sich zu dir. Als es ihr in der Sonne zu heiß wird, zieht sie auf den freien Stuhl um, vom Tisch beschattet. Winde schraffieren die Teichoberfläche, Teile des Spiegels sind glatt, andere werden südostwärts gebürstet, andere gen Norden. Es ist, als verpaßten die Winde dem Teich eine postmoderne, sich stets nach wenigen Augenblicken wieder verändernde Frisur. Der Motorradfahrer wird von einem Motorradfahrerfreund abgeholt, und die beiden brausen davon, indes der Langhaarige mit seinem Hund Richtung Teich wandert. Der Laden hier wirbt im Untertitel für sich mit dem Ausdruck „Spezialitäten-Restaurant“; seine Gerichte wären also auf eine irgendwie besondere Art zubereitet und hätten eine irgendwie besondere Geschmacksnote. Auf eine weitergehende Degustation verzichtest du. Du zahlst, ohne auszutrinken, und nimmst Reißaus. Über den südlichen Durchgang des Hufeisenhauses gehst du noch einmal durch die Dörchläuchtingstraße und liest auf dem Denkmal für den einst hier in der Straße wohnhaften Erich Mühsam, er sei ein „Dichter für Freiheit und Menschlichkeit“ gewesen. Vor der „Sun Box“ sitzen immer noch die vier Polen mit ihren Bieren. Daneben haben jetzt zwei jugendliche Mädchen Platz genommen, die in ihrem Telephonspiegel ihr Aussehen begutachten. Das Britzer Night-Life hebt an. Weiter gehst du, westwärts, zum Gutspark. Der ist schön. Hier kannst du wieder aufatmen. Vor dem ehemaligen Ochsenstall, jetzt ein Veranstaltungssaal, sagt eine Schiefertafel: „Herzlich Willkommen zur Hochzeit von Lara und Wiebke“. Vielleicht sind das die von der Trauung, an der du vorhin vorbeigefahren bist, ohne den Bräutigam entdeckt zu haben. Der Schloßgarten liegt fein säuberlich akkurat verlassen da. Das Schloß, ein ehemaliges Herrenhaus. Neben der Dorfkirche schläft der Kirchteich verträumt im Abendlicht. Ein Banner am Zaun der Kirche sagt: „Du bist nicht allein.“ Zurück im Gutspark, setzt du dich in den Garten des Restaurants Buchholz, das nach eigener Angabe eine „legere Landhausküche“ anbietet. Die Spargelcremesuppe schmeckt. Vom „Hauswein“, der angeboten wird, kann dir die Kellnerin nicht sagen, was für einer der sei, sie wisse nur, daß er rumänisch sei und sehr gut munde. Du läßt dich darauf ein, und in der Tat, der Wein mundet nicht schlecht. Sapperlot!, würde Eugen Rapp jetzt sagen. Auf dem Weg durch Alt-Britz Richtung Blaschkoallee kommst du an der International Christian Church vorbei, vor der Tür steht ein Diplomatenauto, es wird gerade ein Gottesdienst zelebriert, der Prediger hat einen amerikanischen Südstaatenslang und bringt die Menge regelmäßig zum Schreien, wie du draußen auf der Straße hörst. Es ist, als träten die Gottesanrufer auf exzentrisch unmittelbare Weise in Verbindung mit ihrem „Gott“. Der jetzt fast leere Bus 170 hält vor dem Bürgeramt und trägt dich wieder zurück, wieder am BVG-Betriebshof vorbei, auf dem nun zig Busse akkurat nebeneinander geparkt stehen, bereit für die Nachtruhe. Im Westen geht über den Kleingärten die Sonne unter. 17.5.2024
ZEHLENDORF Die orangefarbene, gemütliche Bummelbahn, die U 3, in Dahlem-Dorf bestiegen, rollt Richtung „Krumme Lanke“, oberirdisch, in einem eingeschnittenen Tal, und nach kurzer Fahrt, mit nur wenigen Gästen im Abteil, kommt sie, es ist halb drei Uhr, an der Haltestelle „Onkel Toms Hütte“, inmitten einer stillen Ladenpassage, vor Regen geschützt durch ein spitzes Glasdach, zum Stehen. Du steigst aus und drehst eine Runde. In der Ladenstraße Süd schlurft ein jugendlicher Schüler an dir vorbei die Rampe herauf, so wie nur jugendliche Schüler schlurfen können. Grundschüler neigen eher dazu, zu hüpfen, was sie heute freilich, ihrer schweren Schulranzen wegen, kaum mehr tun. Die Jeans Corner wartet auf Kunden. Bei Bäcker Wiedemann nimmt jemand die Backware entgegen. Die Zehlendorf Schneiderei ist gut sortiert, an der Wand sind alle möglichen Nähutensilien mit einer bis ins einzelne gehenden Sorgfalt angebracht. Ob ein Vorfahr von Schuhmode Schmiedling ein Schmied war? Der Huf eines Huftiers ist ein schuhartiger Überzug aus Horn am Zehenende, und Schuhe sind gewissermaßen menschliche Hufen; bei Stepptänzern auch mit Steppeisen beschlagen. In der Buchhandlung Born fragst du die Buchhändlerin Frau Kaiser, ob sie das Buch „Gute Nachbarn. Gedichte, Briefe, Texte und Bilder“ von René Char und Peter Handke, herausgegeben von Katharina Pektor, zufällig vorrätig hätte, womit du kaum rechnest, denn welcher Dahergelaufene würde ausgerechnet hier in der Ladenpassage ein solches eher Spezialisten und Tagträumer ansprechende Buch kaufen? Und so bist du überrascht, als sie es, ohne mit der Wimper zu zucken, sogleich vom Büchertisch nimmt und dir überreicht. Jetzt mußt du es fast auch kaufen, wenn dich die aufgerufenen 28 Euro auch innehalten lassen, im übrigen ist es ziemlich schwer - warum es mit sich herumschleppen? Doch seis drum. An der Kasse springt dir noch das von Architekt Winfried Brenne für den Deutschen Werkbund Berlin verfaßte Buch über Bruno Tauts Berliner Bauten ins Auge, und weil hier, außerhalb der Passage, die „Waldsiedlung Onkel Toms Hütte“ sich befindet, dem nicht zuletzt von Bruno Taut, dem „Meister des farbigen Bauens“, wie es auf dem Titelblatt heißt, maßgeblich entworfenen Beispiel für „Neues Bauen“ im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, nimmst du es mit in Kauf und mit auf den Weg. Beim Hundefriseur „Die schicke Käthe und der flotte Bolle“ wird gerade ein sandblonder Pudel gestutzt. Er sitzt dabei nicht in einem Frisierstuhl und trägt schon gar nicht einen Frisierumhang, wie er Menschen in solchen Fällen umgelegt wird, um die Kleidung vor dem vom Kopf herabfallenden Haar zu schützen, da bei ihm schließlich der ganze Körper voller Fell ist und ein Frisierumhang nur hinderlich wäre, sondern er steht auf einem Frisiertisch und wird von seiner menschlichen WG-Partnerin streichelnd beruhigt, während die Stylistin an seiner Rückseite herumschneidet und -zupft. Oben im Eingangsbereich der Bahnhofshalle an der Onkel-Tom-Straße hat das „Reformhaus“ geöffnet, seine Idee entstammt, wie die Idee der architektonischen Moderne aus dem Geist der im 19. Jahrhundert als Antwort auf die Industrialisierung entstandenen Lebensreformbewegungen. In „Toms Kaffeerösterei“ in der Ladenstraße Nord trinkst du einen Espresso, Mischung „Toms Extra-Stark“, kräftiger als der von dir in der Filiale in der Nonnendammallee in Siemensstadt genossene. Die Barista sagt: „Alexa, ein wenig lauter“, und du denkst, sie meint die Mitarbeiterin, die wie eine Alexa aussieht. Weil Alexa aber offenbar nicht lauter stellt, wiederholt sie es, dieses Mal lauter und auch leicht ungehalten, und nun endlich wird die Musik ein wenig lauter. Als sie dann sagt: „Alexa, spiel Tausendmal berührt“ und Alexa den Titel mit einer Computerstimme ansagt, merkst du, Alexa ist nicht die Mitarbeiterin, sondern ein Musikabspielgerät. Nach dem Lied sagt sie: „Alexa, spiel Ohne dich schlaf' ich heut Nacht nicht ein“, und das Lied der Band „Münchener Freiheit“ aus den Achtzigern wird gespielt. Anschließend sagt sie: „Alexa, wiederhol das Lied“ - und sie singt mit: „... das was ich will bist du“. Vor dem Cafe, am Abhang der Rampe hinab zum Bahnsteig, stehen die Sitzgelegenheiten schräg, und die Gäste sitzen auch schräg. Über der Eingangstür hängt ein Photo, das in der Bildmitte den derzeitigen deutschen Bundespräsidenten nebst Gattin lächelnd hier im Cafe zeigt, umringt von Tom und seinen Mitarbeitern, es scheint, als würde bei der staatsoberhäuptlichen Morgentoilette gerne Toms Sud hinter die Binde gekippt, und der Präsident wollte es sich nicht nehmen lassen, hier vor Ort einmal dem Röster persönlich die Aufwartung zu machen und ihm dankbar die Hand zu schütteln. Du gehst weiter, hinaus zur Argentinischen Allee, und besichtigst en passant die Wohnkunstwerke von Bruno Taut. Es ist wahrlich, als gingest du inmitten eines über Waldflächen verteilten Skulpturen-Kunstwerks. Die Autofahrer durchfahren das Kunstwerk, so ähnlich, wie die U-Bahn durch das zum Denkmal erhobene Einkaufszentrum fährt. Eine der knorrigen, am Wegrand stehenden Kiefern tätschelst du im Vorbeigehen. An der Ecke zur Riemeisterstraße steht auf einem Stein-Denkmal: „Architektur ist die Kunst der Proportion. Bruno Taut 1880 - 1938“. „Das Haus - Birke, Kiefer, Blumen und Wiese gehören dazu.“ An der Ecke Riemeisterstraße und Wilskistraße steht an einem Eckhaus das Wort FRISIERKUNST, rote Buchstaben mit weißen Neonröhren darauf, ein Wortkunstwerk, Teil einer „Farblichtmusik“ (um das Wort von Alexander Laszlo aufzugreifen) wie überhaupt die ganze Siedlung einer symphonischen Aufführung eines von Menschen bewohnten Farblichtmusikwerks gleichkommt. Birken und Kiefern und sonstige Auswüchse in der Tat überall, und auf den Dächern der Autos klopfen immer wieder Kiefernzapfen einen heimlichen Rhythmus. In der Wilskistraße knorrt eine besonders alte Kiefer empor. „Im Waldhüterpfad“, „Im Gestell“ blühen weiße und rote Rhododendren und weiße und violette Flieder. Die Sonne kommt leicht durch, 15.55 h. „Im Fischtal 84“ steht ein haydngelbes Haus, vor dem ein weißblühender Kastanienbaum aufragt, weiße Rhododendren und lila Flieder blühen. Vor der Sporthalle in der Onkel-Tom-Straße türmt eine Eiche. In der Zufahrt zur Straße „Im Kieferngrund“ landet ein Eichelhäher auf dem Zaun und beobachtet dich. Ein Tief hat kalte Luftmassen herangesaugt, die Finger sind klamm. Links die Kirche der Evangelischen Emmaus-Gemeinde. „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“ (1. Korinther 16,14) liest du. Die Gemeinde hieß „früher: Ev. Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde“, wie in kleinen Buchstaben unter dem Gemeindenamen steht, aber erläutert wird nicht, wann und warum die Umbenennung erfolgte. Auf einem Baumstumpf neben der Kirche blühen Vergißmeinnicht. In dem „Begegnungs-, Beratungs- und Freizeitzentrum für ältere Bürger“ namens Hertha-Müller-Haus neben der Argentinischen Allee üben sich ältere Damen in „kreativem Gestalten“. Du kommst zur „Waldsiedlung Krumme Lanke“, früher eine „SS-Kameradschaftssiedlung“, wie ein städtisches Schild am Straßenrand sagt. Am Selmaplatz 5 ist eine Gedenktafel für den Historiker Gerhard Schoenberner angebracht, der sich für die kritische Aufarbeitung der „NS“-Unzeit mehrfach erfolgreich einsetzte. Du spazierst durch die ehemalige „SS“-Siedlung und fragst dich, wie es sich heute wohl in einem solchen „SS“-Reihenhäuschen lebt? Zwischen den Häuserzeilen befinden sich kleine, offene Kiefernwaldplätze. Aus einem Reihenhausfenster weht die Deutschland- Flagge, warum? Im „Himmelsteig“ ist an einer Laterne ein Schild angebracht, auf dem folgendes steht: „Neighborhood Watch / Program in Force / We immediately report / all SUSPICIOUS PERSONS and / activities to our Sheriff's Dept.“ Und darunter: „Copyright: 1982 The Sign Center, Inc. PO Box 4097 San Diego, Ca 92104“. Ist das Schild noch von den Amis? Oder hat hier ein Anwohner sich einen womöglich nützlichen Scherz erlaubt? „Im Kinderland“. An der Ecke Quermatenweg und Ithweg kommst du am Ort der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz vorbei, wie wieder ein städtisches Schild informiert. In diesem Fall erreichten die Mordterroristen der „Rote Armee Fraktion“ ihr Ziel und preßten im Gefängnis einsitzende „RAF“-Mitglieder frei; später ließ die Bundesregierung sich hierauf nicht mehr ein, mit fataler Folge für den entführten Hanns Martin Schleyer. Im Ithweg 1 erblüht Goldregen, im Ithweg 6 blühen an der Hauswand Glycinien. In der Eschershauser Straße Ecke Süntelsteig steht ein Briefkasten, tägliche Leerung 17 Uhr, samstags um 14.15 Uhr. Wieder eine große weißblühende Kastanie am Wegrand. Aus den Gärten überquellende Flieder. Eine Jugendliche mit Pferdezopf führt ihr Pferd über den Pferdeplatz an der Onkel-Tom- Straße. Du gehst oberhalb der Pferdeanlage an Koppeln und Pferdeställen vorbei, im Wald hinab Richtung Riemeisterfenn und Krumme Lanke. Vögelsingen im Wald. Am Ufer der Krummen Lanke kommt um 17.45 Uhr die Sonne heraus, wenn auch matt. Goldglanz auf dem windgeriffelten Spiegel. Von der Avus das gleichmäßige Dröhnen der Autos. Vögel singen variantenreich. Enten jagen einander. Ein Graureiher fliegt erhaben über den See, landet am gegenüberliegenden Uferröhricht. Ein Güterzug fährt neben der Avus. Eine Blonde mit grauen Haarsträhnen entkleidet sich und geht langsam ins Wasser; schwimmt. Die „SS“-Reihenhäuschen, sie erscheinen dir wie für Zwerge gebaut? Am Wasserkäfersteig Ecke Täubchenstraße wieder ein Briefkasten, tägliche Leerung um 17 Uhr, samstags um zwei. Du kommst noch mal durch die ehemalige „SS“-Siedlung, es sind überwiegend hübsch hergerichtete Häuschen mit blühenden Rhododendren etc. Kinderwagen, Spielzeug, bei Familien offenbar beliebt, kein Durchgangsverkehr, der Wald, der See, so nah, für Kinder ein Traum. Für dich wäre es ein Alptraum. Es nieselt. Adieu. 16.4.2024
SCHLACHTENSEE
Um halb zwei Uhr am Mittag willst du in der Buchhandlung am S-Bahnhof Schlachtensee das Buch „Wozu? Eine Philosophie der Zwecklosigkeit“ aus der Werkstatt von Michael Hampe kaufen, um es am Ufer des Sees zu lesen. Du erhoffst dir von ihm einen neuen Aufschluß über den Sinn des Lebens. Die Buchhändlerin sagt freilich, es sei, nach einer lobenden Besprechung in einer Zeitung, derzeit nicht lieferbar. Das ist für den Autor erfreulich, und so miterfreut, wenn auch buchlos, machst du auf der Stelle kehrt. Nach einem in der Sonne langsam hinuntergeschütteten Espresso am gegenüberliegenden, frisch renovierten Cafe „Nah am Wasser“ gehst du ans Seeufer und wanderst gegen den Uhrzeigersinn. Heute ist Frühlingsanfang, und du meinst, Mörike besinge in seinem Gedicht „Er ist's“ nicht zuletzt den Vorfrühling, jene verheißungsreiche Zeit zwischen Winter und Frühling, in der die bald kommende Blütezeit ihren Boten erst noch voraussendet in Form eines Windes, des „Flatterns“ eines „blauen Bandes“, einer plötzlich helleren Stimmung, die den Wanderer auf freier Flur des „streifenden“ Frühlings baldige Ankunft „ahnungsvoll“ erkennen und durch die Art hören läßt, wie der Wind in den noch blätterlosen, freilich schon knospenden Bäumen saust, als erschallte „von fern ein leiser Harfenton“. Der Frühling ist noch nicht da, aber mithilfe des blauen Telephons, des luftigen Telephonkabels läßt er sich „vernehmen“ und teilt mit, er „wolle bald kommen“ und mit ihm auch die noch „träumenden Veilchen“. Denn an einem Tag wie heute sind die Veilchen längst da, und es fehlt auch nicht an Blüten im Revier, Forsythien, Weißdorne, Mandelbäume, Buschwindröschen, japanische Kirschen, Osterglocken blühen voll, der Frühling kündet sein Kommen nicht erst noch an, er ist da. Die Luft ist wärmer als in den vergangenen Tagen, die Menschen sitzen jackenlos im Freien. Vögeltirilitirila. Ein Mann badet, immer wieder untertauchend. Wozu? Eine junge dreiköpfige Familie sitzt am Ufer. Wozu? Ein jugendliches Paar, beide mit ausgezogenen Schuhen, hält am Ufer Händchen. Wozu? Eine Läuferin läuft. Wozu? Mutter und Tochter unterhalten sich im Gehen. Wozu? Die Läuferin, die gerade dich überholte, umarmt am Ufer jetzt eine Eiche. Wozu? Zwei Sechzigjährige unterhalten sich, er sagt: „Und sie arbeitet in einem Verlag?“ und fährt mit senkrechten Handflächen durch die Luft nach unten; wahrscheinlich hat die Frau eine in einem Verlag arbeitende Tochter, die beiden befinden sich wohl in einem frühen Stadium ihrer noch offenen Bekanntschaft. Ein siebzigjähriger Elektroradler rast in Vollmontur und verbissen vorüber, als fürchtete er, zu spät zu seiner Beerdigung zu kommen. Eine Frau in mittleren Jahren liebt ihr Rad und schiebt. Paare schlendern am Ufer entlang. Zwei junge Frauen haben nach dem Baden ihre Handtücher zum Trocknen auf einem am Boden liegenden Stamm in der Sonne ausgebreitet. Wegrandbüsche haben frisches, weiches Blättergrün. Der Weg macht eine Biegung nach links, und Sitzbänke liegen in der Sonne, du nimmst die Einladung einer Bank an und prüfst den Ausblick von ihr. Der Blick wandert über das gold getäfelte Seewasser. Die blinkenden Sonnensterne auf dem Spiegel schweben zeitlos. Es ist 14.22 h. Das Schilfrohr raschelt im warmen, leichten Wind. Zwei miteinander befreundete Frauen unterhalten sich auf der Nachbarbank in einem leisen, einschläfernden Parlando. „Nein, diese Woche bin ich krank, nächste Woche habe ich Urlaub.“ Zwei jugendliche Mädchen führen ihr Parfum und einen wackeligen Hund spazieren. Mutter und Tochter, beide schon weißhaarig, gehen Hand in Hand vorbei. Ein lauter Passagierjet erscheint, du kannst ihn aber nicht sehen. Vom Avus-Wald her dröhnt ein langer Güterzug. Zwei Radler mit einem mit ihnen mitspringenden weißblonden Familienhund. Eine Läuferin mit Gewichtsweste und neongelben Strümpfen. Auf der anderen Nachbarbank döst eine fünfzigjährige Raucherin. Die goldene Täfelung auf dem Wasser zieht sich wegen eines durch die Sonne ziehenden Kondensstreifens in die Ferne zurück. Wie der Kondensstreifen sich auflöst, kommt die Täfelung zurück. Ein großer Flieger zieht exakt über den See, 14.53 h. Ein Schrei einer Jugendlichen aus dem kahlen Wald. Ein grimmig dreinblickender Sechzigjähriger rast wütend vorbei. Ein Bläßhuhn trompetet. Eine junge Mutter schiebt ihr Kind im Sportwagen. Ein Hubschrauber überquert von links den See, hinter ihm fliegt eine Piper. Hohe Wellen am Himmel. Ein siebzigjähriges Ehepaar setzt sich auf eine freigewordene Bank, die Frau sagt „wie schön!“, und er trägt Funktionskleidung, aber wozu? Sieben Kondensstreifen kreuzen sich, recht schnell zerfallend. Ein vorbeihechelnder Läufer mit Hinterkopfzopf starrt dich an, als wärst du eine fragwürdige Erscheinung. Ein Deutscher und eine Philippina unterhalten sich auf Englisch über China und die Bedrohung der Philippinen durch das Rote Reich. Eine hübsche Radlerin setzt sich auf eine freie Bank. Kirchenglocken läuten, von der Johanneskirche in der Matterhornstraße? 14.55 h. Von fern, von der anderen Seeseite, ein leiser Laubbläserton - wozu? Zwei Frauen bequemen sich zu dir, eine alte und eine junge, die junge, neben dir, trägt „Converse“-Turnschuhe, schwarze Leggings und einen offenen weißen Winteranorak. Die Radlerin telephoniert zu laut; sie gehört zu jenen, die intuitiv glauben, man müsse in das Telephon hineinrufen, damit es auf der anderen Waldseite vernehmbar wieder herausschalle. Die junge Frau macht darauf aufmerksam, daß in der Ferne, am Horizont des Sees, sich etwas bewege. Es ist kaum erkennbar. Dann kristallisiert die Kontur eines Stehpaddlers. Er nähert sich langsam, fast zeitlos. Immer wieder klatschen die Flügel der Bläßhühner auf den Spiegel. Schäfchenwolken verdichten sich, die Sonne kommt nur mehr matt hindurch, der See wird mattgolden, 15.11 h. Die gegenüberliegenden Uferwaldhänge erscheinen luftig leer. Ein alter Mann, Typ Dirk Roßmann, trägt rote „Walbusch“-Cordhosen, die Uniform des sozialdemokratischen, gutbürgerlichen Freizeitmannes. Ein Schwarm Mückchen überfällt dich von hinten, als regneten gewichtslose Sternchen auf dich herab. Wozu? Wozu nur wollen so viele das Buch „Wozu?“ lesen oder doch wenigstens kaufen? Der Zweck ist die Zwecklosigkeit. Die Hoffnung, den zwecklosen Zustand zu erreichen? Zwecklos. Ein älterer vorbeigehender Mann trägt Barbourjacke und einen pinken Pullover. Ein Radler erscheint, bei dem alles grün, aber nicht einheitlich grün, ist, vom Rad bis zur Kleidung. Ach, ist das der Ranger? Eine in unterschiedliche lila Töne gekleidete Dicke taucht auf. Eine Wolke wirft einen Schatten auf den See, 15.24 h. Die Läuferin mit der Gewichtsweste kommt wieder vorbei. Um 15.29 h scheint die Sonne wieder ein wenig hervor. Die Zwecklosigkeit kann man nicht erobern. Ein Kampf zweier Bläßhühner, aus Liebe? Manche Menschen gehen vorbei und kommen nach einer Zeit wieder zurück. Andere gehen vorbei und kommen nicht wieder. Welchen Zweck erfüllt eine Philosophie der Zwecklosigkeit? Wenn sie einen Zweck hat, dann ist sie nicht zwecklos. Aber verfehlt sie dann nicht auch ihr Ziel, die Zwecklosigkeit, und ist gerade deshalb doch zwecklos? Wenn sie hingegen von Anfang an zwecklos ist, hat sie dann ihren Zweck erreicht? Am Horizont türmen Wolken auf, als braute ein Gewitter sich zusammen. Ein Mann schwimmt vom linken Ufer in den See hinaus. Hinter ihm öffnet sich ein Schleier aus Wellen. Ohne Sonne wirds ein wenig kühl. Die Gewichtsläuferin erscheint wieder, ihre 3. Runde, 15.58 h. Du stehst auf und bewegst dich Richtung Fischerhütte. Wozu? Vor dem Terrasseneingang wartet ein Tisch mit weißem, gestärktem Tuch, du setzt dich auf die Bank mit dem Rücken an der Wand. Vor dir ragt die Jahrhunderte alte Eiche empor. In den nächsten Wochen wird sie sich neu einkleiden. Wozu? Die Frage stellst du dir wohl nicht, du Eiche der Zwecklosigkeit! 20.3.2024
SIEMENSSTADT Der zwölf Meter lange Eindeckerbus 139 röhrt weiter über die Rohrdammbrücke, rohrdammwärts, über die Spree, an deren Ufer Schilfrohrspeere aus dem Wasser schießen oder doch, in deinen Augen, zu schießen scheinen. War es heute vormittag neblig-klamm und frostig, strahlen jetzt, am Nachmittag, 14:53 h, Himmel und Sonne blau und golden. An der Haltestelle des Verteilerzentrums der Deutschen Post und der DHL steigt ein DHLer ein, pflanzt sich hinter dich und nebelt dich mit seiner Fahne ein. Der Bus durchfliegt den Wohlrabedamm. Unter dem aufgelassenen Siemensbahnviadukt hindurch. Über den Siemensdamm. Wieder unter dem Viadukt hindurch. Einkaufszentrum billig. Edeka Urbschat. „Berliner Rouladenhaus zur Quelle“. Das Restaurant „Yogi Haus“. Nonnendammallee Ecke Rohrdamm, die Siemensverwaltung. Am Schaltwerk entlang. Von links tauchen die Kraftwerke Reuter und Reuter-West auf, nach Ernst Reuter benannt, hoch jagt in den Himmel blütenweißer Rauch. An der Haltestelle Paulsternstraße verläßt du den Bus. Sie ist voll Kies, im Winter gestreut, damit niemand ausrutscht, und doch rutschst du gerade deswegen fast aus. Du bist dankbar, daß es an der keines Wegs lauschigen oder klösterlichen Nonnendammallee eine Ampel gibt; denn angesichts der bereiften, nach Spandau bretternden Lawinen beziehungsweise der von dort her in die Stadt hineinstaubenden Gegenlawinen käme es einem Kamikaze-Unterfangen gleich, in sie sich zu stürzen in der Hoffnung, auf der anderen Seite ungerupft wieder herauszukommen. Du rufst durch Bedienen der Taste das Fußgängersignal. Hunderte von Autos, Hunderttausende von Kilogramm an kinetischer Energie werden deinetwegen zum Stillstand gebracht. Deine kinetische Energie ist mit jener der Autos nicht zu vergleichen. Noch stehend verbrennen die meisten von ihnen vergleichsweise viel Energie. Wieviel Raum diese Rollmöbel einnehmen. In vielen sitzt ein Mensch, dessen Körperbreite durchschnittlich vierzig Zentimeter, dessen Körpertiefe dreißig Zentimeter und dessen Körperhöhe im Sitzen einhundertvierzig Zentimeter mißt. Und welche Maße, und Ausmaße, haben diese tonnenschweren Rollstühle? Manche von ihnen haben ein erhöhtes Gestell, und ihre meterhohen fletschenden Kühlergrille wirken auf den Fußgänger zeitweilig bedrohlich, unmenschlich, als zeigte ein neuzeitlicher Tyrannosaurus rex seine Fangzähne, als würde er nur auf das grüne Autosignal warten, um dich mit gelassen sadistischem Wohlwollen zu zermalmen oder dich mit hupendem, röhrendem Gebrüll von der Fahrbahn zu jagen. Wieviel Energie verbrauchst du, wenn du zu Fuß die Straße überquerst, wieviel Feinstaub wirbelt durch den Abrieb deiner Sohlen auf? Und ein Elektroauto, ist das ähnlich „schmutzig“ wie ein Verbrennerauto, zumindest dann, wenn der Strom und die Batterie nicht aus „sauberer“ Energie erzeugt und hergestellt werden? Was nützen die in der Regel aus der orwellschen und genozidalen „Diktatur der Mitte“ eingeschifften Solarpaneele, um „sauberen“ Strom für die Elektroautos zu gewinnen, wenn sie dort mit Kohlestrom fabriziert werden? So erreichst du das andere Ufer. Wohin des Wegs nun gehen? Die weiße Rauchsäule lockt dich an, und auf der Karte siehst du eine Straße zur Alten Spree. Nichts wie hin! Du gehst in die Otternbuchtstraße, der Name an eine Zeit erinnernd, zu der in der Spree an einer sich öffnenden Bucht Ottern schwammen, nimmst du an. Über die Boltonstraße gelangst du zur Ecke Großer Spreering. In einem eingezäunten, graslosen Stück Land bauen zwei Männer an einer Bude, deren Zweck du nicht erraten kannst. Ein Würstelstand für die Kraftwerksarbeiter, die nach Dienstschluß Lust auf eine Bratwurst mit Senf und Schrippe haben? Auf dem Hof der Firma Gerken stehen Miet-Arbeitsbühnen, schon erreichst du den Parkplatz des Kraftwerks. Von rechts kommt ein Wachmann mit Hund an der Leine, der mutmaßlich einmal mußte. Er teilt dir im Vorbeigehen mit, du könnest hier nicht weitergehen. Du blickst hinauf zum fast senkrecht über dir aus dem Kamin rasenden Rauch und bist immer noch erstaunt über dessen hohe Geschwindigkeit. Weiter oben verwandelt er sich in eine blütenweiße Cumuluswolke, langsam ostwärts ziehend. Du liest am Eingang ein Schild: „Betriebsausweis unaufgefordert vorzeigen“, das in fünf Sprachen übersetzt wird. Ein Pförtner, vom Hundeausführer unterrichtet, kommt heraus und sagt, im Netz könnest du unter „Vattenfall Punkt d e Schrägstrich irgendwat“ eine Führung buchen, zum Beispiel für eine Schulklasse, und so womöglich bis zur Alten Spree vordringen. Du dankst ihm für seine Auskunft und siehst dich eine Schulklasse auftreiben, während er zurück in seine Kabine kehrt. Jenseits der Pforte hängt eine Regenbogenfahne, so gut sichtbar, als wäre sie die Firmenfahne. Sie steht, jenseits dessen, was alles sie bedeuten kann, hier „für Toleranz und Vielfalt“, dem derzeitigen „westlichen“ Zeitgeistschrei entsprechend, in der Sprache des Unternehmens: „Vattenfall Diverse Energy“, wenn auch hier fast allein Steinkohle verfeuert wird. Unter dieser Überschrift nahm das Unternehmen am Berliner Christopher Street Day 2023 mit einem eigenen Wagen teil. Ob das Unternehmen dieses „Bekenntnis“ ernst meint oder nicht, es verleiht sich damit einen „fortschrittlichen“, „modernen“ Anstrich, ganz egal, welche Gedanken die „Heizer“ sich darüber machen, wenn sie an den glühenden Öfen die Steinkohle den Flammen übergeben. „Over the rainbow“ siehst du wieder diese blütenweiße Flugasche nach oben in den Himmel rasen, diese „unterirdischen“ Farnwälder eines fernen Landes einer fernen Zeit, nach hunderte Millionen Jahre langem, sedimentierendem Schlaf binnen eines Wimpernschlags verbrannt. Asche zu Asche, Staub zu Staub, das Leben ist der Augenblick dazwischen. Du gehst zurück, an den Handwerkern des möglichen Wurstschuppens vorbei, und weiter die Otternbuchtstraße hinab, unter den Förderbandbrücken hindurch. Auf einem verblichenen Schild steht „Braunkohlesilos / Kohlenlager / Verteiler A und B“. Links sitzt das schmuckdosenhafte Bürogebäude der Firma „Wörpel Bau“. Zwei Heizer mit aufgerüsteten Helmen mit roten und grünen Lichtknöpfen, Lampen und Funkantennen begegnen dir. Sie sagen, dort vorn sei nur das Werkstor und links eine Kleingartenkolonie, ich käme da zur Spree nicht durch. Dessen ungeachtet gehst du weiter und winkst an der Pforte dem Pförtner zu, der auch gleich heraustritt. Er trägt ein kurzärmeliges Hemd, damit die Mitwelt seine Tätowierungen besichtigen kann. Tatuierungen haben in den letzten dreißig Jahren, über ein anfangs möglicherweise vorüber gehendes Modephänomen hinaus, epidemisch sich ausgebreitet, und ein Ende dieser deines Wissens nach weder soziologisch noch phänomenologisch noch demopsychoanalytisch verstandenen Volkshautbehandlungen scheint nicht absehbar. Wann fühlt das Volk sich wohl in seiner Haut? Die Epidermis eine Projektionsfläche, eine Gewebeleinwand auf Knochenrahmen für Pieks-Picassos, die mit eingeritzten Farben sich verewigen? Tätowierungen als Volkskunst des 21. Jahrhunderts? Jeder tatuierte Mensch sei, wenn schon kein Künstler, so doch ein Kunstwerk, zu Markte getragen, um Aufmerksamkeit zu erregen und Anerkennung zu finden? Oder um sich als Teil eines sich neu erfindenden Volkes zu erfahren, des Stammes der Tätowierten? Spricht hieraus gar die Sehnsucht, nach dem selbstverschuldeten Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust „einfach“ wieder frei zu einem Volk ja sagen zu können, ohne schlechtes Gefühl, anders als in der ersten Nachkriegszeit, in der die in ihr Geborenen erfahren mußten, in ein Mördervolk geboren und Teil desselben zu sein? Verwandeln sich die später Geborenen, oder doch ein nicht unerheblicher Teil derselben, eben in ein „jungfräuliches Volk“, das Hautzeichen tragende, über die gesamte Körperhaut geritzt und auf die Weise das an der Stirn geschriebene Kainsmal unsichtbar machend? Mit diesen, dir selbst durchaus nicht unnärrisch erscheinenden, flüchtigen, von keiner dir bekannten wissenschaftlichen Empirie gestützten Schwungübungen hängst du dem Pförtner und seinen Hautbemalungen nach, als ließe er dich an seinen Armen im Kreise wirbeln, während du die rund vierhundert Meter der monotonen Straße bis zum Eingang der Kolonie Spreewiesen hinter dich bringst, obendrein in dem Bewußtsein, daß diese Peckerln auch bei anderen Völkern sich ausbreiten und manche Menschen sie womöglich „schlicht“ schön finden. Aus den Augenwinkeln siehst du an der Fabrikwand noch die Spuren des Schriftzugs „Bewag“, der Name des Unternehmens, bevor es von den Schweden verschlungen wurde. So ratlos du dem Phänomen der Tintennadeleien gegenüberstehst, so ratlos stehst du dem der Gartenkolonien gegenüber. Zwei, drei Autos parken außerhalb. In dem winterlich verwaisten Gelände begegnet dir eine rotblond wuschlige Perserkatze, die vom Weg aus mit einem Satz auf das Törchen eines Gartens springt und von dort weiter seines Spazierwegs zieht. Ein Flieger im Landeanflug auf Schönefeld; er wird eine Rechtskurve beschreiben und dann von Osten her landen. Plötzlich steht neben dir eine ältere Frau, und obwohl du selbst erschrocken bist, fragst du sie nach dem Weg, damit auch sie von ihrem Schreck sich erholen kann. Ob der Weg am anderen Ende aus der Anlage wieder hinaus führe? Nein, du kämst am Osttor nicht hinaus und müssest den gleichen Weg zurückgehen, antwortet sie, während sie das Schloß an ihrem anthrazitkohlegrauen 240-Liter-Müllbehälter der Marke Sulo mit einem Schlüssel aufschließt. Eine abschließbare Mülltonne hast du noch nicht gesehen, abgesehen davon, daß sie jetzt in diesem Gebiet ohnehin kaum von Unbefugten mißbraucht werden dürfte, denkst du, während im Hintergrund weiter der weiße Kraftwerksrauch in die Höhe schießt und die daraus entstehenden Wolken über euch hinwegziehen. Du siehst zu deiner Rechten ein Gewässer, schon Teil der Faulen Spree? Enten dümpeln darauf. Es erscheint noch ein Flieger, 15:42 h. Weiter ostwärts ein Wäldchen, leise fauchend. Am nordöstlichen Ende gehst du am Zaun der Steinkohlehalde entlang. Ein blauer Schaufelradbagger mit langem Arm und Förderband steht still, zwei Heizer scheinen etwas zu reparieren. Ein Gänseschwarm-V taucht auf. Am Osttor teilt ein etwa siebzig Jahre altes Schild in dich ergreifender taubenblauer Farbe in kaum mehr lesbarer weißer Schrift mit: „Hier gilt die StVO“. Das verschlossene Tor überklettern? Aber wohin führt der dahinterliegende Weg? Sicher bist du dir nicht, du läßt es bleiben und kehrst um. Zurück in der Kolonie, niest irgendwo ein Mann in einem Garten. Als du an der Pforte wieder vorüberkommst, unterhält sich der Pförtner mit dem Fahrer eines Wagens der Firma Halter: „Sprengung Abbruch Kampfmittelräumung“. Ein von Schönefeld startender Flieger dröhnt Richtung Nord-West, 16:05 h. An der Ecke zur Motardstraße steht ein doppelstöckiger Autotransporter aus Litauen bei laufendem Dieselmotor. Der obere Stock ist vollgeparkt, der Fahrer spaziert über den Gebrauchtwagenparkplatz und sucht nach weiteren beschädigten Autos für das Baltikum. Nah dem Werk „Osram“ parkt ein alter, schwarzer Mercedes 250 Automatic, ein elegantes Auto. Funkmast Motardstraße. Das Siemens-Werk in der Nummer 54 nennt sich „Siemens Energy AG / Mixed Reality Development & Experience Center / Technology Education and Competency Center, Gas Turbine Berlin“. Welche Realitäten hier entwickelt werden, du hast spontan keinen Schimmer. Gegenüber, bei den Wasserbetrieben, sagt ein großes Schild, die Kantine sei „Montag bis Freitag von 06:00 - 12:00 Uhr“ geöffnet. In der Ferne glüht der backsteinerne Siemensturm. Am Rohrdamm öffnet sich die Tür der „Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung / Deutsche Rentenversicherung“, und zehn Studenten verlassen das Gebäude, 16:30 h. Nebenan verkündet „Meen Friseur“ auf einem handgeschriebenen Schild, man könne auch ohne Termin einen Termin bekommen. Drinnen sitzen die beschäftigungslosen Friseurinnen. Wärst du nicht gerade erst beim Friseur gewesen, wäre das jetzt die Gelegenheit. Das Geschäft „Backusilius. Pfiffiges zum Backen und Verschenken. Cakies & Coffee“ hat sich allein auf Backutensilien spezialisiert. Aber wer verläuft sich und wer fährt extra deshalb hierher? Freilich, laut dem Zettel an der Tür dürfen ohnehin maximal drei Personen im Laden sich aufhalten. Es scheint, als gälten hier die längst aufgehobenen behördlichen Pandemie-Einschränkungen weiterhin. An der Ecke Rohrdamm und Nonnendammallee wartet Siemens' „Stammhaus“-Restaurant mit Kegelbahn auf seine Kunden. Vor dem Siemens-Verwaltungssitz listet ein Kriegsdenkmal die den „Heldentod“ gestorbenen Mitarbeiter des Ersten Weltkriegs namentlich und alphabetisch geordnet auf. Der Toten des Zweiten Weltkriegs wird lediglich mit namenlosen Jahreszahl-Steinblöcken gedacht. Daneben erhebt sich eine „Wing“ genannte Installation des Architekten Daniel Libeskind, ein von in deinen Augen kunstanalphabetischen Siemens-Kultursponsoren bestellter, sich höher gebender, banaler Blödsinn - man kauft einen bekannten Namen ein und meint, womöglich, die Firmensitze damit „schmücken“ oder aufwerten zu können. Der Vorgang zeigt, auch hier, daß die Kunst, obwohl bekanntlich auf den Hund gekommen, sich doch dazu noch verwenden läßt, zu behaupten, man verleihe der nicht entblödeten Wirklichkeit den Anschein einer höheren, fast transzendenten Aura oder Weihe. In diesem Fall gilt: ars ancilla pecuniae, die Kunst ist die Magd des Geldes. Dagegen hast du nichts einzuwenden, schließlich muß jeder, auch die Künstler, sofern sie keine Bohemiens sind, Miete zahlen, man soll diese prostituierte Gebrauchskunst nur nicht höher hängen als ihr Materialwert es verdient. Mit solchen Gedanken wartest du an der Ampel und überquerst den Rohrdamm nach Osten, Richtung Nonnendammallee, deren nördliche Seite von der Sonne angeleuchtet wird. Links verkauft der „Baumpflegershop Climbtools“ Kletterausrüstung, und vor dir geht ein fünfzigjähriges Paar, er in Handwerkerkleidung, sie mit knöchellangem Winteranorak, Hand in Hand, ein Restaurant suchend, das Steakhaus zur Linken hat sie nicht überzeugt, der „Hühnerwald“ auf der anderen Seite scheint sie gleichfalls nicht zu verlocken, sie überqueren die Wattstraße und suchen, ohne zu finden, bis sie finden, was sie nicht suchen. Das Haus Nonnendammallee 97 hat dich anregende weiße, halbrunde Holzbalkone. Der Abschleppdienst Potsdam kommt angefahren mit einem liegengebliebenen Bus der BVG im Schlepptau, dahinter folgt die Polizei-Eskorte mit Blaulicht. Die Grammestraße hieß bis 1938 Hertzstraße, ehe sie umbenannt wurde, informiert das Straßenschild. An der Centralapotheke zeigt das Außenthermometer 6 Grad Celsius. In „Toms Kaffeerösterei“ steht ein Gast am Fenster, du gehst auf einen Espresso hinein, und der Gast entpuppt sich als der Barista, ein freundlicher Geselle, Mitte fünfzig. Der Espresso tut dir gut, auch nach der langen Latscherei, und der Barista, Ralle genannt, erzählt, daß er den in deinen Augen luftigen Laden mit Tom und dem Gerhard Ridder seit letzten Mai betreibe. Man kann einen Jakob-Kaiser-Platz-Becher kaufen. Die Siemensdamm- und Nonnendamm-Becher seien bereits ausverkauft. Vor dem Fenster rast ein Krankenwagen mit Tatü vorbei. Du kommst zwar hinfort wahrscheinlich nicht wieder in diese Gegend, wegen des Espressos allerdings würde die Fahrt sich lohnen. Nördlich der U-Bahnstation Siemensdamm stehen alte Eichen. Sie sind Teil der „Ringsiedlung“ oder Großsiedlung Siemensstadt, die links vom Jungfernheideweg in Siemensstadt und rechts davon in Charlottenburg-Nord liegt und seit 2008 zum UNESCO-Welterbe zählt. Von der gelben Currywurstbude nach Norden gehend, erblickst du links ein Wohnungsbauwerk von Hans Scharoun, das mit seinen „Brücken“, Relings und zum Teil bullaugenartig kleinen Fenstern manche Betrachter an ein Kreuzfahrtschiff erinnern könnte, aber kaum doch an einen „Panzerkreuzer“, unter welchem Beinamen es allerdings bekannt wurde. Zur Rechten erscheint ein schräg trichterförmig zur Straße heran und zum Brückendurchlaß der Siemensbahn verlaufendes weiteres Bauwerk von Scharoun, in dem dieser selbst dreißig Jahre von 1930 an gelebt hat. Jenseits des Siemensbahndamms erscheinen die Zeilen des Bauhaus-Gründers Walter Gropius, zur Linken hat ein florierender Waschsalon der Firma „Gehwaschen“ im Stile des Bauhauses geöffnet. Links daneben in der Goebelstraße befindet sich „Akmans Kiosk & Backshop“. Eine alte Frau sitzt davor auf einem Plastikstuhl und raucht eine Zigarette, die Einkaufstüte neben sich. Hier, in dieser Siedlung, kannst du, zum Teil, verstehen, warum das, was mit Bauhaus, Lebensreform, Neue Sachlichkeit und so weiter im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt auch von deutschen Landen ausging, einen Freund in Dessau einmal zu dieser Aussage hinriß: „Deutschland war einmal richtig toll“ - Freiheit, Modernität, Weltläufigkeit, der Zukunft freundlich neugierig zugewandt, mit dem Wunsch, es gut zu machen, das Leben gut zu gestalten, und zwar für alle - ein demokratischer Kreativismus, der Freude und Lebenslust bereiten oder doch wenigstens nicht behindern oder durchkreuzen sollte. 28.2.2024
NIKOLASSEE Keine Glocken läuten um zwölf Uhr von irgendeiner Kirche bis hierher auf den Bahnsteig des S-Bahnhofs, keines der Polizeiautos vor der gegenüber liegenden Polizeiwache prescht los und hängt sich quietschend in die Kurve von Alemannen- und Normannenstraße auf dem Weg zum Unglücksort. Ein, zwei Passanten verlieren sich, und die Bahn fährt weiter nach Wannsee. Es ist verschlafen still. Die Sonne bringt sich inmitten dünner, ziehender Wolken in Erinnerung, eine rettende Boje in den schaukelnden, sie immer wieder dem Blick entziehenden Wellen des Meeres. In der federballspielfeld- großen Bahnhofshalle grüßt ein Kiosk, hinter dessen Tresen ein jugendlich aussehender, junger Mann mit nach vorn gekämmten Haaren Zeitschriften, Glückslose und Bier verkauft. Auf der anderen Seite warten Blumen und Obst auf ihre Käufer, in der Bäckerei schielt die Verkäuferin über den Tresen, während du ihr die Münzen für die ausgehändigte Backware hinüberreichst. Ein leerer Verkaufsraum ist zu mieten, hier könntest du eine Galerie eröffnen. Du würdest unbemalte, signierte Leinwände rahmen und die „Gemälde“ in dieser Form dem Publikum, sofern es geneigt wäre, präsentieren. Die Signatur wäre der Nachweis für ein Original aus der Hand des Künstlers, kein Werk aus dessen Werkstatt. Die Kunst, nicht selten auf den Hund gekommen, wiederholt Spekulationsobjekt von Superreichen, in der Regel: Superkleptokraten, oder Spielwiese von Künstlerunternehmern, deren Geschäftsmodell, nicht so deklariert, im Abschöpfen von Fördertöpfen und Absahnen von Stiftungspreisen besteht, wohingegen du freilich nichts einzuwenden hast, habe nur mehr eine Chance, sich der „Vernutzung“ auf dem Kunstmarkt zu entziehen, indem sie sich der Sichtbarkeit und ihrer Verwertbarkeit entzöge und nur mehr in den Köpfen ihrer Betrachter erschiene. Die Kunst des „Gemäldes“ entstünde in des jeweiligen Betrachters Phantasie. In dessen Einbildung würde sie aus dem Feuern seiner Neuronen neu geboren: Phoenicia wäre auch der Titel jedes Werks - Phoenicia I bis Phoenicia endlos. Sollen die Galeriebesucher sich doch vor den Leinwänden über das, was sie sehen oder nicht erkennen, miteinander austauschen! Du besuchst in der benachbarten Ladenzeile den Bücherladen „Lesezeichen“ von Ilona Lang, einer eleganten, silberhaarigen Frau, und fragst nach einem gewissen Stadtplan von Berlin, den sie aber nicht kennt und auch nicht hat. Schade! Du greifst nach dem neben dir im Regal stehenden neuen Buch von Rüdiger Safranski, über „Kafka“, und bist überrascht, daß es doch recht dünn ist, was freilich nichts über sein Gewicht aussagt, und meinst, der Verfasser gehöre wohl zu jenen, die an den Jahrestagen von Berühmtheiten entlang schrieben und so einen Verkaufserfolg nach dem anderen wahrscheinlicher machten. Heuer gedenkt man des 100. Todestages des Prager Versicherungsangestellten, und man wäre als auf den Lebensunterhalt achten müssender freier Autor mit dem Klemmbeutel gepudert, nützte man diese Tatsache nicht aus, um sein jahrestägliches Scherflein vom zahlenden Publikum sich entrichten zu lassen. „Aber er ist kein Schwätzer“, sagt die höfliche Bücherfrau, wobei du mit deiner Beobachtung dessen mutmaßliches Erfolgskonzept keineswegs hattest beanstanden wollen. Doch mußt du lächeln über ihre als verteidigendes Lob gedachte Charakterisierung. Kein Schwätzer zu sein, ist tatsächlich viel. Unter den in der Öffentlichkeit reüssierenden, bisweilen mit den unentrinnbaren öffentlich-rechtlichen Gebühren für ihre Einlassungen märchenhaft entschädigten Intellektuellen sind schließlich doch manche, denen das Verdikt, Schwätzer zu sein, kaum vorzuenthalten wäre. Du fragst sie nach ihrem Urteil über die Romane von Lutz Seiler, dem jüngst mit dem Georg-Büchner-Preis geadelten Lyriker, und sie meint, sie habe von seinem sie beeindruckenden „Wenderoman“ „Stern 111“ viel gelernt, und auf deine ihr wohl verdächtig erscheinenden, allzu kriminalistischen Nachfragen hin entfährt ihr die erschrockene Frage: „Sie sind der Autor?!“ Fast hättest du geantwortet: „Um Himmels willen!“, beläßt es aber bei einem schlichten „nein“ und erwirbst, von der Wendung des Gesprächs entzaubert, nur noch das jüngste Jahrbuch Zehlendorf 2024 und machst dich vom Acker. Der 112er Bus Richtung Nahmitzer Damm in Marienfelde schaukelt gerade übers Pflaster heran, du springst hinein und läßt dich, eine Station weit nur, zur Rehwiese bringen, der streckenweise trockengelegten, einst nebelsumpfigen, langen Bodensenke, Glied der Kette der Grunewaldseen, den Schlachtensee mit dem Nikolassee verbindend, von dem aus das Wasser weiter zum Wannsee sprudelte, bevor das Wasserwerk Beelitzhof das Grundwasser abpumpte. Gleich vor dir fängt eine gewaltige Eiche deinen Blick. Tausende Äste ragen nach oben, kein einziges Blättlein ist noch zu sehen. Sie sei etwa 300 Jahre alt, einer der ältesten Bäume Berlins. Du grüßt sie und dankst ihr für ihre Existenz. Ob sie es versteht? Du schlägst den Kragen hoch und gehst durchs beschauliche Wonnegauviertel zum Waldfriedhof Zehlendorf, um nach den Schneeglöckchen und Krokussen zu sehen. Die Rehwiese mit ihren tollenden Hunden und den ihren Hunden Bälle zum Holen werfenden Hundehaltern läßt du Rehwiese sein, zumal du den Weg hinab zum Nikolassee als einen nicht beschaulichen, düsteren in Erinnerung hast, er führt unter der sich hier schlängelnden Autobahn 115, kurz bevor sie zur schnurgeraden Avus wird, hindurch, einem schattigen, verwaisten, lärmnebeligen Ort. Unterführungen sind, unabhängig ob an ihrem Ende ein Licht oder ein See, noch dazu ein schwanenbewehrter, erscheint, mit der Unterwelt, dem Tod, verknüpft, und du möchtest lieber oben bleiben, wobei ein Friedhof, trotz Totenversammlung, doch oft einen lebendigen, fröhlichen Eindruck machen kann. An der Ecke Wasgensteig und Potsdamer Chaussee, Bundesstraße 1, öffnest du ein quietschendes Tor und betrittst den luftigen, hellen, von Kiefern und Buchen bevölkerten Totenwald. Er steigt nach Süden hin zunächst an, der Sonne entgegen. Du gelangst an die Rückseite des Gebiets des Italienischen Militärfriedhofs, den du über einen Trampelpfad betrittst. Ein hohes, aus weißem Muschelkalk gefertigtes Kreuz ragt auf. Die Kiefern schaukeln im Wind. Krokusse blühen. Die Inschrift vor dem Kreuz besagt: „L'ITALIA / AI SUOI / CADUTI / - / GUERRA 1940 - 45“ Aus der Ferne hörst du einen Zug - die Stadtbahn wohl, Schwellengesang. Vor dem Namen der Gefallenen steht Soldato oder Lav. Civ., Zivilmitarbeiter, Zivilisten können also Gefallene sein, obwohl sie nicht kämpften. Während du über die Mittelachse des Militärfriedhofs zu seinem Eingang gehst, von der Sonne bestrahlt, fühlst du dich glücklich, es ist dies die Folge von Vogelgesang, Sonnenstrahlen, Wärme. Ein durcheinander stiebender Schwarm Gänse taucht auf, mit größter Geschwindigkeit flattern sie, was ist nur in die gefahren? Von Westen heran jagen niedrige Wolkenfetzen. Unweit von Willy Brandt schimmert eine violette Krokuswiese. „The love was there when it began“, liest du auf der Rückseite von Hildegard Knefs Grabstein, eine unvermutete Entdeckung, du hattest nicht vor, den Stein auch von hinten anzuschauen, sondern wolltest nur wissen, ob auch hier die Rückseite des Grabsteins einer Art Besenkammer gleicht. Dies ist tatsächlich der Fall: Dunkelgrüne Plastiksteckblumenvasen, eine hellgrüne, an zwei Stellen gebrochene Plastikgießkanne, wie sie in jedem Garten zu finden ist, und zwei umgedrehte Steinblumentöpfe befinden sich da. Da taucht ein Schwarm Kraniche auf mit ihren hohen, durch Mark und Bein gehenden Schreien. Ein Friedhofsmitarbeiter fährt mit seinem Schaufeltraktor rückwärts den Hang hinab, in der Schaufel liegen abgesägte Baumstämme. Rhododendren knospen an den Gräbern von Brandt und Reuter, die ehemaligen Stadtoberhäupter liegen Kopf an Kopf. Der Friedhofsmitarbeiter kommt zurück, mit leerer Schaufel, und nickt dir zu. Ein Mann hält ihn auf und fragt, wo Willy Brandt liege, und er zeigt in deine Richtung: „Hinter dem Herrn.“ Du kommst am Grab einer gewissen Sigrid Kressmann-Zschach-Losito vorüber; die ist wohl wenigstens zwei Ehen eingegangen. Bei den Gräbern unweit des südlicheren Wasgensteig-Eingangs blühen ganze Blickfelder vor Krokussen, Zehntausenden, auch gelbe und weiße neben den überwiegenden violetten, mit wie Schnäbel weit aufgesperrten Blütenkelchen, und da siehst du schon ein Bienchen sich einer Blüte nähern. Schneeglöckchen gibt es nicht viele. Es ist dies Teil der „Langgraswiese“, wie auf einem Schild zu lesen ist, zur Förderung der Biodiversität. Zufällig trittst du ans Grab von Jakob Kaiser, geboren 1888, gestorben 1961, dessen Stein eine Skulptur mit Jesus und den ängstlichen Jüngern im Boot auf dem sturmgepeitschten See Genezareth zeigt: „Was seid ihr verzagt ihr Kleingläubigen“, wird Jesus aus Matthäus 8,26 zitiert. Recht frech, diese Aussage. Denn daß der Sturm sich auf Geheiß von Jesus legt, glaubt doch kein Mensch. Es sei denn, er zielte mit seiner Aussage auf eine Wandlung der inneren Einstellung: Mag der Sturm noch so sehr das Boot an den Rand des Kenterns bringen, wenn ihr ihm keine Macht über eure Angst einräumt, wenn ihr, statt kleingläubig, großgläubig seid, dann werdet ihr frei und ganz ruhig: Windstille tritt ein. Jesus wäre dann weniger der Messias als ein Vertreter des Stoizismus. Du gehst über Moos und sinkst federnd tief ein. Noch an etlichen Ehrengräbern kommst du zufällig vorbei beziehungsweise nolens volens, denn es sind ihrer so viele, daß man zwangsläufig an welchen vorüberlatscht. Es ist immerhin überraschend, wenn man sieht, wo einige der Personen liegen, nach denen Plätze, Straßen, Alleen, Häuser und Siedlungen benannt sind, bei welchen Plätzen, Straßen, Alleen, Häuser und Siedlungen der Name so sehr mit ihnen verwachsen ist, daß man gar nicht mehr daran denkt, daß damit auch ein Mensch aus Fleisch und Knochen, beziehungsweise jetzt nur noch Knochen, verbunden ist, wie eben bei Jakob Kaiser und dem in Berlin sagenhaften Jakob-Kaiser-Platz, einst beliebt bei Beobachtern der im nahen Tegel landenden und bereits mit ausgefahrenem Fahrwerk niedrig fliegenden Flugzeuge, und einst fast verhaßt bei denen, die auf dem Weg nach Tegel hier, an dem häßlichen Platz, von der U-Bahn in den Bus umsteigen mußten. Du verläßt den Totenwald an der B 1 und gehst Richtung Wannsee, passierst dabei ein an der Straße liegendes Neubaugebiet, das sich nicht unzynisch rêverie, Träumerei, nennt, als würde irgendjemand bei Verstand davon träumen, hier an der täglich von zig Tausenden von Autos und LKW befahrenen Chaussee, zudem nur wenige Schritte von der Autobahn entfernt, seine Zelte aufzuschlagen. Freilich kann rêverie auch Hirngespinst oder Fantasterei bedeuten, so gesehen ergibt es eher Sinn. Die schöne Villa Waldhaus der Seelengenesungsklinik schaut herüber. Auch grüßt das ehemalige, von Hermann Muthesius gebaute Haus Freudenberg. Du gehst, weil es nicht anders geht, den Tunnel hinab, der unter der B 1-Autobahn-Abzweigung hindurchführt, ein Schild warnt Radler vor einer „Längskante“ zwischen Fahrrad- und Fußgängerbereich. Und es prescht im Tunnel ein elektrischer Überlandradler hart an dir vorüber. Nach dem Tunnel, wieder oben auf Höhe der B 1, bemerkst du die unscheinbare „Gedenkstätte 17. Juni 1953“, ein Holzkreuz auf einer schmalen Insel zwischen den Fahrspuren. In einem günstigen Moment gehst du hinüber und betrachtest das von „aktiven Kämpfern des Volksaufstands 1953“ errichtete Denkmal. Auf der Gedenkschleife steht unter anderem: „Euer Mut - Unser Auftrag“. Am anderen Ende der Insel steht ein Stein, gewidmet „Den russischen Offizieren und Soldaten, die sterben mußten, weil sie sich weigerten, auf Freiheitskämpfer des 17. Juni 1953 zu schießen“. Davon hast du noch nie gehört. Stimmt das denn? Laut einem Artikel des „Tagesspiegels“, der sich auf zwei Historiker beruft, handelt es sich hierbei um eine Legende. Warum aber steht der Stein dann noch da? Du läßt dies auf sich beruhen, nicht ohne zu wünschen, die heutigen rußländischen Soldaten würfen ihre Flinten ins ukrainische Korn. Während du weitergehst, kommt der ehemalige erdbeerrote, geradezu ikonische „Kontrollpunkt Dreilinden“ in den Blick, von den U.S.-Amerikanern „Checkpoint Bravo“ genannt. Du empfindest unmittelbar Freude bei seinem Anblick. Aber warum? Wahrscheinlich, weil sein einstiger Zweck Geschichte ist. Du biegst endlich in die Nibelungenstraße ein, eingepackte Boote parken neben den Gleisen des Bahnhofs Wannsee. Das „Haus Nibelungen“ ist ein Mehrparteienhaus. Ob wohl Nibelungen darin wohnen? In der Tristanstraße 8-10 wohnte Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, am 10. August 1944 in Plötzensee als „Mitverschwörer“ ermordet; sein Bruder Claus wohnte seit Herbst 1943 bei ihm, bis zum Morgen des 20. Juli 1944, als er die Wohnung das letzte Mal verließ, in der Hoffnung, die Tötung des Tyrannen und die „Operation Walküre“, der Staatsstreich, gelinge. Im Versuch, das Land aus den Fängen der dem nebel- verhangenen Sumpf entstiegenen Lemuren zu befreien, endeten sie als Leichen, als verstreute Aschen auf Rieselfeldern. Die Menschheit freilich, so emphatisch darfst du es sagen, denkt an sie und an alle, die im Widerstand ihr Leben für eine humane Politik aufs Spiel setzten, mit Respekt und Dank. Nach 16 Uhr gehen Schüler nachhause mit ihren schweren Schulrucksäcken. Die Sonne verschwimmt im nebeligen Gewölk. 21.2.2024
CHARLOTTENBURG-NORD Noch auf der Promenade widerstrebt es dir, überhaupt dorthin zu gehen. Du bist dem Bus 123 entstiegen, Haltestelle „Gedenkstätte Plötzensee“, und bleibst erst einmal am Saatwinkler Damm stehen. Die vor Verkehr tosende Straße führt am Hohenzollernkanal entlang. Auf dem fährt jetzt kein Schiff. In der Nähe, auf der anderen Kanalseite, erschoß sich der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf. Auf der anderen Straßenseite öffnen sich Kleingärten, und es ragt das Bürogebäude auf, in dem die Fluglinie Air Berlin ihren Sitz hatte, ehe sie aus dem Himmel verschwand. Im Leben ist alles in dieser Bewegung: erscheinen, dasein und wieder verschwinden. So, wie ein Flugzeug am Himmel scheinbar aus dem Nichts erscheint, so erscheint auch der Mensch scheinbar aus dem Nichts. Das Flugzeug verschwindet wieder scheinbar in dem Nichts. Ob aber der Mensch auch scheinbar in dem Nichts verschwindet? Bis Ende 2020 fuhren die Flughafenbusse hier entlang und karrten Abertausende von Reisenden zum Tegeler Flughafen, benannt nach Otto Lilienthal, und von diesem in die Stadt. Sie kamen dabei, wohl oft, ohne es zu wissen, einen Steinwurf nur entfernt, an der Gedenkstätte Plötzensee vorbei. Du querst die Straße zwischen Autos und Lastkraftwagen. Über den Emmy-Zehden-Weg und den Hüttigpfad erreichst du den Eingang zur Gedenkstätte. Der wirkt auf dich martialisch. Keine Seele weit und breit. Keine Schulklasse, kein Tourist, nichts. Die ganze Zeit schon siehst du ein Halo am schleierwolkigen Himmel, ein Stück Regenbogen, sowie ein grelles, regenbogenfarbiges Trapez. Es weht ein kühler Wind. Du gehst auf die zwanzig Meter lange und sechs Meter hohe Gedenkmauer aus Tuffsteinquadern zu, auf der die Worte stehen: „Den Opfern / der Hitlerdiktatur / der Jahre 1933 - 1945“. Mußte man den Namen des Unholds hier verewigen? Es herrscht vom Eingang an eine belastende Stimmung. Das liegt auch an den Stacheldrahthaufen, die sich auf den ringsum verlaufenden, hohen Mauern der Justizvollzugsanstalt Plötzensee befinden. Es ist, als wärst du selber in einen Gefängnishof geraten; historisch gesehen, ist es auch so. Du hörst immer wieder Schreie von Insassen; du kannst nicht ausmachen, ob es einfach irgendwelche Laute sind, die sie äußern, oder ob sie einander, von Gefängnisblock zu Gefängnisblock, durch die Fenster etwas zurufen. Diese Schreie ertönen regelmäßig. Am Saum des Gedenkhofes steht eine mehr als hüfthohe Muschelkalkurne, die „Den Opfern der Konzentrationslager in ehrendem Andenken gewidmet" ist, eine Bodenplatte erläutert weiter: „Die Urne enthält Erde aus deutschen Konzentrationslagern.“ Das heißt wohl, mit den Erden wollte man symbolische Erdstückchen weiterer Staatsverbrechensorte, die jeweils für die ganzen Orte stehen sollen, in diese Gedenkstätte einfügen und damit nicht allein der hier Ermordeten gedenken, sondern auch jener in den Lagern. Aus welchen Lagern die Erde wohl stammt? Wer fuhr dort hin, und wie lief das Einsammeln der Erde ab? Aus einem im Eck der Ummauerung befindlichen gläsernen Informationskubus tritt ein Mann und macht sich auf den Weg zu der am Eingang der Gedenkstätte befindlichen Toilette, er grüßt dich, und du erwiderst seinen Gruß. Unmittelbar hinter der Gedenkmauer befindet sich der ehemalige „Hinrichtungsraum“, früher Teil eines Schuppens. Du siehst, was du auf Photographien schon gesehen hast, die - heute fünf - Haken, an denen die Opfer der damaligen Unjustiz erhängt wurden. Am Boden des „Hinrichtungsraums“ liegen neunzehn Rosensträuße, vielleicht von Schülern, auf der Schlaufe des dahinter liegenden Blumengestecks steht „Theodor-Haubach-Schule in Berlin-Lichtenrade“, „In ehrendem Gedenken“. Ein anderes Gesteck wurde im Andenken an Nikolaus Groß abgelegt. „Bleibender Zeuge / KAB BERLIN“. Die Katholische Arbeiternehmerbewegung hat es gestern für den „am 23.1.1945 hier ermordeten“ „Zeugen“ niedergelegt. An der hinteren Wand lehnt ein Kranz der Stadt Berlin. Mutmaßlich Angehörige haben an der Wand und am Fenster vier Photos ihrer Vorfahren angebracht. Links an der Wand sind noch gelbliche Kacheln zu sehen. Du hörst einen Schwarm Gänse fliegen. Neben dem ehemaligen Hinrichtungsraum ist in einem gleich großen Raum eine Ausstellung eingerichtet. Auf einem Bauplan sieht man den Abfluß im Boden neben dem „Richtgerät“ für die zu Enthauptenden eingezeichnet. In einem ausgestellten Schreiben geht es um die „Übersendung der Aschen der am 8. September 1944 in Plötzensee Erhängten an das Reichsjustizministerium“, das betrifft einen Karton, der ungetrennt Aschereste der nach der Erhängung Verbrannten der sogenannten zivilen Köpfe des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944 enthielt, Carl Friedrich Goerdeler, Wilhelm Leuschner, Josef Wirmer, Ulrich von Hassell und Paul Lejeune-Jung. Der hintere Teil des Ausstellungsraums war damals laut Plan der „Sargabstell- und Aufenthaltsraum für Beamte während der Hinrichtung“. Die schwere Metalltür zwischen den beiden Bereichen ist noch da. Du gehst hinaus und betrachtest die hölzernen Flügeltüren mit den darüber angebrachten, barock geschwungenen Ziffern 1 und 2 - fast geht von ihnen so etwas wie Schönheit aus. In die Ausstellung willst du nicht mehr hinein. Damit er nicht so alleine sei, schaust du noch bei dem mittlerweile zurückgekehrten Gedenkstättenhüter vorbei, der taglang in seinem Glaskubus sitzt. Er überreicht dir unterschiedliche Prospekte und Informationsblätter. Er hat es sehr warm hier drin, du bist ganz verfroren. Freundlich wünscht ihr einander noch einen schönen Tag, und du verläßt die „Hinrichtungsstätte“. Außen gehst du an der hohen Gefängnismauer entlang und folgst einem „Pfad der Erinnerung“, wie er auf einem der ausgehändigten Prospekte beschrieben wird. Du bist froh, als dich der Weg weg vom Gefängnis führt, durch die Kleingartenanlage, wenn auch die gespenstisch leer und verwaist ist. Ein Grasweg nach dem anderen ohne eine Menschenseele. Mit der Sonne sinkt auch das Regenbogentrapez. An den Rändern des Heckerdamms liegt immer wieder wilder Müll, Laubsäcke, Fernseher, Kühlschränke, Autoreifen, gerade auch am Fuße etlicher Schilder, die das Ablagern von Müll bei Strafe verbieten. Die Müllhalden sind ein höhnisches Ignorieren des Verbots, Zeichen einer gewissen Form von Anarchie, von scheiterndem Staat. Wer auch immer hier sein Zeug ablegt, dem mag der Staat in die Tasche steigen. Wo heute beidseits des Heckerdamms die Gärten sich ins Unübersehbare ergießen, erinnert an der Ecke zu Thaters Privatweg ein Schild an ein Zwangsarbeiterlager, das hier in der „NS“-Unzeit errichtet war. Du erreichst nach Stunden, obwohl das nicht sein kann, in denen du dieses Ufer des Unverstandes durchwatest, wieder die Zivilisation, die Paul-Hertz-Siedlung. Fast alle Straßen, Plätze, Brücken und Schulen sind nach Gegnern des „Nationalsozialismus“ und Widerstandskämpfern jener zwölf Unjahre benannt. Du begrüßt den abzweigenden Reichweindamm. Die Benennung wird am Straßenschild so erläutert: „Prof. Dr. phil. Adolf Reichwein, Reformpädagoge, Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime 1898 - 1944“, erhängt eben in dem Plötzenseer „Hinrichtungsraum“. Du gehst weiter zur evangelischen Gedenkkirche, erbaut von 1968 - 1970. Die Außenwand scheint über die Jahre eingedunkelt, wenig einladend. Im quadratischen Kirchenraum steht der Altar in der Mitte. Auch befindet sich der für die Kirche geschaffene „Plötzenseer Totentanz“ des Bildhauers Alfred Hrdlicka hier, wie du liest. Die Kirchenpforten sind zu. Gegenüber befindet sich eine Art Ladenzentrum mit Supermarkt, Poststelle und der Raucherkneipe „Brinks Treff“, offenbar Anlaufstelle für die Nachbarn, die ihre Zigarette lieber am Tresen in Gesellschaft rauchen als alleine daheim. Vier etwa zwölfjährige Kinder hängen an den Fahrradständern ab, es ist dies hier wohl die Mitte ihres Lebens an einem öden Nachmittag. Weitergehend siehst du schon den Glockenturm der katholischen Gedenkkirche Maria Regina Martyrum „für die Blutzeugen der Jahre 1933 bis 1945“. Die Kirche, geweiht 1963, schlägt dich in ihren Bann. Die tief stehende Sonne bringt die vergoldete Bronzeskulptur der „apokalyptischen Frau“ an der Außenwand der Kirche oberhalb des Portals zum Strahlen. Du betrittst den vor der Kirche liegenden großen Feierhof von links aus, am Zugang neben dem beleuchteten Klosterladen, in dem eine Schwester des Klosters der Unbeschuhten Karmelitinnen auf Besucher wartet, es ist ein mit schwarzgrauen Basaltkieselplatten ummauerter Platz, der zum Portal hin sanft terrassenförmig abfällt. Der Platz nimmt dich sofort auf, als hätte er auf dich gewartet. An der östlichen Wand befindet sich ein Kreuzweg von Otto Herbert Hajek, dessen Figuren so dicht ineinander und zum Teil abstrakt gebildet sind, daß es schwerfällt, sie zu entziffern. Im hinteren Teil des Feierhofs, jenseits des Freialtars, stößt du auf Hajeks Skulptur der Heiligen Familie auf der Flucht nach Ägypten, die Juwelen von Jesus' Juwelenkrone sind herausgebrochen. Auch innen berührt die Kirche dich. Im Halbdunkeln der Unterkirche begibst du dich auf den Weg zur Gedenkkrypta, entzündest eine Kerze. Am Sockel der Pieta steht eine Widmung: „Allen Blutzeugen, denen das Grab verweigert wurde - allen Blutzeugen, deren Gräber unbekannt sind“, deren Aschen auf den Rieselfeldern Berlins verstreut wurden, wie es in einem Faltblatt heißt. Neben der Krypta befindet sich die „Unterkirche“, eine Kapelle für die Werktagsgottesdienste der Gemeinde und für das Chorgebet der Schwestern. Dann gehst du die durchgehende Treppe zur Oberkirche hinauf und wirst von der Taufkapelle mit ihrem sanften Goldlicht empfangen. Du drehst dich nach rechts und wirst von dem sehr hohen Raum mit Holzdecke und seitlichen Wänden in Sichtbeton überrascht. Gleichzeitig überrascht dich noch mehr der vor Tausenden von Glühlichtern leuchtende Christbaum, der groß und schön im Chorraum steht und jetzt in dem bereits leicht dämmerigen Kirchenlicht Freude ausstrahlt. Der Altarraum wird von einem wandgroßen Gemälde nach Osten hin abgegrenzt. Außenlicht kommt nur indirekt seitlich des Gemäldes über nicht sichtbare Fenster herein. Du setzt dich in die erste Reihe vor den leuchtenden Weihnachtsbaum. Du läßt den Glanz der Lichter in dich rieseln. Auch hier ist kein Mensch da, doch hier macht es dir nichts aus. Es ist, als hätte der Raum einen beruhigenden Zauber. Du wanderst weiter durch den Raum. Am hinteren Ende befindet sich ein gut gefüllter Fürbittenkorb, in den Gläubige ihre auf einen Zettel notierte Fürbitten gelegt haben. Die Zettel, so steht da, werden in der Osternacht verbrannt. Unter der Orgelempore liegt die Beichtkapelle; in ihr befindet sich derzeit das Grab des „seligen“ Bernhard Lichtenberg, hier findet er vorübergehend seine ewige Ruhe, solange in Mitte die St. Hedwigskathedrale saniert wird, in deren Unterkirche er bislang ruhte. Auch die Siedlung westlich des Kurt-Schumacher- Damms, den die Weltlinger Brücke überquert, ist nach „NS“-Gegnern benannt, die Grundschule etwa nach Erwin von Witzleben. Hier steht im Halemweg auch die evangelische Sühne-Christi-Kirche, die mit ihrer „Gedenkmauer“ zum „Pfad der Erinnerung“ und des Gedenkens zählt. Der Vorraum der Kirche ist geöffnet, Kerzen brennen, an der Mauer hängt eine Gedenktafel für zwei in Auschwitz ermordete, jüdische Geschwisterpaare, Marion und Ellen, Heinz und Anita, Photographien zeigen sie in der blutjungen Blüte ihres Erscheinens. 29.1.2024
DAHLEM An einem kalten, sonnigen Sonntag, am Rande der Äcker und Felder der Domäne Dahlem, nahe einer Pferdekoppel und einem Schweinepferch, zwischen einem Kirschbaum und einem Apfelbaum, hat eine Bank dich eingeladen, auf ihr Platz zu nehmen. Der Himmel ist makellos blau. Leichter Wind von Nordost streicht dir durch die Haare. Ohne Sonne würdest du jetzt frieren. Die Domäne ist Ziel des promenierenden Volks. Familien halten gern bei den Hühnern und Schweinen sich auf, ein Automat gibt den Kindern gegen Geld Futter, das sie durch den Zaun zu den Hühnern werfen. Weiter vorn bei den Stallungen reitet ein Mädchen auf einem Pferd im Kreis. Ein Hubschrauber läßt sich irgendwo nieder und verschwindet dann bald wieder. Das Licht scheint dir dieser Tage mit einem Mal heller geworden zu sein, als hätte es, fünf Wochen nach der Sonnwende, seine finstere Anmutung verloren, als befände es sich, andauernder Kälte ungeachtet, schon in einer sich voraus Richtung Frühling richtenden Wandlung. Die Tage sind unmerklich länger geworden. Wieder taucht ein Hubschrauber auf, gleich einer Libelle aus der Tiefe des Raumes. Er kreist lange, als suchte er etwas. Fünf Kraniche fliegen in niedriger Höhe über die Domäne nordwärts. Der Sperberhahn kräht, 14.23 Uhr. Die in deinem Rücken in einer Senke immer wieder leise vorbeifahrende U 3 ändert nichts daran, daß du hier wie auf dem Lande bist, oder tatsächlich auf dem Lande. Pferde liegen auf der Koppel und sonnen sich. Ein Falke landet auf dem Apfelbaum und betrachtet dich. Zwei jugendliche Läufer laufen durchs spazierende Volk. Zwischen Grashalmen sind Spinnfäden gespannt. Eine einzelne schleierdünne „Grätenwolke“ fliegt südwärts. Kinder rennen, wie ziellos, nein, nicht „wie“, sondern tatsächlich ziellos, aus Freude. Das gleichmäßige Stimmenparlando, das vom Weg herüberweht, und die Sonne üben auf dich eine einschläfernde Wirkung aus. Und tatsächlich, wie du nachher merkst, bist du, für eine unbestimmte Zeit, unbemerkt in das Jenseits des Lebens hinübergetreten. Aus diesem Jenseits kommst du ein Leben lang regelmäßig zurück, bis zum Schluß. Zwei Jets zeichnen ihre Kondensationsstreifen an den Himmel. Zwei weitere kommen, sie alle kreuzen sich, und eine geometrische Figur, langsam nur verblassend, bleibt zurück. Eine junge Frau legt einem stehenden Pferd ein Seil um und legt sich dann zu ihm auf die Wiese, unterhalb seines Mauls. So dösen beide in der Sonne. Zwei Mädchen mit langen, offenen, blonden Haaren rennen, und da beim Rennen wie ein Pferdchen im Galopp die Haare sich bauschen, leuchtet von hinten die Sonne durch sie. Von Westen kommt eine Passagiermaschine im niedrigen Landeanflug Richtung Schönefeld, sie wird über dem Müggelsee eine Rechtskurve machen und dann von Osten her die Piste ansteuern und sanft aufsetzen. Die in einem Bogen gespannte Gewächshausfolie gleißt am höchsten Punkt. Ein Kind möchte, daß der Hahn kräht, und hilft ihm auf die Sprünge und kikerikiet selber. Eine auf dem Franz-Grothe-Weg radelnde Frau singt vor der sie durchströmenden Begeisterung über die Sonne die ersten dreizehn Verse von Goethes „Osterspaziergang“, im übrigen unvollständig und neun Wochen vor dem Anlaß, freilich kann man die Verse auch ohne Anlaß sprechen und singen, in ihnen geht jederzeit die Sonne auf, die den Menschen wärmen kann. Ein Motorsegler fliegt schnurrend nach Westen. Eine Frau mit wallendem Lockenhaar gesellt sich zu dir, neben dir die Sonne zu empfangen, als wäre sie eine Hostie, die man bei geschlossenen Augen über die Haut empfängt. Als sie später weiterzieht, sagt sie, vor Freude strahlend, „Danke fürs Schweigen“ und wünscht dir noch einen schönen Sonntag. Ein Kind lernt radeln, der Vater rennt hinterher. Gegen 16 Uhr wirds langsam kalt, und um dich aufzuwärmen, wanderst du vor zum Landgasthof und holst eine Tasse Kaffee. Inmitten der Menge sitzt ein älterer Herr im Rollstuhl, auf niemanden wartend, mit verhärmtem Gesicht. Du hast ihn schon einmal gesehen, in einem Bus der Linie X83, es scheint, als wäre er jeden Tag hier, als wäre das hier seine gute Stube. Bevor es dunkel wird, gehst du noch hinüber zum Kirchhof der St. Annen-Kirche, und als du die Kirche langsam umschreitest, im Dämmerlicht die Grabsteine lesend, stößt du überrascht auf das Grab von Rudi Dutschke, diesem charismatisch-verbissenen, fast schon messianischen Propheten des „wahren Sozialismus“, diesem wühlend ernsten, manichäischen Feind des falschen Kapitalismus. Aus dem Kommunismus der Toten ragt er mit dem ihm zugesprochenen Ehrengrab hervor. Das Abendorange leuchtet zwischen den Bäumen, darüber ein zartes Lichtblau. 28.1.2024
SCHMARGENDORF Übernacht sind sie schneeweiß, Reif hat sich über die Bäume gebreitet. Du erblickst in der Natur kristallisierte Ikonen, in denen zeitlose Zeit erscheint. In ihr scheinst du aufgehoben, dem Alltag entflohen. Vor dir aber in der Beletage des Doppeldeckerbusses Nummer 186, Richtung Roseneck unterwegs, in der ersten Reihe links, sitzt ein hochgewachsener, schlanker Mann mit einem Martin-Luther-Barett auf dem Haupt. An der Zoppoter Straße, an der Grenze zu Schmargendorf, steht er plötzlich auf, gleitet die Treppe hinab und steigt aus dem Bus. Vor dir ists jetzt frei, du hast ungehinderte Sicht. Freilich entsteigst du gleich selber dem Kutter, der schaukelnd an der Bucht Breite Straße festmacht, und gehst langsam, vorsichtig, über den glitschigen Grund hinüber zur alten Dorfkirche, dem kleinsten noch erhaltenen Kirchenschifflein im Berliner Sand. Aus Feldsteinen steht sie fest gemauert. Du klopfst an ihre Wand, um so mit ihr Tuchfühlung zu halten. Hinein kommst du nicht, hier ist niemand drin, der dir auftun würde. Auf dem angrenzenden, den Hang hinaufgleitenden Kirchhof liegt in einem Ehrengrab Melli Beese, die erste deutsche Fliegerin. Die hatte Ärger, nicht nur, weil ihre männlichen Kollegen ihr Steine in den Pilotenlizenzweg legten, sondern auch, weil sie einen französischen Piloten ehelichte und so später im Ersten Weltkrieg, als Paßfranzösin, ihrer Passion nicht mehr folgen durfte. In Wittstock an der Dosse stand sie unter Hausarrest und sah wohl allein über dem Haus die Kraniche südwärts zum Rhinower Ländchen fliegen, wo diese landen und sich für weiteren Flug in wärmere Gefilde sammeln, nördlich des Gollenbergs, an dessen Nordhang Otto Lilienthal mit seinem Flugapparat abstürzte, rund zwanzig Jahre vorher, und daran starb, begraben nicht weit von hier, auf dem Totenacker in Lankwitz, und so ziehst du weiter, die Breite Straße hinauf. Halb rechts in die Berkaer Straße weitergehend kommst du zum Rathaus und betrittst die im Souterrain eingerichtete Adolf-Reichwein-Bibliothek. Du bist zunächst der einzige Besucher, und die Bibliothekarin reicht dir den „Tagesspiegel“, die einzige Tageszeitung, die es hier gibt. Adolf Reichwein war ein innovativer Pädagoge, doch die Zeitläufte brachten ihn in Berührung mit dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten, gegen „Adolf Nazi“, wie Kanzler Helmut Schmidt zu sagen pflegte. Im Zuge dessen fiel Reichwein einer Denunziation zum Opfer und wurde 1944 in Plötzensee ermordet. Die Benennung der Bibliothek nach ihm ehrt nicht allein ihn, sie beweist nebenbei, daß der Name Adolf auch heute noch einen guten Klang haben kann. Erst jetzt fällt dir auf, über Reichwein lesend, den „Tagesspiegel“ hast du beiseite gelegt, daß du weißt, wer seine Tochter ist, letzten Sommer hast du dich mit ihr, unbekannterweise, auf der Ostseeinsel Hiddensee über Literatur unterhalten, sie besitzt dort das Hexenhaus, ein sommerliches Domizil, in dem auch ihr Vater von unbeschwerten Tagen sich verführen ließ. Die Auguste-Victoria-Straße hinaufgehend, kommst du an der Botschaft des Staates Israel vorbei. Anders als früher, sind die angrenzenden Straßen jetzt mit sogenannten Hamburger Gittern verzäunt, als sollten sie illustrieren, was das Judentum im wesentlichen ausmache: das eingezäunte Volk zu sein. Die insgesamt sechs Objektschutzpolizisten frieren sich die Beine in den Bauch, während ein Junge mit Tennistasche die Straße quert auf dem Weg zur Traglufthalle des angrenzenden Tennisklubs. Weiter oben, in der Caspar-Theyß-Straße, dem Martin-Luther-Krankenhaus gegenüber, befindet sich ein von außen fast schon heruntergekommenes Mehrparteienhaus, in dem angeblich der abgewählte Altkanzler Helmut Kohl eine Wohnung hatte. Von den sechs Klingelschildern hat eines keinen Namen - seine Wohnung unter dem Dach? Von hier war es nicht weit zu seinen bevorzugten italienischen Lokalen, wie dem von dir bereits bestolperten „Capriccio“ in Grunewald. Nicht mal fünf Minuten im chauffierten Auto. Warum wohnte er sonst hier? Wegen des Krankenhauses? Wegen der womöglich splendiden Aussicht vom dritten OG? Wegen des Elefantenaufzugs? Keine zehn Pferde brächten dich in dieses düstere Gemäuer. Die Dämmerung fällt, und ein Passant nach dem anderen rutscht auf den mittlerweile eisglatten Gehwegen aus, wenigstens ist das Krankenhaus gleich da. Dir gelingt es, gerade noch bis zur Ecke Paulsborner Straße zu schlittern, als ein Bus Richtung Breite Straße Ecke Warnemünder Straße naht. Nichts wie hinein. Du hättest zwar gute Lust, weiter durch Schmargendorf zu trittbrettreisen. Doch ohne festen Tritt auf den Wegen hat es keinen Sinn. Du wartest in der Breiten Straße auf den 186er Bus und hütest mit den Augen eine alte Frau mit Rollator, die langsam wie eine Schnecke den abschüssigen Weg beschreitet, bereit, einzugreifen. Als sie am Schuhladen Tivola außen ausgestellte Schuhe in die Hand nimmt und sie begutachtet, hast du das Gefühl, sie sei in Sicherheit, und du nimmst den jetzt kommenden Bus. Wieder sitzt du oben links in der zweiten Reihe, als gäbe es eine natürliche Tendenz, wo auch immer gleich wie gewohnt Platz zu nehmen und sich soweit möglich wohnlich einzurichten. In der Zoppoter Straße steigt der hochgewachsene Mann mit dem Barett von heute mittag wieder zu und setzt sich, natürlich, in Reihe eins direkt vor dich. Es ist dies ein Zufall, der nichts zu bedeuten hat, auch wenn es unwahrscheinlich war, daß zwei Fremde sich unabgesprochen in einer quasi identischen Situation wiederfinden. Was er wohl in Schmargendorf zu suchen hatte? Es ist dies der Schlußpunkt zu einem Aufenthalt, bei dem du noch nicht zu dir gefunden hast, es ist, als bliebe die Sehnsucht zurück. 11.1.2024
WILMERSDORF Der in backsteinrotem Backstein aufragenden evangelischen Auenkirche in der Dorfaue von Alt-Wilmersdorf strebst du entgegen: Es übt das Portal am Fuß ihrer Wand auf dich eine magnetooptische Beschleunigung aus. Obwohl es Sonntag mittag schlägt, findest du die Tür verschlossen, verriegelt. Du klopfst an, schlafwandlerisch beinahe, spürst die abweisende, widerhallende Oberfläche an den Knöcheln. Türen laden ein, an sie zu klopfen, solange es keine Klingeln gibt. Sie sind der Teil einer Mauer, der sich gewaltlos öffnen, schließen und abschließen läßt. Der Türhüter hat Einfluß und zeigt es von oben lachend auch, egal, ob vor dem Klub oder „Vor dem Gesetz“ bei Franz Kafka. Wenn du wo eintreten möchtest, stellt sich die Frage, ob die Tür unbewacht und zugänglich ist, ob es Regeln gibt, die den Zugang ordnen, und ob einer sie hütet und den scheinbar nicht Befugten von der Schwelle heischt. Es regt sich nichts. Nur Stille. Zwei Frauen kommen des Wegs, von der Straße her, sie studieren den Aushang, wie es ihnen angelegen sein mag. Du gehst weiter. Doch plötzlich ruft eine von ihnen dir nach. Soeben wird von innen die Tür aufgeschlossen, und ein Mann erscheint, ein bibelfester: „Klopfet an, so wird euch aufgetan.“ Der Küster, als ein solcher erscheint er dir, läßt euch eintreten. Schlichte Fenster mit Farbeinlagen oberhalb des Chorraums filtern das von Süden, vom Volkspark Wilmersdorf her, herein und hernieder strömende, dich blendende Sonnenlicht. Als du dich vorn am Altar umkehrst, dem Gleißen zu entgehen, wirst du der Schönheit gewahr, die den Kirchenraum jetzt erfüllt. Du siehst, wie der Raum in den Farben der Fenster grün, blau und rot erstrahlt. Im Mittelgang stehen der Küster und die beiden Frauen und tauschen sich über die ästhetischen Qualitäten gebrochenen Lichtes aus. Wir könnten um 17 Uhr das totensonntägliche Konzert mit der neu gerichteten Orgel, der zweitgrößten der Stadt, nach der im Dom am Lustgarten, besuchen, sagt der fröhliche Mann. Ihr vier verlaßt gemeinsam die Kirche wieder, und er schließt zu und schwingt sich auf seinen Drahtesel. „Bis nachher!“, ruft er noch. Du ziehst weiter und kommst in der Wilhelmsaue 112 an die Kirche der, wie das Schriftband oberhalb der Arkaden besagt, „Erste Kirche Christi, Wissenschafter“. Sie ist ebenfalls verschlossen, aber auch hier wird dir aufgetan. Ein „Wissenschafter“, der in dem Gebäude, wie er dir erzählt, praktisch aufgewachsen sei, führt dich umher. Du bewunderst das Mobiliar von 1957, als wäre die Zeit stehen geblieben. Der Bartningsche Vorgängerbau von 1937, der einzige, den er für eine nicht-evangelische Gemeinde errichtet habe, sei, nachdem das Gebäude im Krieg durch einen Brandbombentreffer in Mitleidenschaft gezogen war, weitgehend originalgetreu 1957 wiedereröffnet worden. Ihr steht am oberen Ende des riesigen, nach unten sanft hinab sich schwingenden Saales, der oben nur von einem Holzdach abgeschlossen wird. Vom Volkspark her gleißt auch hier das Licht durch die Fenster. Vor dem Krieg gab es über tausend Sitzplätze, und die hätte man auch gebraucht, sagt dein Führer, jetzt seien es nur mehr sechshundert, und die benötige man nicht wirklich mehr, es fehlen auch hier Nachwuchs-„Wissenschafter“. 1941 hätten die Nazis sie verboten, und die SS mißbrauchte den Saal als Lager, später angeblich als Kino. Der noch im Haus wohnende Hausmeister hätte nach dem Bombentreffer löschen wollen, doch hätten sie ihn daran gehindert, und so fraß das Feuer alles, was es in seinen Schlund schlingen konnte. Hausfremde kämen hierher nur am Tag des Offenen Denkmals, da sei die Hemmschwelle niedriger, aber du könntest jederzeit wiederkommen, sogar an einem Gottesdienst teilnehmen: „Wir beißen nicht.“ Du dankst ihm für seine Zeit und bist froh, ohne Bißspuren weiter deines Weges zu ziehen. An der Blissestraße blickst du nach rechts und bewunderst eine Straßenbiegung nach links, durch die ein einladender Raum entsteht. Du solltest selber auch in Kurven gehen. Du schreitest durch die Stadt und es ist, als schreibst du auf dem Blatt. Aus dem Schreiten wird ein Schreiben. Die Stadt ist das Blatt, auf dem schreiten und schreiben in eins gehen. Die fremde Stadt ist ein unbeschriebenes Blatt. Schreitest du in ihr, ist sie nach und nach kein unbeschriebenes mehr. Schreite und schreibe. Und so überquerst du die Straße, im Augenwinkel siehst du links die Eva-Lichtspiele, wie sie im Lichtspiel der Sonne dich „anspielen“; geradeaus kommst du vorbei an der dich ansprechenden „Buchbinderei LWerk“, von der du einmal ein zu bindendes Buch dir aufbinden lassen möchtest. Rechts abbiegend, schreitest du in der Mannheimer Straße vor dem Haus Nummer 27 über eine in den Boden eingelassene Erinnerung daran, es sei dies hier der „letzte Zufluchtsort der deutschen Revolutionäre Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht“ gewesen, „vor ihrer Ermordung durch marodierende Reichswehrtruppen am 15.1.1919“. Nahebei an der Berliner Straße Ecke Barstraße hat Blumen Riegel Adventsgestecke ausgelegt. Beim Betreten des Friedhofs, gegenüber der Wilmersdorfer Moschee, grüßt dich ein justament niesender, seine laufende Nase mit einem Tüchlein abtupfender Mann in Uniform mit dem Wort „Mahlzeit“, um noch darauf hinzuweisen, er sei vom Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge; offensichtlich bietet er nicht allein Broschüren feil, sondern hält auch zwei Spendendosen vor; wie er bei Frostgraden die Stellung zu halten, müßte allein schon belohnt werden, und du nimmst eine Münze, wie der Priester die „Oblate“, und schiebst sie in den Dosenschlitz. Der Friedhof ist heute, am Totensonntag, gut besucht. Vor dem Ehrengrab der Familie Blisse machen Radler in Radlermontur Selbstportraits. Der Friedhof fällt ab, der Sonne entgegen. Du passierst das Grab einer gewissen Hannelore Mohamed (1942 bis 2013), schräg gegenüber liegt das Grab einer gewissen Beatrice Pfeil, geborene Mohammed; beide in Sichtweite der Moschee mit ihren Minaretten. Das Wasser im Gieskannenbrunnen ist gefroren. Im Volkspark glüht oberhalb des Sees eine Rotbuche mit ihren kupfernen Blättern im Gegenlicht. An der Hauptkapelle liest du die Worte: „Vigilitate quia nescitis diem neque horam“. Darum wachet; denn ihr wisset weder Tag noch Stunde. Du gehst weiter und kommst zur Russischen Orthodoxen Kirche „Christi-Auferstehungs-Kathedrale“ am Hoffmann-von-Fallersleben-Platz. Ein Mercedes-Van mit ukrainischem Kennzeichen steht vor dem Eingang. Ein junger Mann mit unter dem Anorak hervorspielendem, bis zu den Knöcheln reichendem Schal geht die Treppe hinauf und betritt das Gotteshaus durch die unscheinbare Seitentür, du folgst ihm. Kaum bist du drin, umfängt dich eine warme, dich beseelende, begütigende Atmosphäre, eine der Stille, der Ruhe, des Friedens. Im Hauptschiff findet gerade eine Taufe statt, der spindeldürre Erzpriester liest in monotonem Kirchenslawisch aus dem Heiligen Buch, er tuts halblaut, so daß ihn fast nur die in seiner Nähe stehende, festlich gewandete Familie hören kann. Du wirst angezogen von dem Anblick, doch faucht eine Frau von rechts dich an und gibt dir zu verstehen, du sollest deine Mütze abnehmen, sie ordnet an ihrem Kerzen- und Broschürenkiosk ihre Auslegewaren und zählt, wie es aussieht, ihr Geld. Sie beachtet dich nicht weiter, auch als du selber eine Kerze kaufst und die Münze vor ihr ablegst. Vor den Ikonen im südlichen Seitenschiff betet ein mittelalter Mann, auch der junge von vorhin betet mit dem Gesicht dicht an den „Bildern“, als würde er sie betend gleichzeitig küssen, oder sie so berühren, wie Pferde mit ihren weichen Lippen das Gras streicheln, ehe sie es förmlich abgrasen, und so wechselt er nach jedem Gebet von Ikone zu Ikone, als wäre das ganze eine sakrale Wanderung, die er im goldenen Schein der Ikonen unternimmt. Du steckst an einem der Kerzenständer deine Kerze an und steckst sie fest. Ohne zu beten oder dir dabei etwas zu denken, erfreust du dich allein am Kerze-Anstecken-und- sie-Dazustecken. Dein Blick wandert wieder Richtung Hauptschiff. Die Frauen haben dünne, durchsichtige Schleier halb über ihr Haupt gelegt, es scheint dies eine Geste des Respekts zu sein, die Geste allein genüge, das Haupt, das Haar, muß nicht wirklich verhüllt und zum Verschwinden gebracht sein. Es sind junge, in sich ruhende, einen beseelten Geist ausstrahlende Frauen. Die eine, mit dem Säugling auf dem Arm, tanzt unmerklich auf der Stelle, das Kind beruhigend, während der Priester weiter aus dem von ihm wie ein Schmetterling mit halb geöffneten Flügeln gehaltenen Buch rezitiert. Einmal geht er zur Ikonostase, der Ikonenwand, und öffnet die südliche Tür, es ist, als müßte er im jenseitigen Teil etwas suchen. Währenddem liest er weiter aus dem Buch, schließlich kommt er zurück und schließt wieder die Tür hinter sich. An der rückwärtigen Wand des Hauptschiffs sind ein paar wenige Gartenstühle aufgestellt, auf die sich die setzen dürfen, deren Alter es ihnen nicht leicht macht, gegen die Schwerkraft zu kämpfen. Du gehst wieder hinaus, und als hinter dir ein Ehepaar die Kirche verläßt, fragst du, ob hier Russen und Ukrainer gemeinsam feierten, er blickt dich mißtrauisch an und gibt nur barsch zu verstehen, dem sei so. Danach kommt der junge Mann von vorhin, und dieser erzählt, er komme aus Rußland, sei aber in einer ukrainischen Familie aufgewachsen, und er grüßt dich freundlich, seines Weges ziehend. Das tust du auch und kommst in der Brienner Straße am Eingangsgartentörchen der Moschee vorbei. Es ist abgeschlossen, du siehst aber vor dem Eingang vier Paar Badelatschen und ein Paar Turnschuhe stehen, nebst einem blauen Klappstuhl. Erbaut wurde das Gebetshaus von 1924 bis 1928. „Ahmadija Andjuman Ischaat el-Islam Lahore, Pakistan“, liest du auf einem Schild; die wollen also ihre Sicht des Islams verbreiten; es scheint dies allgemein ein Kennzeichen von Gruppen oder Einrichtungen zu sein: ihre Sicht der Dinge andern nahebringen zu wollen. Gegenüber, in Haus Nummer 11, befindet sich das Institut für Rechenschwäche-Therapie, das dir nicht nur zu denken, sondern im stillen auch zu lachen gibt. Hat nicht jeder Mensch die eine oder andere Form von Rechenschwäche? Wie oft rechnen Menschen sich dies und jenes aus und verrechnen sich doch immer wieder; manche bedürfen anschließend der Therapie. Auch Religionen, könnte einer sagen, sind Institute für Rechenschwäche-Therapie, und solltest du einmal einer Religion dich anschließen, dann doch der „Religion für Rechenschwäche-Therapie“. Nebenan, die Straße weiter hinunter, kommst du zur „Christianskirken / Den danske Menighed i Berlin / Dänische Gemeinde in Berlin“. Im freistehenden hölzernen Glockenstuhl hängt eine Glocke. Glocken sind die akustischen Locken der Kirche; ihre Klänge wehen frei im Wind. In der Brienner Straße Nummer 16 findet wilder Wein sich am Gebäude der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen fassadenhoch, noch halb brennend, halb erloschen. Vor dem Bürgeramt gegenüber weht die ukrainische Flagge im Wind. Der nahe Preußenpark am Fehrbelliner Platz glänzt spätherbstlich leer. Kein Thaimarkt in den kalten Monaten. Zwölf Nebelkrähen hüpfen über die Wiese. Du ziehst weiter über den Hohenzollerndamm in die Günzelstraße und biegst launisch in die Trautenaustraße ein. Am Haus Nummer 12 blickt eine Berliner Gedenktafel für den einstigen Bewohner George Grosz dich an. An Nummer 9 haben mutmaßlich Hausbewohner ein privates Schild angebracht: „In diesem Haus wohnte 1922 die russische Dichterin Marina Zwetajewa (1892 - 1941)“. Welchen Sinn haben all diese Tafeln? Erinnerung, Gedächtnis. Der zeitgenössische Raum wird um eine historische Dimension erweitert. Zu den Himmelsrichtungen des Raumes gehört auch die Zeit. Am nahen Nikolsburger Platz tragen die Platanen und die Eichen noch ihr kupferorangenes Blätterkleid. Die burgtrutzige Cecilien-Grundschule liegt still. In der evangelischen Kirche am Hohenzollernplatz feiert seit 14 Uhr die Chinesische Christliche Gemeinde Berlin e.V. ihren Gottesdienst; jetzt ist es 15.20 Uhr. Betend, halten die Gläubigen die Köpfe synchron nach unten geneigt. Zurück Richtung Nikolsburger Platz, liest du am Zaun des Spielplatzes „Zirkus Aladin“ ein Schild: Auf dem Gelände des Spielplatzes haben Schüler, Lehrer und Eltern der Cecilien-Schule elf sogenannte Stolpersteine „versteckt“, die Kinder werden wie bei einem Spiel dazu aufgefordert: „Findet die Steine!“ Ist dies, fragst du im Weitergehen, nicht eine fragwürdige, das Andenken der Opfer gewissermaßen zum Spielstein machende Form einer deplazierten Einführung in Auschwitz-Kunde? Hoch über dem Gänselieselbrunnen von Cuno von Uechtritz fliegt ein Schwarm Kraniche, 15.31 Uhr. Der Himmel glänzt licht-weiß-blau; lockere Wolkenstreifen, sonnenbeleuchtet, ziehen südwärts. An der Bundesallee befindet sich die „Botschaft des Königreichs Saudi Arabien / Kulturbüro“, du gehst schnell über die Straße, vorbei an der Stelle, an der bis vor wenigen Jahren die Imbißbude stand, an der eine Szene von Wim Wenders' „Der Himmel über Berlin“ mit Peter Falk gedreht wurde; ziehst zum Prager Platz und umrundest das Rilke-Denkmal: „‚Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft / werden weniger ... überzähliges Dasein / entspringt mir im Herzen.' (Rainer Maria Rilke) Geschenk der Stadt Prag und der europäischen Rilke-Stiftung“. Das Hotel Hyperion hat eine Kästner-Bar, benannt nach Erich, der in der Prager Straße Nummer 12 seine Schreib-Cocktails gemixt hat; das Haus ging im Bombenkrieg verloren. Vor dem Haus 2A erinnert ein privates Denkmal an 1992 hier im einstigen Restaurant „Mykonos“ ermordete kurdisch-iranische Politiker. In den Räumen befindet sich jetzt ein Kindergarten: „Mini Aventura / Centro infantil / Aleman Espanol“. Vor dem Haus befindet sich ein überdachter Kinderwagenabstellplatz; das Dach bauchnabelhoch. Der Nürnberger Platz ist trostlos, beleuchtet allein von dem libanesischen Restaurant „Byblos“ und der Berliner Bier-Akademie gegenüber. Ein Vogelschwarm-V erscheint am Himmel über dem Friedrich-Hollaender-Platz, nach Norden ziehend, in die falsche Richtung, wie dir scheint. Via Fasanenplatz machst du dich auf Richtung Ludwigkirchplatz. In der Ludwigkirche findet gerade eine gemeinschaftliche Chorandacht der Chöre an St. Ludwig statt. Im Informationskasten im Eingangsbereich der Kirche hängt ein Zettel: „Taschendiebe sind leider überall / Achten Sie bitte auch hier auf Ihr Eigentum“. Vivaldis „Gloria“, Hans Kriegs „Sim shalom“, Martons „Passacaglia“ und Vaughan-Willims' „5 mystical songs“ bilden die freilich inbrünstige Andacht. Beim „Gloria“ singen Sopran Alessia Schumacher und Alt Roksolana Chraniuk innig und doch expressiv; an der Orgel zieht die Ukrainerin Svitlana Pozduysheva alle ihre Register. Über dem Altar strahlt das die Augen berührende goldene Kreuz, in seinen gerundeten Enden wie in der Mitte leuchten rote Steine. Nach dem „Gloria“ spricht Pfarreirätin Frau Monika Grütters, Abgeordnete des deutschen Bundestages und laut Programmzettel auch „Professor“, einen Psalm, der dir zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus geht, ohne daß du auch nur ein Wort verstanden hättest. Aber Hans Kriegs „Sim Shalon“ verstehst du, das danach eindringlich aufwühlend von Bariton Georg Streuber vertont wird. Derart aufgewühlt, gehst du wieder, stößt aber im Eingangsbereich noch auf ein Plakat der Initiative „1000 gute Gründe“, „um zu glauben“ oder sich christlich einzumischen; Grund Nummer 60: „Alle, die auf den Herrn vertrauen, bekommen immer wieder neue Kraft, es wachsen ihnen Flügel wie dem Adler. Sie gehen und werden nicht müde, sie laufen und brechen nicht zusammen.“ Aber wenn ihnen Flügel wie dem Adler wachsen, sollten sie dann nicht fliegen anstatt zu gehen oder zu laufen? Sollten sie vom Hangwind nicht sich tragen lassen? In der Thermik kreisen und steigen und die Sonne an den Flügelspitzen spüren? Draußen vor der Kirche schwebt hoch in dünnem Schleier der volle Mond, widerglänzend der Sonne Strahlen. Du gehst durch die Pariser Straße und findest vor Haus Nummer 11 sage und schreibe neunundzwanzig „Stolpersteine“ in den Boden eingelassen. In der vollen U-Bahn Nummer 9 in der Spichernstraße schläft ein junger Mann auf der langen Sitzbank, schläft offenbar sehr tief. Du rüttelst und schüttelst ihn, ohne daß er sich rührte. Du rüttelst und schüttelst weiter, weil du wissen willst, was mit ihm es auf sich hat. Die anderen Fahrgäste schauen dir dabei zu. Es dauert ewig. Doch schließlich, wie aus dem Nichts, beginnen seine Wimpern zu zittern: Er wacht auf. Ein Glück, am Totensonntag ein endlich Lebender, der die Augentüren öffnet. 26.11.2023
LICHTENRADE Kurz vor zwölf Uhr am Mittag ist der Horizont gelb-gold verwolkt, Lichtinseln himmlischen Blaus darin, auch zimtfarbene Wolkengebirge rücken ins Blickfeld. Die Fassade der Polizeistation am Lichtenrader Damm ist bald zugewachsen vor wildem karmesinroten Wein. Der Bus X83 entläßt dich um 12 Uhr in der Nahariyastraße, benannt nach der Stadt in Israel. Die Sonne kommt schräg hinter einer Wolke hervor, das Zwölf-Uhr-Läuten der Kirche taucht aus der Ferne auf, ein Flieger startet von Schönefeld nach Westen. Im Siekeweg nimmt dich eine gelbe Birkenallee auf, und im Süden startet wieder ein Flugzeug, 12.09 h. Sieke war der Name eines alten Lichtenrader Bauerngeschlechtes, steht auf dem Straßenschild, eine Wendung, so noch nicht gehört. Über die Würzburger Straße gelangst du auf den einstigen Grenzstreifen, welcher die DDR von West-Berlin abschnitt. Heute ist da ein Grenzwald, vierunddreißig Jahre alt. Hier führt für Wanderer der Mauerweg entlang. Der Wald selbst bildet eine Mauer, eine durchlässige, angenehme, anmutige, ungefährliche, rauschende, geschneiter Blätter voll. Du stehst am Saum eines Kraut-und-Rüben- Feldes und blickst ins Land Brandenburg hinein. Im Wald geht auf dem Lebensstreifen ein Alter mit seinem Dackel, jenseits des Felds, Großziehten zu, zieht ein Mittelalter mit einem größeren Hund über einen Trampelpfad, im Wald keucht ein Läufer, ehe ein altes Paar auf dem Rad vorwärtsquietscht. Ein in wärmere Gefilde ziehender Schwarm großer Vögel taucht auf, Gänse? oder doch Kraniche? Ein großer Flieger hebt ab, 12.18 h, ganz niedrig, kaum Höhe gewinnend. Hier, am vor Blätter leise rauschenden Saum, fühlt du die Weite der Welt, eine Weite, die dich weiter atmen, und aufatmen, läßt. 12.20 h, der nächste, große, schwere Flieger hebt ab, verschwindet bald in den tief schleichenden, anthrazitblauen Sprühwolken, während sein infernalisches Getöse weiter aus dem lichten Gebirge der Hochwolken wie aus einem uneinsehbaren Schlund über die Landschaft herunterfährt. Ein Hagenbuttenbusch voller Hagebutten am Rand des BMX-Geländefahrradgeländes tröstet deine Augen, deinen Blick. Die niedrig, geräuschlos schwimmenden Wolkenpakete, absender- und adressatenlos. Aus der Ferne in der Siedlung irgendwo dringt jetzt das Dröhnen eines ewigen Laubbläsers zu dir. In der Wittelsbacherstraße Ecke Pechsteinstraße, benannt nach Max, dem Maler, nicht nach Claudia, der Eisschnelläuferin, der ewigen, steht ein Briefkasten. Tagesleerung um 16.15 Uhr. Der Briefträger radelt mit seinem Elektrozustellfahrrad auf dem Gehsteig. „Mahlzeit!“, ruft er einer Passantin zu. Wiederholt kann er die Briefe, ohne abzusteigen, im Vorbeiradeln in den am Grundstückssaum angebrachten Briefkasten routiniert einkasteln. Mit zwei jungen Müttern hält er an einer Straßenecke einen Plausch. Das eine Kind sitzt auf dem Boden, während das andere alleine weitergeht. Die Mütter scheinen den Briefträger als Plaudertasche gern zu haben. Plötzlich rumpelt ein riesiger Lastwagen mit einer leeren, kettenklirrenden Baggerladefläche vorbei, und du siehst, wie die eine Mutter jetzt in die Richtung rennt, in der ihr Kind gegangen, das nicht mehr zu sehen ist. Du gehst an einem Fließgraben entlang, während ein Hubschrauber quer über die Stadt hubschraubt. In der Bornhagen- straße liest du auf einem Findling „Parksiedlung Alt-Lichtenrade / erbaut vom / Petrus-Werk / 1966 - 1970“. Daneben befindet sich ein Denkmal mit zwei schräg aufragenden Eisenbahnschienen. In einen Granitblock wurde eine gekippte weiße Marmortafel eingelassen mit der Aufschrift: „ERINNERN UND NICHT VERGESSEN / Zum Gedenken an / die Opfer des / nationalsozialistischen / Terrors, die hier / zwischen 1943 und 1945 / im ehemaligen Außenlager des Konzentrationslagers / Sachsenhausen / inhaftiert waren.“ Auf einer Schiene steht „Bochum 1941“ und davor finden sich Buchstaben, schwer zu entziffern, B V C? oder G? vielleicht, die könnten für „Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlproduktion“ stehen, der 1936 die Glocke für die Olympischen Spiele gegossen hat, auf der die Aufschrift angebracht war: „Ich rufe die Jugend der Welt“, ehe nicht viel später die Jugend, und nicht nur die, Millionen Menschen jedes Alters, zum Sterben gerufen, gebrüllt, gebombt wurden durch den von den Mörderbanden vom Grenzzaun gebrochenen Krieg. Die Schienen hier wurden womöglich selber von Zwangsarbeitern hergestellt, deren es in Bochums Hütten und Werken etliche gab. An der Stelle, an der einst das Außenlager war, befindet sich nun das Parkhaus der Parksiedlung. Eine halbe Zimtschnecke liegt auf der linken Steinhälfte. Du gehst hinunter zum Dorfteich, der jetzt im Sonnenschein liegt und an dessen Saum die Dorfkirche aufragt. Enten schnattern. Auf den Sitzbänken sitzen Menschen. Eine Mutter wünscht dem DHL-Paketboten noch einen guten Tag und geht hinüber zur Tanzschule, wo ihre Tochter tanzt. Aus der Kneipe „Alte Feuerwache“ kommt ein Gast und sagt zur Wirtin: „Machs jut!“ Im Hintergrund leuchten zwei Geldspielautomaten. Die Ungleichzeitigkeit gewisser, aus Dörfern hervorgegangenen Großstädte: Sie bleiben diesseits ihres weitläufigen, vierspurigen und hochhäuslichen Gepräges doch immer noch dörflich, sofern sie die alten Dorfansichten nicht durch Überbauung auslöschen. Du fährst ein Stück mit dem Bus X76 den Lichtenrader Damm hinunter, eine blonde Mutter mit Säugling im Wickeltuch hält in der schräg hereinscheinenden Sonne ihre Augen geschlossen. Im Hotel Obergfell wolltest du essen, aber sie halten außer süß glasierte Kuchen keine Speisen bereit. Du ziehst wieder den Damm hinauf, den ewigen, vom Verkehr überrollten, den ein Wassergraben unterquert. Am „Curry-Point“ an der umtosten Kreuzung Lichtenrader Damm Ecke Barnetstraße hält eine alte Frau im Elektrorollstuhl mit Kaffee und Kippe in der Hand einen Schnack mit dem Currywurstbudenbetreiber über Weltpolitik. In der Bahnhofstraße ist das Bäckerei-Cafe Junge gut besucht, Lichtenrader Volk versammelt sich hier, in der Mehrheit Vertreter reiferer Semester, manche mit verrauchtem Lachen, drei Rollatoren sind geparkt. Durch große Glasfenster wandert der Blick gen Süden in den blau-weißen Himmel, den startende Flugzeuge durchqueren. Zwei junge Mädchen tauchen auf, Schwestern offensichtlich, die jüngere trägt das Tablett mit schäumenden Gläsern Schokolade und Plunderteiggebäcken, mit Kakaocreme gefüllt, vorsichtig zu ihrem Platz, so vorsichtig, wie nur ein Kind vorsichtig gehen kann. Du gehst hinüber zur katholischen Salvatorkirche, große, mächtige Eingangstür mit einem Fischtürgriff aus Messing. Der Vorraum ist geöffnet, an der Decke ein Lichtkreis, rechts steht eine Schutzmantel- madonna, vor der Kerzen entzündet sind. Der Kirchenraum wirkt klar und doch auch barock, dabei wurde sie erst Anfang der dreißiger Jahre errichtet. Du gehst die Bahnhofstraße hinunter und betrittst den evangelischen Friedhof. „Denn bei Dir ist die Quelle des Lebens und in deinem Lichte sehen wir das Licht.“, begrüßt dich am Weg der Psalm 36,10 und du fragst dich, inwiefern die Quelle und das Licht zusammengehören. Das Leben quillt, wie das Wasser aus der Dunkelheit des Erdreichs, aus dem Dunkel des Nichts in die Existenz, und erst hier, am Tage, kannst du den Tag sehen, nur im Licht das Licht. „Gott ist meine starke Burg und macht meinen Weg eben und frei.“ (2. Samuel 22, 23), grüßt dich eine an der nächsten Wegkreuzung angebrachte weitere Zitation, es ist dies augenscheinlich ein Friedhof biblischer Belegstellen. Paradox mutet dir hier die statische Burg an, unbeweglich für jeden Weg, die aber doch deinen Weg erst ermöglicht. Es ist hier offenbar eine unsichtbare, überdimensionale, ja weltüberspannende Burg gemeint, die es dir erst ermöglicht, unbeschwerte, also ebene und freie Wege zu gehen. Egal, wo du stehst und gehst, die Burg bürgt für deine freie Sicherheit. Der Bürger geht geborgen. Und weiter gehst du und geht es an der nächsten Wegkreuzung: „Ich gehe oder liege, so bist Du um mich und siehst alle meine Wege.“ (Psalm 139,3) Ja, du kommst nicht umhin, hier nicht nur an das Auge Gottes, das alles sieht, zu denken, sondern auch an das Auge des Gesetzes und überhaupt an alle Überwachungskameras allüberall zu jeder Zeit auf dieser Welt, und du wünschst dir eine Burg, frei von jeder beschattenden Linse, ob menschlich oder künstlich. An einem Ehrenmal liest du: „Den im Weltkriege gefallenen Lichtenrader Bürgern“. Du gehst über ein Gräberfeld für im letzten Bombenkrieg gestorbenen Lichtenradern, etliche hat es noch in den letzten Kriegstagen erwischt. Dann ein jaulender, markerschütternder Schrei. Noch ein Schrei. Und du siehst in der Nähe eine kleine Gruppe Menschen stehen, sechs Personen, und meinst, jemand sei ins offene Grab gefallen, aber dann siehst du zwischen den Beinen der anderen einen Mann am Boden liegen, eine Atemmaske trägt er wohl, drei Gärtner assistieren den beiden Sanitätern und eine Frau hält einen Kasten in der Hand, eine Sauerstoffpumpe vielleicht, von der ein Schlauch zur Maske des Mannes führt, die Frau wird die Tochter des Alten sein, beide am Grab der Mutter beziehungsweise der Frau, glaubst du. Offenbar hat der Alte starke Schmerzen, wenn man ihn anzuheben versucht. Man hat eine Plane unter ihn geschoben. Die Dämmerung fällt. Es hilft nichts, er muß auf die bereitgelegte Liege, um ihn für den Weg ins Krankenhaus transportabel zu machen. Sie heben ihn so vorsichtig hoch, wie es geht, und vor Erschöpfung jault er nicht mehr. Es gelingt. Im Weitergehen siehst du das elektrische Gärtnerlastwägelchen und die Schubkarren und Schaufeln auf den Wegen stehen und liegen gelassen, wo sie eben waren, als sie den Notfall bemerkten. Als du in der Bahnhofstraße den Bus zurück ins Innere der Stadt besteigst, siehst du die „Goethe-Apotheke“ und meinst, Goethes Werk sei selber auch eine Apotheke, in der du immer die Medizin bekommst, die deinem Seelenheil bekommt und die dich ermuntert, auf verwegenen Wegen weiter zu vergehen. 16.11.2023
GRUNEWALD Eben noch schwebtest du halb versunken im Obergeschoß des brandneuen, aus an der Decke befindlichen Schlitzen ständig hoffentlich sauberen Äther in die Fahrgaststube blasenden und deine Haare verwirbelnden Omnibusses Nummer 186 vom Roseneck zum S-Bahnhof Grunewald am Saum des bebauten Teils von Grunewald, vorbei an Nagomis „Dog Styling“-Frisierstube in der Hagenstraße und an dem ukrainischen Restaurant „Fayna Ukraina“ in der Menzelstraße, schon steigt dir, nach der Landung, in der Bahnhofshalle vor dem Eingang zum gewölbten Tunnel zu den Gleisen und zum Grunewald selber, welcher, jenseits der brausenden AVUS, in öden Endlosigkeiten hinab zum sandigen Ufer der in der Ecke breiten Havel zieht, der warme Duft frisch aus dem Ofen gezogener Brotlaibe aus der Backstube Steinecke behaglich in die Nase. Doch das große, von der Tunneldecke hängende Schild mit der Aufschrift „Gleis 17“ sticht dir ins Auge, deine Aufmerksamkeit auf sich ziehend. Zwei Männer, um die fünfunddreißig, Touristen wohl, schießen Photos, wie einer der beiden die Treppe herunterkommt, an deren oberem Ende ein Mahnmal an während der Nazi-Zeit von hier deportierte Berliner Juden erinnert. Der Knipserei ungeachtet, gehst du die Treppe hinauf. Vielleicht wird deine Rückenansicht jetzt Teil eines privaten Photoalbums oder Teil eines im Netz veröffentlichten Photoromans, du nimmst es hin, wenn auch nicht gern. Im Zeitalter der Allgegenwart von Telephonkameras ist es unmöglich, bewegst du dich im Freien, nicht irgendwo von irgendwem in die bildliche Existenz gezwungen zu werden. Diesen Menschen hat es einmal gegeben. Im Bett von Gleis 17, dem Mahnmal, sind Bäume gewachsen, Ahorne und silbergraue Birken. Gelbe Blätter fallen. Anscheinend sind die Bäume Teil der Installation und sollen zu verstehen geben, liest du, daß von hier keine Züge je wieder fahren werden. Ein fast rührendes, fast kindisches symbolisches „Nie wieder!“, scheint dir. Fast rührend scheint es, weil die Urheber dieses Gedankens offenbar an das Gute im (herrschenden) Menschen glauben, trotz des von Historie belehrten und von Gegenwart belehrenden besseren Wissens, und fast kindisch scheint es, weil kein Böser, kein böser Staat und keine Bande von Bösen von ein paar Bäumen von Untaten sich aufhalten lassen würden und dementsprechend auch nicht sich aufhalten lassen. Die böse Tat benötigt kein Gleis, um ins Unwerk gesetzt zu werden. An der schrägen Zufahrtsstraße sind Halteverbotsschilder für den 9.11.2023 aufgestellt. Die Sonne blendet dich, und du betrittst das am Bahnhofsvorplatz befindliche Restaurant Floh. Ein mit Kreide beschriebenes Schild preist „Möhreneintopf mit Schweinefleisch“ an. Der vordere Gastraum wird von der Sonne in Licht getaucht, es ist weich wie zerlassene Butter, das Licht läßt sich auf die Gäste nieder. Die hier als Bedienung arbeitende Frau präsentiert sich in deinen Augen in offener, liebenswerter Freundlichkeit. Sie trägt eine neue Blue Jeans und ein einfaches schwarzes Hemd. Die langen Haare trägt sie offen. Sie zählt ein paar Semester und hat doch das Flair einer jungen Frau, als wäre sie einem Mythos entsprungen und damit alterslos. „Wir kennen uns, du warst schon einmal hier, oder?“, fragt sie dich. Du kennst sie nicht, aber hältst es für plausibel, daß eine zeitlose Frau dich von irgendwannher kennt. Die Gäste spachteln fleischhaltig, während jetzt ein sanddornorangenes Licht hereinfließt. Über der Tür hängt ein Gemälde des Alten Fritz. Das Dudelradio läuft, es ist ziemlich laut, zwei „Denon“-Lautsprecher stehen am Tresenrand übereinander, und dir gelingt es nicht, zu lesen. Ein Herr kommt herein und fragt nach einem hier für ihn abgegebenen Paket. „Zweiffel? Mit zwei f?“ „Ja.“ „Ist das nicht von nebenan? Was sind Sie?“ „Raumausstattung.“ Die Radionachrichten kommen. Danach verraten Meldungen, wo gerade Klimakleber festkleben und Stau auslösen. „Torstraße / Rosenthaler Platz Richtung Friedrichstraße“ zum Beispiel. Zwei alte Männer sitzen an dem Fenstertisch, grauweißhaarig beide, aus dem Radio läuft „Do you really want to live forever ... forever young?“ Der eine betastet das Handgelenkgerät des anderen, das dessen Blutdruck und Puls mißt, es ist ein Moment von Innigkeit, scheint dir. Die Bedienung will hinausgehen, als ein Stammgast ihr entgegen kommt, ein runder, alter Mann mit kleiner, ovaler Brille, silbernem Schnurrbart und Sean-Connery-Mütze, dazu benutzt er einen auf dem Boden klackenden Gehstock. „Mario, Hallöchen!“ „Ick will wat essen!“ „Wat willste denn? Wat kräftiges? Königsberger Klopse?“ Ein vierzigjähriger Mann kommt herein, setzt sich und bestellt ein König Pilsner. Die Bedienung singt bisweilen die Radiolieder fröhlich mit, jeder Song „ein Lieblingshit der 80er Jahre“. Ein Pärchen bestellt bei der Bedienung einen Schnaps. Der ist ihr unbekannt: „Den muß ick och gleich probieren, sonst kenn ick den ja nicht!“ Vom hinteren Raum kommt ein Vater mit seinem zwölfjährigen Sohn zum Zahlen an den Tresen. Die Bedienung fragt den Sohn: „Willste noch 'nen Lolly?“ Der Junge will und greift in die ihm hingehaltene Glaskaraffe. Der Raum wird videoüberwacht, zumindest entdeckst du jetzt dieses Ding da oben, das entweder eine Attrappe ist oder dich die ganze Zeit filmt. Auf einem der zahllosen Schilder steht „Hier kocht die Chefin selbst“. Meermilchdunstiges Licht jetzt am Zapfhahntisch. Aus den Boxen kommt „Do you really want to hurt me, do you really want to make me cry?“ Die Achtziger, die Atombomben drohten, auf der Mutlanger Heide wurden die Pershings stationiert, waren, scheint es, den zufälligen Liedern hier nach zu schließen, auch die Zeit der Fragen nach dem, was du möchtest: ewig leben, ewig jung sein, den anderen verletzen und zum Weinen bringen? Eine Telefonanruferin sagt im Radio, ihr lägen die 80er am Herzen. Worauf Udo Lindenberg nuschelt: „Es tut nicht mehr weh, endlich nicht mehr weh, wenn ich dich zufällig mal wiederseh', es ist mir egal, so was von egal ... ich lieb dich überhaupt nicht mehr, das ist aus, vorbei und lange her...“ Zeit für dich, auch, so lange das Licht in den Straßen noch zu finden ist, jetzt eine Runde zu Fuß zu drehen. Die einzigen, die außer dir zu Fuß unterwegs sind, sind die Handwerker auf dem Weg von ihrem geparkten Transporter zu irgendeiner der zahlreichen Baustellen, dazu ein paar Hunde-Ausführer. Ansonsten fahren die Anwohner nur mit ihren abgedunkelten Karren von Ziel zu Ziel. Ullsteins Hütte, die schloßartige Prunkvilla in dem weitläufigen Seepark, einst im Eigentum eines der Ullstein-Brüder, du hast sie vor Jahren von der Straße aus angestaunt, als noch das Rote Kreuz drin siedelte, haben sie anscheinend abgerissen und an der Stelle zumindest in deinen Augen abgeschmackte Luxuswohnungsbauten hineingetrümmert. Die korrespondieren freilich mit den ähnlich abgeschmackten Pkw-Modellen, die hier favorisiert werden. Der Abriß gehört zur bestechenden Logik des ‚Kapitalismus' - er macht vor nichts halt: „Alles Ständische und Stehende verdampft“, schrieben Karl Marx und Friedrichs Engel in ihrem Kommunistischen Manifest von 1848. Ein historisch bedeutsames Anwesen? Was solls, wenn man es abreißen und dafür einen Reibach machen kann oder sag lieber: einen überdurchschnittlichen Gewinn erzielen. Der dem ‚kapitalistischen' System folgende Mensch verkauft alles, nicht nur seine Großmutter, auch sich selbst, seine Seele. Andererseits kannst du auch nicht alles bedeutende zum Denkmal erklären, schon allein weil den Nachkommenden sonst irgendwann die Aussicht genommen ist, selber zu gestalten und zu bauen. Nicht nur fließt alles, alles geht auch vorbei, auch das Stehende, der Bestand. In einer alten Villa in der Bettinastraße siedelt die Wohngemeinschaft „Violetta Clean“ des Hilfsvereins „Frau Sucht Zukunft“, der Frauen auf dem Weg aus der Abhängigkeit von Drogen hinaus helfen möchte. Der Park der Villa Harteneck ist, unter Denkmalschutz stehend, unbebaut geblieben und öffentlich begehbar, du gehst auch hinein, gehst aber gleich wieder hinaus, es ist unter den hohen Parkbäumen zu schattig für musisches Bleiben. Ziehst weiter durch die Straßen, bis du am Hagenplatz 2 dich im Ristorante „Capriccio“ aufwärmst. In einem Nebenraum stößt du auf etliche Photos von einflußreichen Politikern an der Wand, die der Wirt offenbar gezwungen hat, sich bei jedem Besuch mit ihm ablichten zu lassen. Es scheint dies hier die reinste Kanzlerhöhle gewesen zu sein, Kohl, Schröder, Merkel erfuhren hier gastrophile Mästung. Kohl schleppte sogar Gorbatschow und Bush Senior herein. Du gehst lieber wieder hinaus, und wie du siehst, wie die Handwerker ihre Sachen zusammenpacken und zu ihren Autos tragen, erreichst du die Hubertusallee. Der Hubertussee liegt still. Die großen, alten Buchen leuchten kupferorange. Gegenüber, auf dem Hubertussportplatz, trainieren Kinder, und die Eltern stehen am Rand und schauen zu. Jenseits des Sportplatzes, aber schon in Schmargendorf, liegt die Botschaft von Israel. Die Dämmerung fällt. Der heranfahrende Bus M29 leuchtet, mit ihm gehts zurück zum Roseneck. 3.11.2023
HALENSEE Es ist ein Samstag nachmittag, Stille regnet. Du versteinerst am Henriettenplatz am Kurfürstendamm vor dem trockengefallenen Medusabrunnen für einen Augenblick beinah: ihr Haupt ist halb in der Erde versunken, doch ihre Augen schlagen mächtig dich in ihren Bann. Aus dem Brunnenkopf brunnt kein Wasser mehr, allein ihre Augen brunnen, sie brennen durch die Umgitterung, die man ihr verpaßt hat, in der sie vorgeführt wird wie ein russischer Sträfling. Auf der Sitzbank weiter unten schläft ein Obdachloser, neben sich den Einkaufswagen mit seiner Habe. Die rostfarbenen Bodendeckel stammen von der Firma Barth in Ludwigsburg. Im Haus Westfälische Straße Ecke Seesener Straße, der Nachkriegsbauten ersten einer hier, siedelt im Hochgeschoß mit der breiten, vorspringenden Fensterfront die Tanzschule „Traumtänzer“. 1956 hatten die berlinbekannten Kellers eine ihrer wiedereröffneten Schulen da. Du siehst durch die Zeiten die adretten Tänzer von damals, die den Kriegsstaub aus ihren Kleidern fegen. Zwei Edeka-Verkäuferinnen haben das Anlieferungstor zur Hälfte hochgelassen und machen Zigarettenpause. Ein Straßenpumpbrunnen am Beginn der Seesener Straße hat einen Pelikanschnabelhahn, du betätigst den Schwengel und siehst zufrieden, daß Wasser strömt. Der Wohnungsneubautenriegel in der Seesener Straße dämpft ein wenig das Geräusch der nahen Autobahn 100. Nach links ab fällt die kurze, kurvige Halberstädter Straße mit ihren Robinien und ihren vom „Bombenhagel“ verschonten Vorkriegsbauten. Die Joachim-Friedrich-Straße erscheint als belebte Allee. Eine Gedenktafel am Haus Nummer 54 erinnert an den aus Baden stammenden Mimen Albert Bassermann, der hier von 1930 bis 1933 lebte und, wie zu lesen ist, „aus Solidarität“ mit seiner jüdischstämmigen, gleichfalls als Schauspielerin arbeitenden Frau Else, geborene Schiff, 1934 aus Deutschland emigrierte. Schräg gegenüber präsentiert die Hugenotten- beziehungsweise die Französische Kirche zu Berlin einen Reliefschmuck an der unschmucken Außenwand. Ihre „edle Hütte“, wie sie den Gemeindesaal nannten, war von 1961 bis zum Fall der Mauer Mitte für den im Westteil gebliebenen Teil der Gemeinde, sie haben sie Ende letzten Jahres aufgegeben, um ganz in der Französischen Friedrichstadtkirche und im Französischen Dom am Gendarmenmarkt die Gottesdienste zu feiern. In „The Kids Club“ unterrichtet der Lehrer gerade Englisch. Es ist kühl und windig, die Atmosphäre macht dich unruhig. Doch das Wort „Löschwassereinspeisung“, an einer Hauswand auf einem Schild stehend, beruhigt dich. Am Auktionshaus Dannenberg vorbei, siehst du schon das altrosafarbene Heizwerk an der Nestorstraße. Das Gewerbegebiet der Nestorstraße ist still. Die Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Sozialversicherung, liegt verwaist. „Die kleine Weltlaterne“, den außen angebrachten Zeitungsausschnitten nach zu urteilen, ist ein berühmtes, von Künstlern und Prominenten aufgesuchtes Lokal. Hier, in Haus Nr. 22, wohnte von 1932 bis 1937 Vladimir Nabokov, informiert ein unauffälliges Privatschild an der Wand des nicht gerade einladenden Hauses. Die Hochmeisterkirche am Hochmeisterplatz schlägt ein Uhr. Hier residiert die Evangelische Kirchengemeinde Halensee / zugehörig dem Evangelischen Kirchenkreis Charlottenburg-Wilmersdorf. „Jesus Christus gestern u. heute u. derselbe auch in Ewigkeit“ steht über dem Portal. Auf einem neben dem Eingang liegenden Felsen steht: „‚Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde' / 9. November 1938 / Judenpogrom in dieser Stadt / Erinnern der Schrecken / die Schuld nicht vergessen“. Der Hochmeisterplatz besteht in seiner großen Mitte aus einer Bodenwellenwiese. Männer um die fünfunddreißig feiern eine Art Kindergeburtstag und veranstalten Wettbewerbe: Huckepacketragen zum Beispiel, wobei zwei Männer jeweils ein Paar bilden, die sich abwechselnd im Wettrennen mit einem anderen Paar über die Buckel der Wiese schleppen müssen. Am Rand auf den Bänken sitzen zufällige Zuschauer. Ältere Damen führen ihr „Compagnion Piece“ aus, und zwei polnische Gerüstbauer setzen sich auf eine Bank und machen mit hochprozentiger Nahrung Feierabend. Die aufgelassene Kirche „St. Albertus Magnus * 01.04.1962 † 26.11.2023“, ein schönes Betonbauwerk, aber es wird nicht mehr gebraucht, die Christen sterben hier aus. Die Blätter der Platanen auf dem Ku'damm haben einen Stich ins Ockerfarbene. „My Wellness. My own Spa“ lockt die Individualisten; daneben hat das uralte „Reformhaus Höfeler“ geöffnet. Die Hektorstraße geht gediegen weiter - allein die Bäume rauschen. In der Joachim-Friedrich-Straße 31 stößt du auf einen Laden mit ukrainischer Petrykiwka-Malerei und allgemein mit ukrainischen Geschenken: „Laskavo Prosymo“ steht an der Eingangstür - „Herzlich Willkommen“. Neben der Grundschule-Halsensee liegt die Schuhmacherei Meiners. In den sich daneben öffnenden Höfen haben Tanzschulen ihren Sitz. Gegenüber befindet sich „Mario's Cumulus“-Restaurant und Bar, benannt nach dem Inhaber Mario Hähne; es hat geschlossen. Der Eingangswindfang ist, wie du siehst, übersät mit Blumen und Kerzen und dem Photo eines Mannes in den Bergen - mutmaßlich zeigt es den anscheinend zu Tode gekommenen und nun im himmlischen Frieden hoch über jeder Cumuluswolke ruhenden Mario. Die geschlossene Timbookto-Buchhandlung kündigt eine Lesung mit einem gewissen Johannes Ehrmann an, der die Gründung der USA als deutsche Familiengeschichte neu erzählt. Hier, in Ku'damm-Nähe, haben zumindest heute überraschend viele Läden, Restaurants und Cafes geschlossen, obwohl du das gerade hier anders erwartet hättest. So betrittst du das verwunschenste und verwinkeltste Reich von Kleingärten, das dir je unter die Sohlen gekommen ist. Es befindet sich nördlich des Ku'damms in einem von Gleisen eingedreieckten und von durchfahrenden Zügen getakteten und beschallten eingezäunten Areal. Zwischen den Tälern der Bahndämme führen schmale, dunkle Fußgängertunnels. Von einem erhöhten, aufgelassenen Gleisdamm wandert der Blick Richtung Funkturm, Messe und dem Funkhaus des Senders Rundfunk Berlin-Brandenburg. Gräser haben hier die Gleise fast ganz zugewachsen. Die heute, an diesem rauhen, windigen, kühlen Tag, unbesuchten, wie verlassen erscheinenden Gärten sind freilich wohlgepflegt. Die Astern stehen stramm und blühen in belebend invasiven violetten und pinken Tönen. Dem Bienenstand nahekommend, begegnen dir dem Wetter trotzend ein paar Bienen, und du bist für ihr Erscheinen dankbar. Beim dich kaum einladenden, dürftigen Kinderspielplatz haben Gärtner ein „Spritzenschild“ angebracht: „Liebe Gäste! Hier spielen Kinder. Nehmt eure Spritzen wieder mit. Wir sind tolerant. Nehmt auf uns Rücksicht“. Aber wer einen Schuß gesetzt hat, ist womöglich nicht mehr Herr des Verfahrens, nicht mehr in der Lage, an die Kinder zu denken und sein Besteck wie ein rastender Wandersmann nach der Jause säuberlich einzupacken? Auf einem nahen, breiten Gleisstrang, an dem ein schmaler Weg vor einem Maschendrahtzaun entlangführt, brettert ein ICE vorbei, während ein anderer auf den Gleisen steht und wartet, den ersten offenbar passieren lassend. Wilder, feuerrot flammender Wein wächst neben den Gleisen und klettert sogar über dieselben hinüber. Eine Gleiskurve zeigt tausend brennende Weinblätter im Winde flackern. Du bist erleichtert, als du beim Aldi-Supermarkt wieder den Weg aus dem Gartenreich hinaus findest. Dir ist, als wärst du dem Totenreich gerade noch entkommen. Weiter wanderst du Richtung Ku'damm, kommst in der Katharinenstraße an der Embassy of the Republic of Mauritius vorbei, und eine Gedenktafel an einem Flachdachautohaus erinnert an Else Lasker-Schüler und Herwarth Walden, die hier in einem im Bombenkrieg zerstörten Haus gewohnt haben. Firma Dinnebier verkauft jetzt hier gebrauchte Jaguar und Land-Rover. Vor einem Bürohaus am Ku'damm, unmittelbar neben dem Agathe-Lasch-Platz, steht eine Gruppe sturzbetrunkener Polen, Männer wie Frauen, die ausführlich ein Thema angestrengt diskutieren. Der Agathe-Lasch-Platz ist verwahrlost, er erinnert an die jüdische Germanistin und erste Germanistik-Professorin, Agathe Lasch. Sie wurde 1942 deportiert und bei Riga ermordet, wie ein Schild mitteilt. Daneben erinnert eine Denkstele an den hier einst geplanten „Generalplan Ost“, der Ansiedlung Deutscher im östlichen Europa bei gleichzeitiger Vertreibung und Ermordung der ansässigen Bevölkerung. Vorm Rewe begegnen sich zufällig zwei alte, einander bekannte Frauen, die eine, die zwei Schoßhündchen mit sich führt, möchte sich der anderen nähern, dem ernsten, mitfühlenden Blick nach zu schließen, wohl um zu kondolieren, doch diese wehrt ab: „Ich bin erkältet!“, läßt sich aber doch von ihrem Gegenüber an den Fingerkuppen mitleidig krallen, worauf sie in schluchzende Tränen ausbricht. Du denkst, ihr Mann sei verschieden, doch hörst du sie unter erstickter Stimme sagen: „Ich werde nie wieder so ein Hündchen haben!“ Du erblickst gegenüber das „Haus der 100 Biere“ und gehst dort für eine Stärkung hin. Du probierst das Bamberger Schleckerla Rauchbier, das dir jedoch gewöhnungsbedürftig in der Nase liegt. Der Rewe hat von Montag bis Freitag von sechs Uhr in der Früh bis Mitternacht und samstags von sechs Uhr bis eine halbe Stunde vor Mitternacht geöffnet - das erscheint dir großzügig und kommt schon fast an u.s.-amerikanische Rund-um-die-Uhr-Öffnungszeiten heran, freilich wäre dir nicht danach, nachts um zwei im Supermarkt einzukaufen, wenn du auch das schon einmal gemacht hast, um ein Gefühl für die Folgen eines marktwirtschaftlich bis zum äußersten getriebenen Systems zu bekommen. Das Gebäude, in dem der „Generalplan Ost“ formuliert worden ist, existiert nicht mehr, statt dessen steht da ein freilich auch schon in die Jahre gekommener Neubau. Die Dämmerung fällt. Starker Regen prasselt hernieder. Du gehst und gehst hinüber, und auf Höhe des Rewe-Eingangs, an der Bushaltestelle, siehst du die in den Gehsteig eingelassene Gedenktafel für Rudi Dutschke, auf den genau hier geschossen wurde. Der Omnibus rauscht heran und nimmt dich mit, damit du dem Regen vom trockenen Hochgeschoß aus zusehen kannst, wie er über die Scheiben fegt und tanzt. 7.10.2023
HANSAVIERTEL Sprühregen fällt jetzt am Nachmittag. Der Platz am U-Bahnhof, quadratisch, wie ein Kloster-Kreuzgang, hat auf drei Seiten ein Arkadendach. Auf der vierten, östlichen, grüßt die kahle Außenwand des Rewe-Supermarktes - auf die hat jemand einen arabischen Schriftzug gesprayt. Aus dem Grips-Theater strömen Schüler. Am Bäckerei-Café Schäfer's gibt die Verkäuferin dir einen Espresso aus einer Kaffeetasse - sie habe gerade keine andere mehr, sagt sie, obschon außer dir nur zwei Gestalten, seit Jahren Stammgäste, täglich hier klebend, scheint dir, anwesend sind. Du setzt dich raus unters Laubendach. Zum Supermarkt streben etliche, aus dem U-Bahn-Ausgang sprudelnde Leute. Eine Döner-Bude geradeaus. Ein Restaurant mit zum Teil unleserlichem Namen und dem Zusatz „by the meat“ halbrechts. Ein Mann mit orangefarbenem Bergsteigerrucksack erreicht eine orangefarbene Mülltonne. Auf dieser steht in weißen, serifenlosen Buchstaben der punktlose Satz: „Du bist voll in Ordnung“. Der Mann linst umsonst hinein. Im blauweißen U-Bahn-Schild neben dem U-Bahn-Eingang spiegelt sich ein vorbeirauschender ICE. Eine Frau im Rollstuhl fährt vom Wocheneinkauf nachhause, um den Hals die Schlaufe der auf ihrem Schoß liegenden Einkaufstasche. Zwischen der und ihrem Leib klemmt noch eine Packung Toilettenpapier. Ein Radler stellt sein Rad unmittelbar vor deiner Nase ab und betritt die Bäckerei. Ein junges Paar mit Kinderwagen geht quer über den Platz, der Vater redet, aber du kannst nicht sagen, ob er über Ohrstöpsel telephoniert oder mit seiner teilnahmslos neben ihm schiebenden Frau sich unterhält. Väter schieben Buggys. Jugendliche mit eingewanderten Vorfahren tragen schräg über den Oberkörper gespannte Täschchen, Nachkommen der Herrentasche, die früher ein bestimmter Typus Mann oder Herr mit einer Schlaufe am Handgelenk zu tragen beliebte. Kurt Weill wohnte hier kurzzeitig als neunzehnjähriger, steht auf einer Gedenktafel. Ist dieser Hinweis auf des Jugendlichen Wohnort sinnvoll? Über dem südwestlichen Dach ragt das Kreuz der katholischen St. Ansgar-Kirche empor. Die „Trainingsanzüge“ der Jugendlichen sind deren Mode-Uniform. Auf die Frage, was als „cool“, als „in“ Geltung entwickelt, weißt du keine Antwort. Der Ton der türenschließenden U-Bahn dringt vom Schacht bis zu dir herauf. Eine Kundin streift wild entschlossen dutzendmal ihre Schuhe am Eingang zur Bäckerei ab. Ein Mann hält mitten auf dem Platz sein Telephon hoch, den Lautsprecher auf laut gestellt, und es quillt ein schrilles Türkisch einer Türkin hervor, mutmaßlich seiner Frau. Auf dem Dach des Theaters befindet sich ein Blitzableiter. Ein Schild weist den Weg zur Stadtbücherei. Der Regen hat aufgehört, und vor der Döner-Bude sitzen drei dem Lachen zugeneigte Deutsche jenseits ihres besten Alters - zwei Männer und eine Frau, und auf letzterer Schoß sitzt noch ein Mops. Ein Paar um die fünfundfünfzig blickt von außen in die Bäckerei, geht dann aber brotlos weiter. Ein kleiner Junge im Trainingsanzug und mit schwerer Sportumhängetasche kommt aus der U-Bahn auf dem Weg zum Training; er bemerkt nicht, daß ihm zwei Stutzen aus der Tasche fallen. Er sieht seinen Bus heranfahren und eilt zur Haltestelle, die Stutzen bleiben zurück. Die Verkäuferin kommt tief hustend heraus, sich an einen der Tische setzend, und zündet sich eine Zigarette an. Der Rauch, den sie aushaucht, sendet dir einen Gruß. Eine gepflegte Frau um die siebzig kommt auf den Platz und wirft vergebliche Blicke in die Mülltonnen. Die Verkäuferin telephoniert jetzt mit lautgestelltem Lautsprecher. Eine in orangefarbene Uniform gekleidete Müllfrau der Berliner Straßenreinigung kommt und leert die Mülleimer. Die im Hintergrund vorbeifahrenden, inmitten der Kurve plötzlich quietschenden S-Bahnen. Erst jetzt bemerkst du den tristen Blumenkübel auf dem Hof. Eine Krähe erscheint und tänzelt schwanzwedelnd quer über den ganzen Platz. Statt „HANSAPLATZ“ steht am U-Bahn-Eingang nur „ ANSA LATZ“. Ein Jugendlicher fährt im elektrischen Rollstuhl hin und her. Der Hof hat zur Gully-Mitte hin ein Gefälle. Die Türkin, die vorhin so schrill aus dem Telephon geplärrt hat, kommt nun mit ihrem Mann ganz friedlich. Die beiden setzen sich schweigend neben dich. Jeder überquert den Platz in der Diagonale, außen an den Seiten entlang herumzugehen, scheint wohl sinnlos. Außen an den Seiten entlang gingest du nur, wenn es wirklich ein Kreuzgang wär. An den Fahrradanschließstangen sind Fahrräder angeschlossen. Die Verkäuferin putzt mit einem dir in den Augen beißenden Sprühputzmittel die Tische. Ein frischverliebtes Pärchen geht auf den U-Bahneingang zu, wo es abrupt stehenbleibt und sich küssend voneinander verabschiedet, auf Mund, Stirn und Hand. Die Trennung kurz und schmerzlos süß. Ein Obdachloser mit Bierpulle in der Hand kommt, um die Mülleimer zu prüfen. Eine Frau mit Zweisitzerbuggy schiebt ihre Buben Richtung Supermarkt. Ein Hund flitzt Richtung U-Bahneingang, bleibt dann aber stutzend stehen, er merkt, seine Familie fehlt; diese, Mutter und zwei Kinder, geht grad zum Bäcker, und so flitzt er dorthin. Vor dem Eingang muß er aber stehenbleiben, was er auch brav tut, die Seinen freilich keinen Augenblick aus den Augen lassend. Eine Frau mit Rollator geht vorüber. Ein Mann mit Aldi-Tragetasche geht am Fahrradständer entlang, kehrt plötzlich um und bückt sich - er hat eine Münze entdeckt. Insgesamt sind nur wenige alte Menschen auf der Gasse. Ein Mann in Wanderstiefeln humpelt an zwei Krückstöcken. Tauben pfeilen im Sturzlandeanflug Richtung Döner-Bude. Frauen mit Einkaufswägelchen ziehen zum Rewe - was am Freitag erledigt sein kann, soll nicht am Samstag erfolgen. Eine junge, schick gekleidete Frau mit sandfarbenen Seidenhosen geht ins Grips-Theater. Ein Mann mit Kapuzenpulli, Vollbart und Kippe schlürft am Platzrand zwei Dosen Bier und wirft die geleerten Dosen in den geleerten Mülleimer - jetzt müßte der Obdachlose noch mal kommen. Ein Zwerg geht vorbei, eine Hand in der Tasche. Bei Pingolino-Eis treffen sich Schüler. Du gehst hinüber zur Kirche, auf deren Vorplatz ein kleiner Ökomarkt stattfindet. Von der Altonaerstraße grüßt die nahe Siegessäule, im Hintergrund schaut der Potsdamer Platz heraus. Auf dem Markt ist einiges los. In der Mitte fünf Tische, Mütter mit ihren Kindern, ein Weinausschank vom Weingut Schäfer Heinrich in Heilbronn. Der Verkäufer von „Bodenschätze“ trägt nach alter Ökomanier eine Latzhose. Fleischstand, Käsestand, Crepes-Stand (von den Kindern belagert), Salat- und Gemüsestand, Kaffeestand, Wurststand, Oliven- und Frischkäsestand, Kräuter- und Olivenölstand, Fischstand, Eierstand, Blumenstand, Maultaschenstand, Brotstand. Kurz schaust du in den Vorraum des hellen Kirchleins (die inneren Glastüren sind abgeschlossen), die Gemeinde St. Elisabeth feiert hier ihre Gottesdienste. Du gehst weiter über den Markt, ein gewisser Michael Mödig bietet portugiesisches Gebäck feil. Drei weitere Vespertische laden die Marktgänger ein, sich niederzulassen. Ein Mischmaschstand bietet Lebensmittel, Haushaltswaren und Kosmetik feil. Ein Pizzastand lockt mit seinem weltumspannenden Ofenduft. Du läßt den Markt hinter dir und überquerst die Klopstockstraße Richtung Stadtbücherei, diesem gläsernen, filigranen Juwel. Der Innenhof voller überschäumender Blumen. Weiter zur in Sichtnähe aufragenden evangelischen Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Kirche am Saum des Tiergartens, vor deren kahler Wand ein einzelner Obdachloser halb nackt im Schlafsack schläft wie tot. Von links kommen drei junge Männer, einer von ihnen, mit freiem Oberkörper, stöhnt wie unter fürchterlichen Schmerzen, seine Beine im Gehen angewinkelt. Nebenan die ummauerten Einfamilien-Bungalows. Auf einem Abfallkorb steht: „Spritzenentsorgung im öffentlichen Raum“. In dem halbgläsernen Berlin-Bungalow der Internationalen Bauaustellung Interbau 1957 residiert heute ein amerikanischer Frikadellenladen. In dem weitläufigen Kneipenrestaurant namens „Tiergartenquelle“ in den S-Bahn- Bögen in der Bachstraße schenken sie „seit 1999“ eigenes Bier aus - Lemke heißt es. Die japanischen Touristengruppen wirken, als hätte sie ein böser Reiseführer hierhergeschafft, die engen, wenig einladenden Toiletten von anno dazumal sind sicherlich nicht nach japanischem Stil und Geschmack. In Siegmunds Hof wimmelt es von verwohnten Studentenwohnheimen der nahen Technischen Universität. Die Sonne kommt heraus, viertel sieben. Das todschicke Wohnhochhaus „Oasis“ an der Hansabrücke direkt an der Spree. Eine Uferstatue zeigt einen Akkordeonspieler. Ein Algerier auf einer Uferbank nahebei zieht an einem Joint. Eine Wand der Hansa-Grundschule hat adenauergrüne Außenkacheln. Die Lessingbrücke zeigt auf seitlich angebrachten Bronzereliefs Szenen aus Lessings bürgerlichen Trauerspielen und Dramen - Miss Sara Sampson, Emilia Galotti, Nathan der Weise, Minna von Barnhelm - liest die heute noch wer oder handelt es sich hier um ein bürgerliches Trauerspiel in einem weiteren Sinn? Das Ausflugsboot Alexander von Humboldt fährt unter der Brücke durch, die Gäste sitzen alle in der Kabine - es ist heute am letzten Sommertag etwas frisch, anders als in den vergangenen, ungewöhnlich sommerlichen Wochen. Vor der Akademie der Künste im Hanseatenweg sitzen Iraner und rauchen. Morgen wird hier ein Theaterstück in der Inszenierung von Narges Hashempour gegeben, das laut Programmzettel Anregungen aus Marion Braschs in der DDR spielendem Roman „Ab jetzt ist Ruhe“ aufgreift und das Streben einer jungen Frau nach persönlicher Freiheit in einem totalitären System dramatisieren möchte. Ob es gelingt? Oder handelt es sich hier um ein totalitäres Trauerspiel? Die politische Welt scheint solche Trauerspiele derzeit zur Genüge auch ohne Bretter zu keinem Frommen aufzuführen. Um 19.01 Uhr siehst du vom Bahnsteig im Bahnhof Bellevue aus den Sonnenuntergangshimmel: lila, blaue, orangefarbene und gelbe Wolkenstreifen streifen deinen Blick, durchstreifen dich und ziehen dich zu sich. 22.9.2023
WESTEND Am Fürstenbrunner Weg dösen die Kleinbetriebe am Sonntag morgen, Unfallgutachten, Burger, Shisha-Bars, Grieneisens Haus der Begegnung, Sarg-Discount Berolina Bestattungen, der Weg vom Tod ins Grab ist günstig. An den DRK-Kliniken vorbei, betrittst du den Luisenkirchhof III, ein stiller Raum nach den lärmenden Straßen, ein Friedhof im Windschatten. Teile einer zersägten uralten Eiche liegen auf der Wiese, als sollten sie noch beerdigt werden. An einer Aussichtsplattform liest du die Inschrift: „Der letzte ..., der überwunden wird, ist der Tod.“ Darunter hat jemand mit blauer Farbe geschrieben: „Nie wieder Krieg.“ Hinter der Plattform öffnet sich ein islamisches Gräberfeld, ein Mann von rund fünfzig Jahren trägt zwei gefüllte Gieskannen mutmaßlich zum Grab der Eltern. Die Gräber nach Mekka ausgerichtet. Die Kindergräber haben bunte Windräder, die Fröhlichkeit der Kinder im Zusammenspiel mit dem Wind: im quietschend wirbelnden Rad lebt sie auf, meinst du. Du kommst an ein Ehrenmal und liest: „Gedenkt der Opfer des osmanischen Genozids 1912 - 1922“. Auch Friedhöfe haben ihre Hinterhöfe, die Bauhöfe, wo Erde, Laub, Baumstämme, Grabplatten gelagert werden. Stauden noch und noch, Lilien - eine florale Üppigkeit, als du den Hang hinuntergehst. An einem Urnenfeld steht ein Steinkreuz mit einem Zitat von Goethe: „Es nimmt der Augenblick was Jahre geben.“ Es ist der Augenblick des Todes wohl, der Moment, der Leben von Totsein trennt. Ein Ehrengrab vom Land Berlin, schon auf der Gemarkung des sich anschließenden Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis- Friedhofs: John H.D. Rabe, Dora C. Rabe. Eine steinalte, gebeugte Dame mit Rollator läßt sich von der Taxifahrerin zu einem Grab begleiten. Am Eingang steht das Taxi, auf dessen Kotflügel Reklame für eine stadtbekannte „Wellnessoase“ gemacht wird, was hier freilich Puff meint. Was wohl die alte Dame denkt, wenn sie so reklamierend durch die Stadt kutschiert wird? Bei Blumen Dunata spricht die schöne Gärtnerin mit einer Blumenkäuferin. Der Gärtnerhof Charlottenburg am Fürstenbrunner Weg; Nummer 74 - 80 die Kolonie Tiefer Grund I, über die die Hochspannungsleitung führt. Ein Güterzug rumpelt. Die Rohrdammbrücke führt über die Spree. Mitten auf der Brücke endet Westend, und Siemensstadt beginnt. Die Spree-Erlen rauschen wie in einem Traum, unwirklich wirklich. Spree, hier will man dir lieben, so natürlich grün ziehst du deines Weges. Am Ufer blühen Seerosen. In der Ferne glänzt der Fernsehturm mit seiner Kugel. Du kommst durch die Kolonie Tiefer Grund II, die Polizei fährt mit einem VW-Bus Streife. Die Grundstücke laufen bis ans Ufer der Spree. Plötzlich prescht neben dir ein ICE vorbei, stadteinwärts. An der Gaststätte „Vogt's Tunnel-Eck“ trinkst du einen Sprudel. Eine Katze miaut. Ein Spreezubächlein, eingefaßt, murmelt idyllisch. In kurzer Zeit rasen drei ICEs hinter der Gaststätte vorüber. Über den verschlungenen Uferweg an der Spree gelangst du versehentlich in den Schloßpark Charlottenburg, und du fängst erneut am Spandauer Damm mit deiner Westend-Runde an. Jetzt erst fällt dir die Pagode auf, die derjenigen vom S-Bahnhof Mexiko-Platz ähnelt. Die hier ist ein aufgelassenes „Herren PP“. Du verirrst dich auf das Gelände des DRK-Klinikums, das weitläufig glänzt und auf dem Skulpturen wie gefroren stehen. Weiter gehts hinauf den Spandauer Damm, vorbei an Myriaden von Kleingärten, die alle hinab den Hang Richtung Spree hängen. Auf Schildern verteidigen sie ihre Existenz. Jetzt bist du oben auf dem hohen Plateau des Teltow. An der Bushaltestelle Meiningenallee hat eine Amsel ihre letzte Ruhe gefunden. Du wanderst in den Ruhwaldpark, der prächtig und Fragen aufwerfend leer ist. Ein Alter sitzt auf einer Bank, den Rollator neben sich. Eine Alte geht. Eine dreiköpfige Familie spielt auf dem Spielplatz, dir erscheint sie einsam. Von der Spree kommt ein einzelner Mann den Schlangenweg herauf, mit hängender Zunge, 12% Steigung. Dein Blick wandert über Spandau hinweg ins Havelland. Die alte Villa, einst eines reichen Industriellen privates Domizil, ist heute eine Kindertagesstätte. Über die Bolivarallee, die voller Platanen steht, gelangst du zum Steubenplatz in Neu-Westend. Die Reichsstraße kommt vom Theodor-Heuss-Platz her. Maniküren, Pediküren, Schönheitssalons, Juweliere und Bestattungshäuser, so weit das Auge reicht. Du betrittst das Wiener Cafehaus und trinkst eine große Flasche Vösslauer Wassers, nimmst einen flüssigen Teil Österreichs in dich auf. Die Portion Bandnudeln mit Pfifferlingen ist allerdings unbezwingbar groß, für gut und gerne zwei Leute; oder verlangt des gemeinen Westenders Bauch nach solchen Mengen? Das Cafe wird üblicherweise von den betagteren Bürgern des Westends besucht, heute aber sitzen einige tätowierte Fans der Dröhnrock-Kapelle „Rammstein“ bei Kaffee und Kuchen, aber bitte mit Sahne, hier, um sich für das abendliche Konzert im nahen Olympiastadion zu stärken. Auf einem Fan-Unterhemd steht auf der Vorderseite „Manche führen“ und auf der Rückseite: „Manche folgen“; und später siehst du, daß viele der Anhänger das gleiche Unterhemd tragen. Ob die wohl selber führen oder selber folgen? „Führer, befiehl, wir folgen“, soll da womöglich, bewußt ironisch, oder doch vielleicht unbewußt ernst, mit anklingen? Führen und folgen, an sich zwei dich ansprechende Zeitworte. Dein Leben sollst du ernsthaft führen, wie du auch dich selber von Herzen ernst nimmst. Und wenn du dich ernst nimmst, dann folgst du auch den von dir als vernünftig erkannten Gesetzen. Dein Müssen ist dein Wollen. Das Logo der Kapelle, auf jedem Unterhemd zu sehen, erinnert dich an das Hakenkreuz. Auch die feuerspeienden Elemente ihrer Bühnenshow erinnern, jenseits ihres kindischen Wesens, das ihnen in deinen Augen innewohnt, an eine faschistoide Ästhetik, und der mögliche Rückverweis auf das fatale Düsenjet-Unglück bei der Air Show in Ramstein 1988, mit Toten und Verletzten, ist ungut. Neben dich setzt sich eine fünfundvierzigjährige „Rammstein“-Konzertgängerin und verdrückt, dich anlächelnd, ihre Sahnetorte. Es ist ihr erstes „Rammstein“-Konzert, sie scheint selig. Über die Olympische Straße gehst du hinab und hinauf zum Stadion. Die Fans sind erstaunlich ruhig, fast traurig, im Schatten der Saumbäume liegend, anders als die grölenden Fußballfangruppen, die hier ansonsten Richtung Ostkurve ziehen. Eine jugendliche flachsblonde Frau sitzt im Rollstuhl. Es weht Wind, es ist warm, am Himmel ein Feld von vanilleeisgelben Cumuluswolken. An Pollern haben Flaschensammler große Tragetaschen von Rewe, Kaufland und Edeka mit der Schlaufe befestigt mit offenem Maul für die herantreibenden Pfandflaschen. Du schwimmst eine Runde im olympischen Schwimmbecken, dessen Tribünen derzeit von einem Renovierungsgerüst eingehaust sind. Vom Olympiastadion her weht der Sprechgesang des Kapellenführers bei der Tonprobe mit noch nicht voll aufgedrehten Boxen. Ein jugendlicher Kerl schlunzt vor dir ins Wasser und verwandelt es in eine Brühe, du ziehst es vor, das Becken zu verlassen; doch schlunzt schon der nächste vor dir auf den Boden und macht Boxbewegungen dazu. Die für die Sicherheit abgestellten Männer und auch die Bademeister scheinen es nicht zu sehen, obschon nahebei. Hier wirst du deines Lebens nicht froh. Schade um das schöne 50-m-Becken. Draußen auf dem Olympischen Platz hat der Einlaß begonnen. Eine Familie mit ihren sechs- und achtjährigen Kindern wandert hinein. Das Alter der Fans liegt in der Regel bei dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig Jahren. Die meisten tragen irgendwelche „Rammstein“-Unterhemden, und du rechnest hoch, wie viel man mit solchen Nebenprodukten doch verdienen kann. Neben paar ausländischen Vokalen aus Skandinavien und Frankreich hörst du allein deutsche Töne. Das Volk hier und das im Schwimmstadion scheinen nichts miteinander gemein zu haben. Schließlich hörst du auch österreichische und sogar hebräische Töne. Großeltern kommen mit ihren Enkeln. Ein Paar erscheint mit seinen Baby-Zwillingen - und dir ist, als täte sich hier der Schlund der Hölle auf. Du ziehst weiter durch das Sportforum-Gelände mit seinen leeren Sportanlagen, die in ihrem jetzt wie großzügigen Nichts auf dich einen dich befreienden Eindruck machen. Vorbei am Waldstadion und am Glockenturm. Unten in der Glockenturmstraße xy siehst du zwei alte Menschen auf dem Boden einer Einfahrt liegen, zwei, drei andere Menschen sind bei ihnen und helfen ihnen. Du trittst dazu, die Frau schreit wie am Spieß, während der Mann im eigenen Blut liegt. Man bittet dich, den Rettungswagen zu rufen, und noch ehe du am Telefon deinen Namen sagen kannst, fragt die Gegenseite: „Wo ist die Unfallstelle?“ und belehrt dich: Er stelle die Fragen, du sollest nur antworten. Weil die offenbar demente Frau panisch besorgt um ihren sie umsorgenden Mann ist, streichelst du sie und beruhigst sie und sagst, es sei nichts passiert und alles werde wieder gut. Offenbar ist der Mann gestolpert und hat die an seinem Arm geführte Frau mit sich heruntergerissen, während er mit seinem Kopf auf die Bordsteinkante zusteuerte. Die Haut der Frau ist glasig, sie wird über neunzig sein. Es dauert, bis der Krankenwagen kommt, zwanzig Minuten, schließlich biegt er unten aus der Heerstraße mit eingeschaltetem Blaulicht ein, hält dort aber an und fragt Passanten nach dem Weg, während du mit den Armen Halbkreise wischst und ihm winkst, er müsse noch ein paar hundert Meter fahren. In deinem Rücken stauen sich die Autos, bis schließlich der Wagen in die Einfahrt rollt. Die beiden Sanitäter steigen aus, und aus irgendeinem Grund beginnen die Sanitäterin und die Ersthelfer miteinander ukrainisch zu sprechen. Woher wußten sie, daß die Sanitäterin Ukrainerin ist? Eine alte Nachbarin kommt von der Havel hoch und erzählt in fröhlichem Hochallgäuerisch - so erschien es dir -, daß sie die beiden schon seit Jahrzehnten aus dem Segelclub kenne und daß die Frau ohne ihren Mann völlig „aufgschmissa wärr“. Weil der Mann bei dem Sturz auch seine künstliche Hüftpfanne womöglich beschädigt hat, muß er zur Überprüfung in die Klinik, und du sagst der alten Frau, daß sie jetzt mit ihrem Mann einen kleinen Ausflug in die Klinik machen dürfe und daß sie heute abend bestimmt gemeinsam wieder zuhause sein werden, du hoffst das jedenfalls, und ziehst weiter deines Weges, ziehst hinab zur Havel und grüßt sie in ihrem hier verschlungenen Bett mit ihren Seitenarmen und Seitenbuchten, grüßt den Stößchensee, und kehrst um zurück hinauf auf das Plateau des Teltow. Der seeglänzende Waldfriedhof Heerstraße idyllisch, etliche Ehrengräber hier, du grüßt Großcurth, grüßt Loriot, angeblich liegt hier auch Ringelnatz, aber du fürchtest, nicht mehr rechtzeitig hinauszugelangen, und ziehst lieber weiter, gehst in die Westend-Klause, Ringelnatz' Stammbierkneipe, und die ist dir doch lieber als das Grab. Plötzlich, Schlag 20 Uhr, umgreift dich ein markerschütterndes Dröhnen, hörst du einen Mordsknall, daß du fürchtest, die Welt gehe unter. Aber die anderen Gäste haben die Ruhe weg und reden fröhlich weiter. Beginnt jetzt etwa das Konzert? Das willst du näher wissen und gehst wieder die Olympische Straße hinunter zum Olympischen Platz. Tatsächlich, es ist das Konzert. Offenbar gehört die an Haut und Haaren spürbare Ton-Gewalt zum Geheimnis solcher Live-Konzerte. Während die Berliner Straßenreinigung Tausende von Plastikbechern zu großen Schneehaufen zusammenkehrt, haben außerhalb des Stadions kartenlose Konzertgänger Picknickdecken ausgebreitet und lauschen und singen mit. Die Sonne geht langsam unter, vom monotonen Dröhnen des Mannes an der Rampe untermalt. Der Blick reicht bis zur Bühne, an der Feuersäulen aufschießen. Schäfchenwolken ziehen rosa gen Westen, während du nach Osten dem Ende des Tages entgegen ziehst. 16.7.2023
WEDDING Nachmittags kommst du auf dem Urnenfriedhof Seestraße ans Mahnmal für die Opfer des Aufstands vom 17. Juni 1953 in der DDR. Du stehst an den Gräbern von elf in Berlin getöteten Demonstranten. Kränze der Staatsspitze wie auch einzelner Fraktionen wurden abgelegt. Die Bundestagsfraktion der Partei „Die Linke“ hat keinen Kranz ablegen lassen. Die Staats- und Stadtoberen waren gerade noch anwesend. Jetzt bauen die Veranstaltungstechniker schon wieder alles ab. Nahebei befindet sich das Denkmal zu Ehren der Opfer des Faschismus in aller Welt - „des Faschismus in aller Welt“: eine dir zumindest erklärungsbedürftig anmutende Formulierung; daneben liegt benutztes Spritzbesteck für eine harte Droge im Gras. Kaninchen wuseln. Ein orangefarbenes Wolkengebirge taucht am östlichen Horizont der Oudenarder Straße neben den ehemaligen Osram-Höfen auf, als hätten die ausgemusterten Glühbirnen dort ihren Himmel gefunden. Die Sonne kommt hervor, und das Pflaster dampft nach dem Regen. Es ist halb fünf. Ein im Landeanflug gen Schönefeld befindlicher Flieger dröhnt über dir nach Osten. „Zweitregen“ fällt, wenn ein Windstoß den in den Bäumen noch haftenden ersten Tropfenstoß löst und dich damit beehrt. „Gartenarbeitsschule Wedding“. Louise-Schroeder-Platz, Weite und Himmel, ein Paar, wie es im Wedding mit seinen breiten Avenuen oft zu sehen ist. An den Kopfseiten der Wohnhäuser der Seestraße stehen riesige Zitate aus den Dramen Schillers sowie seine ebenso große Unterschrift. Lieber Herr Medicus Schiller, im Wedding kann man Sie an den Wänden lesen und dabei gesunden. Hauswände als Reclam-Bändchen. Der Bootsverleih am Plötzensee hat ein Holzstegcafe, das von jüngeren Paaren, Männern vor allem, gut besucht ist. Ein Schwan startet vom Ufer los Richtung Seemitte. Musik dröhnt vom Strandbad herüber. Eine Stieleiche läßt sich nördlich des Sees bewundern. Die große Wiese ist verdorrt. Stadion Rehberge. Auf den Tennisplätzen des Berliner Tennisclubs Rot-Gold wird gespielt, und die Tennisbälle klacken. Das Freiluftkino Rehberge erinnert mit seinem gelb gestrichenen Eingangsgebäude an ein österreichisch-ungarisches Domizil der seligen oder auch nicht seligen kakanischen Époque. Gaststätte Schatulle, in dessen Schanigarten eingefallene Menschen stumm vor ihren wohl schon schalen Trinkgläsern schlafen. Im Sperlingsee quaken fordernd Frösche. Der benachbarte Möwensee hingegen ist still und sein Spiegel ist so glatt wie nur ein Spiegel glatt sein kann. Das Schild „Nachtigalplatz“ ist durchgestrichen, jetzt heißt er Manga-Bell-Platz. Die Statue of limitations, eine scheinbar aus dem Boden wachsende Skulptur, ein aus Bronze geformter Fahnenmast mit Trauerbeflaggung, deren untere Hälfte im Berliner Humboldt-Forum im Treppenhaus seinen Anfang nimmt, um hier, im sogenannten Afrikanischen Viertel, zu enden, errichtet im Jahr 2022 von Kang Sunkoo. Das Restaurant Zagreb am Rande erinnert an die spinnwebenalte Bundesrepublik, die hier noch im Rauchwind hustet. Ein geparktes Auto kommt dem Nummernschild nach aus Schwäbisch Gmünd, wo Peter Ustinov mit Weihwasser übergossen wurde, wie auch du, ohne vorher gefragt zu werden, was freilich nicht ging, da ihr beide Säuglinge ward, freilich nicht zur gleichen Zeit. Die rauchenden Rehberge mit ihren immerfort singenden Vögeln muten dir tropisch an. Die Rehbergewegbrücke, dich elegant überquerend, ehe du die Bronzeskulptur zweier nackter Ringer vor der großen abfallenden Wiese bewunderst. Das verfallene Parkcafe hat derzeit zu. Den Carl-Leid-Weg, benannt nach Carl Leid, während dessen Amtsführung der Park von 1921 bis 1933 angelegt wurde, tanzt du müde bis an sein Ende am Rathenau-Brunnen, Emil steht links und Walther rechts, doch es fließt kein Wasser. Das Rodelbahngras ist vergilbt. Du gehst weiter. Im nahen Goethepark wurde das Goethe-Denkmal beschmiert: Der gesprayte Text auf dem Stein lautet, sofern entzifferbar: „Fuck H[?] Cis-Men“. Auch wurde Goethes Gesicht mit weißer Farbe getüncht. Doch Goethe erwidert: „Mir ist nicht bange, daß Deutschland nicht eins werde, vor allem aber sei es eins in Liebe untereinander.“ Seine schwungvolle, in den Stein gemeißelte Unterschrift darunter folgt mit den beiden abgekürzten Vornamen: JWvGoethe. Er blickt aus dem Stein heraus wie aus einem Fenster, und das ist nicht unkomisch. Der Park ist sich selbst überlassen, verfällt vor sich hin. Im oberen, zugewucherten Teil liegt ein junger Mann friedlich-weggetreten auf einer zerbröckelnden Mauer, die schon halb zugewachsen ist. Es ist, als sollte er selber auch zuwachsen, einem männlichen Dornröschen gleich. Auf den Grasmatten des Rodelhängchens blitzt der Sand. Eine einsame Schöne liegt neben ihrem lindengrünen Rad in der Wiese, sich sonnend, und ihre Augen blitzen auf, als sie dich kommen sieht. „Junger Mann, welcher Weg führt dich zu mir? Willst du dich hier setzen zum Plaisir? Erfahren den Beleg, daß du lebst und webst? Im Park von Goethe erklinge dir die Zauberflöte. Komm her mein Schatz und finde deinen dir bestimmten Platz.“ 17.6.2023
CHARLOTTENBURG Dieses Mal mußt du nicht klettern am Eingang zum Schloßpark, das Tor an der Spreebrücke steht weit offen. Wann war nur dein letzter Besuch? „Vor Corona!“, diese Pandemiefurie, sie hat Jahre verschlungen und das, was vorher war, in fast graue Vorzeit entrückt. Es war Winter damals, eisige Nacht, Schnee glitzerte, Astrid Defauw und du, ihr klettert an der Spreebrücke über das verschlossene Tor in den Park. Unmittelbar das Aufatmen, als ihr drin seid, die Freude, auf den verschneiten Wegen alleine gemeinsam bis ins Nirgendwo zu gehen. Als ihr ans Ufer des zugefrorenen Sees kommt, geht ihr auf ihm weiter. Und als wäre es das naheliegende, beginnt ihr zu tanzen, bringt das Eis zum Singen. Nachtmusik, dämonisch, mit zum Zerreißen gespannten, aus der Unterwelt kommenden Tönen. Jetzt ist es ein brillanter Junivormittag, der Park im guten Sinn pflanzlich barock überladen, zugewachsen, verschlungen, die blühenden Holunder verwellen ihre süßlichen, aufreizenden Noten, die Brombeeren blühen, auf der Liegewiese baden die Nixen, in endlosem Tanz der Moleküle, dünnhäutig der Sonne ergeben, dem sie streichelnden Wind zugetan. Hoch im Himmel tanzen Cirren federleicht. Auf den enggewordenen Wegen, mit ihren hohen hereinhängenden, hereinwehenden Gräsern und den beladenen Zweigen, verlierst du dich, ehe du dich versiehst. Doch auf dem am Saum des Parks verlaufenden Weg, auf den du stößt, drehen keuchende, schwitzende Läufer ihre sonntägliche sportliche Runde, ohne je sich zu verlaufen. Lieber kehrst du zurück ins Innere des Parks, und da kommst du, am Ende eines dunklen Tannengangs, zum Mausoleum, und du gehst geradewegs hinein und bist erstaunt, es sei dies nicht nur ein museales Gebäude, sondern es hätten hier wirklich einstige bekrönte Herrscher ihre letzte Ruhe gefunden. Die unvermutete Nähe zu Gebeinen einstiger lebender Menschen rührt dich durchaus. Aber daß du hier dem einstigen ersten deutschen Kaiser so nahe bist, läßt dich merkwürdig kalt. Sollte dein Gefühl repräsentativ sein, hieße das wohl, es sei die Verbindung des Volkes zu seinen einstigen herrschenden Häusern gekappt, ohne Bedauern, wenn sie denn je bestanden hat. Ein Diederich Heßling, Hauptfigur in Heinrich Manns Roman „Der Untertan“, ist in der Form heute nicht mehr denkbar oder zumindest nicht im Hinblick auf jenes einst regierende Haus. Du stehst lange ungläubig an Christian Daniel Rauchs Skulptur der jung verstorbenen Königin Luise, die „ruhend“ tot daliegt und frühlingsgleich weibliche Sinnlichkeit ausstrahlt, elegant geschmeidig. Ihren wie hingegossenen Überwurf und die sich darunter abzeichnenden figuralen Formen, mit den scheinbar durch den weißen Stoff hindurchschimmernden Brüsten, hat Rauch in dezent filigraner Anmut aus dem Marmor gehoben. Du verläßt den kalten Raum und gehst weiter, dich in der Hitze aufzuwärmen. Auf einem eingezäunten Stück Wiese haben sich Schafe unter fünf Schatten spendenden Bäumen versammelt. Ein Schäfer erklärt einer Gruppe junger Familien, wie seine Hunde Judy und Jenny die Herde zusammenhalten können, ehe sie auf die Weide gehen, und Judy bekommt die Aufgabe, die Schafe alle heranzutreiben. Sie flitzt durchs hohe Gras und umkreist und umgrenzt die Tiere, die alle eiligst zum Schäfer preschen und sich dort um ihn und seine menschliche Herde versammeln. Wenn im Christentum die Rede geht, der Pastor, der Hirte, kümmere sich um das Seelenheil der ihm anvertrauten Gläubigen, seiner „Schäfchen“, mag hier, auf der Weide, die Frage naheliegen, ob er auch Schäferhunde hatte oder gerne hätte? Suchten nicht die Inquisitoren, gleich Schäferhunden, jene scheinbar herätisch sich von der Herde absondernden Schafe wieder auf den richtigen Weg zu zwingen? Und gibt es nicht auch in einem säkularen Staat bellende Hunde und sonstige Schnüffelnasen, die sich um jene kümmern, die scheinbar die Grundordnung der gesellschaftlichen Herde zu verlassen drohen? Der Schäfer und seine Assistentin verteilen an die Kinder Knäckebrot, das sie an die Schafe verfüttern dürfen. Haben sie keines mehr, sollen sie die Hände in die Luft strecken, damit die Schafe sehen, hier sei nichts mehr zu holen. Gleichwohl bedrängen einzelne Schafe auch die knäckebrotlosen Kinder, und ein Mädchen schreit wie am Spieß aus Furcht vor einem es bedrängenden Schaf, „Mama!“, und es versucht, sich zwischen den Beinen der Angerufenen zu vergraben, und diese errettet es durch Hochheben und sucht, es zu beruhigen. Lämmer erkennen angeblich ihre Mütter durch die Stimme und durch den Geruch. Das ewige Mähen. Daher kommt, wird dir bewußt, offenbar der Ausdruck für das Rasenmähen. Wenn der Mensch den Rasen mäht, setzt er den maschinellen Ersatz für das Schaf ein. Mährobotor sind Robotorschafe. Schere man das Fell des Muttertiers, fehle ihm der Geruch, und das Lamm brauche ein, zwei Stunden, bis es die Mutter wiedererschnuppere. Die Kinder dürfen ein paar Muttertieren das Fell vorsichtig abkämmen und die so gewonnene Wolle mit nach Hause nehmen. Auf dem Weißen Berg sonnt sich ein Mann nackt und liest ein Buch. Von der gewölbten Brücke nahe dem Belvedere ist der Blick zum Schloß heiter. Am Westufer des Sees blühen rosa und weiße Seerosen. Wilder Weizen wächst am Ufer, im Winde wehend. Blaue Libellen fliegen. Butterblumen blühen. Cumuluswolken bilden sich. Touristen gehen in Zeitlupe in der Hitze. Eine junge Frau im weißen Kleid, mit langen, offenen, roten Haaren, läßt sich am Fließufer photographieren und hat die Hoffnung im Blick. Gleichzeitig findet, auf der südlichen Seite des Schlosses, auf der auf das Schloß zulaufenden Schloßstraße, ein Kunsthandwerkmarkt statt, dessen gepflegte Verkäuferinnen jenseits der Fünfzig in der mittlerweile brennenden Hitze zerknittert die Contenance zu wahren suchen, indessen der Gehweg von Linden klebrig ist. Es ist, als sollte alles zum Stillstand kommen, und du kehrst lieber zurück in den Schloßpark und legst dich nahe dem Ufer des Sees ins Gras und träumst von einem Tanz über das Eis und von einem Singen, das aus den schattierenden Weiden tönt. 11.6.2023
FRANZÖSISCH BUCHHOLZ Warten auf Erleuchtung in Französisch Buchholz, denkst du, als dir in Französisch Buchholz nichts dich bewegendes in den Sinn kommen will. Es ist, als hätte dieses alte, in deinen Augen versunkene Dorf, mit seinem Anger, seiner Hängebuche, der Hugenottenplastik, der stolzen Kirche, dem gelben Kossätenhof und mit der Restauration Zum Eisernen Gustav und deren Gastgarten, in dem eine Kutsche steht, Gegenstand von Spinnennetzen, dich ruhiggestellt. Das ist dir schon auf dem Friedhof so gegangen, wo du dem Geheimnis der Hugenotten wenigstens auf den Grabsteinen auf die Schliche kommen wolltest. Kaum betratest du den Knochenacker, war dir friedlich zumute. In Französisch Buchholz atmet eine Gelassenheit, die sich auf dich überträgt. Warum überhaupt den Friedhof verlassen? Leere Wiesenstücke zwischen den Gräbern, violett blühende Rhododendrenbüsche, fünf oder sechs, weit voneinander verteilte Angehörige, die nach außen schweigend als Gärtner der Erinnerung, des Andenkens an ihre Lieben, dir erscheinen, vertiefen nur die dich beruhigende Stimmung. Die Vögel tirilieren entspannt, kein aufgekratztes Zwitschern. Auf den Wegen bilden Ameisen kleine Sandhäufchen, in deren Öffnungen sie verschwinden und aus denen sie hervorkommen, geschäftig wie sechsbeinige Charlie Chaplins. Auch der Name von Erdmute Grün, vor hundert Jahren geboren, vor vierzehn verstorben, mutet dir entspannt, fast fröhlich an. Von den Windmühlen ist nur mehr die Mühlenstraße übrig, während dienstags von 16 bis 17 Uhr im Evangelischen Gemeindehaus die „Kirchenmäuse“ umhertollen, von zwei bis sechs Jahren, ohne je arm zu werden. Von einem Schild herunter spricht eine höchste Stimme die Autofahrer der Hauptstraße an: „Ich halte dich. -Gott“. Ein großer Findling im Anger liegt da wie der versteinerte Zeuge einer Zeit, in der das Suchen noch nicht erfunden war. Ein paar stattliche Gebäude in der Hauptstraße künden von einem Alter des Prosperierens, „erbaut 1867“, „erbaut 1876“. Schadow hatte 1790 bis 1802 hier Wohnhaus und Besitzungen. Im aufgelassenen Hof von Nummer 41 wachsen im hohen Gras des Vorgartens blaßgelbe und lila Orchideen und rote Rosen. Opel Kramm verkauft nicht nur Opel, sondern auch Cadillacs und Dodge-Ram-Riesen mit offener Ladefläche, auf der man zwei, drei „Trabis“, die sozialistischen Kraftwagen-Trabanten, spielend abstellen könnte. An der Kirche und am Gasthaus haben sie in den Fünfzigern Aspekte des Films „Der eiserne Gustav“ mit Heinz Rühmann in Szene gesetzt. Der Gustav war der Kutscher, der aus Protest gegen das Aufkommen von motorisierten Droschken von Wannsee nach Paris fuhr, selber aber nie in Französisch Buchholz war. Gustav Theodor Andreas Hartmann, wie der gute Mann hieß, geboren am 4. Juni 1859 in Magdeburg, gelangte vom 2. April bis 4. Juni 1928 mit seiner Kutsche, gezogen vom Wallach „Grasmus“, an sein freilich vergebliches Ziel und wurde so, als Protestant, zu einer europäischen Berühmtheit. Im Garten ist es noch still, eine Festtafel wird abgeräumt, ansonsten kehren zwei Großeltern mit ihrer Enkelin von Rügen zurück und klagen, wie viel losgewesen sei, im Gegensatz zu hier, Französisch Buchholz; ein Pärchen, Mann und Frau, beide tätowiert, sitzt still am Rande. Nachher stehen die beiden auf und entpuppen sich als Mitarbeiter des Hauses. Zwei betagte Elektroradlerinnen setzen sich mitsamt Helmen in die pralle Sonne und knöpfen sich mit kräftigen Schlücken große Radler vor. Und dann ist da noch einer, an der Wand des Hauses, auch in der prallen Sonne, schwarze Hose, schwarzes Unterhemd, ein blaues Jäckchen, die halblangen, grauen Haare zurückgekämmt, auf dem Gesicht eine Sonnenbrille, dem Typ nach ein Walter Sittler, groß und schlank, sitzt lächelnd da, auf dem Tisch ein Bier im Steingutkrug. Dich wundert, daß er nicht platzt in dieser ihn ungehindert anknallenden Sonne, aber erfreust dich an seiner weltgewandten, eleganten Dämonie, die er ausstrahlt, und als du wieder von den Notizen aufblickst, ist er vom Erdboden verschluckt, von den Luft-Photonen aufgelöst und verstrahlt. Gegenüber dem großen, weitläufigen Platz, der freilich kein Platz ist, aber auf dich wie ein solcher wirkt und über den sogar die Hauptstraße mit ihrem hier allerdings dich aufmunternden Verkehr verläuft, wartet das Ki-Dojo auf Unterricht in asiatischen Künsten. Indes ist die Kirchturmuhr stehengeblieben; was sie anzeigt, ist die Ewigkeit, die kein Laufen kennt. Alle zehn Minuten biegt die Tram Nummer 50 über den Platz Richtung Virchow-Klinikum im Westen einerseits und Richtung Guyotstraße andererseits. Es ist heiß, die Linden vor der Kirche rauschen. Ameisen flitzen die Stützbalken der Gastgarten-Pergola hinauf und hinunter, und dir ist schleierhaft, was diese Tiere wissen, warum sie wie mit letzter, doch unversieglicher Kraft die Balken hinauf- und hinuntereilen, mit dem inneren Kompaß, der ihnen den Sinn verrät. An einen Vierertisch setzen sich vier Buchholzer, zwei Männer, zwei Frauen, rauchen, und die Damen sind vorzeitig gealtert. Ein Zimmermann parkiert seinen schicken Mercedes-Sportwagen vor dem Garten und umarmt beim Hereinkommen den langjährigen Ober. Wartend auf Erleuchtung, beleuchtet die mittlerweile tief gesunkene Sonne dich so sehr, daß du dich aufmachst, ihren Fängen zu entgehen. Neben dem Haus Nummer 19 flirrt eine verwaiste, prächtige Eiche, die auch schon jene Genossen der DDR-, der Nazi-, der Weimarer republikanischen und der monarchischen Preußen-Zeit hier gesehen haben müssen, in unterschiedlichen Größen, und auf der Fensterbank innen sitzen zwei Perserkatzen, die hinauswollen und sehnsüchtig die Bewegungen auf der Straße beobachten. Sie sind gefangen, man läßt sie nicht aus der Herrschaft des Muschi-Regimes entkommen. Schöneres Leben verspricht der Seniorenpark Bismarck gegenüber, über dessen menschenleeren Rasen allein ein Mähroboter seine Runden zieht. Ein steinummauertes Bassin wirft Rätsel auf, es ist kein Aquarium, kein Pool, es ist lediglich ein Wasserbecken, das durch Schönheit glänzt und in ihr seinen Himmel findet. 26.5.2023
HEINERSDORF Im Paradies, der Vorhalle vom „Kaufland“ in der Romain-Rolland-Straße, schweben die Kunden vom unterirdischen Parkdeck herauf, die Einkaufswagen vor sich. Beim Bäcker sitzen Philemon und Baucis am Cafetisch, geschafft nach dem langen Gang durch die Windungen der Warenwelt, den vollgepackten Wagen neben sich, und laben sich am trockenen Stück Zwetschgenkuchen und schlürfen eine Tasse versahnten Filterkaffees. Es scheint, als könnte dieser Moment der Höhepunkt ihres Tages sein: gemeinsam bei Kaffee und Kuchen beisammen sitzen und froh sein, einander noch zu haben, die Lebensmittel neben sich. Im verglasten Reisebüro nebenan sitzt ein weiteres Pärchen und bucht vielleicht den Pauschalurlaub auf die paradiesische Insel, denn ob es nach dem Tod noch ins Paradies kommt, glaubt es unter Umständen nicht, dann lieber zu Lebzeiten das Paradies auf Erden. Du verläßt das „Kaufland“, des Volkes wahrer Himmel, und gehst entlang der Romain-Rolland-Straße in Richtung der früheren Mitte, als Krug und Kirche noch nicht vom Verkehr überrollt wurden. In der Alten Feuerwache, im Haus Ingrid, residiert die Tagespflege. Gegenüber steht ein verlassenes, verfallendes Haus. Zwanzig Meter weiter kommt noch ein solches, gleichfalls ansprechendes Juwel, dieses aber ist eingerüstet und wird restauriert. Ein drittes auf der rechten Seite, Haus Nr. 52, verfällt gleichfalls, auf seiner Treppe wächst ein im Wind raschelndes Birkchen, und die blaue Farbe des Türblatts blättert ab. Überm Eingang ist ein großes M angebracht. Am Haus daneben ist ein altes Schild befestigt, auf dem „Kirchenkasse“ steht. Du gehst in den verlassenen Hof und bewunderst eine uralte Linde. Alles scheint verlassen, verfallen. Doch das Ensemble Nr. 53 ist eingerüstet. Im Hof von Nr. 54 siehst du überm Eingang des Portals einen die Flügel ausbreitenden Engel und den Ruf „Hosianna“. Neben der Kirche der „Wiesenfriedhof“, alles ist zugewachsen, ungepflegt, ein Eisenkreuz ist abgebrochen, es steht nur noch die untere Hälfte, du liest die Worte „Ruhe sanft.“. Der Friedhof auf der anderen Kirchenseite ist jedoch gepflegt, eine Tafel-Ausstellung informiert über die Geschichte des Dorfs, und eine Holzbank lädt zum Ausruhen ein, wenn du auch hier schon des Verkehrs wegen kaum deine Ruhe weghaben könntest. Am Cafe „Friedrich & Fritz“ räumt die Betreiberin gerade Stühle und Tische zusammen und hält mit den Nachbarn, einer jungen Familie, feierabendlichen Schnack. „Ciao, Franzi, dir noch 'n schönen Abend!“ - „Danke, euch auch!“ Die Mitglieder des Motorradclubs „Born to be wild“ haben offenbar den zivilisierenden Erziehungsprozeß boykottiert und bleiben lieber Rasende auf zweirädrigen Geschossen. Weiße Pfeile an den Hauswänden weisen den Weg zum nächsten Bunker, so am Haus Nr. 96, die sind ein Überbleibsel vom Zweiten Weltkrieg, aber womöglich bald wieder zu gebrauchen, jedenfalls sieht man diese Pfeile jetzt nicht mehr als historisches Überbleibsel an, sondern als möglicherweise bald wieder aktuelle Notwendigkeit. Die Einschußlöcher der Rotarmisten aus den letzten Kriegstagen sind sichtbar geflickt. Der Briefkasten wird täglich um 16 Uhr geleert. Die Freiwillige Feuerwache nimmt Kinder und Jugendliche auf. Im Nachbarschaftshaus „Alte Apotheke“ schwingen ältere Damen den Aquarellierpinsel und schweigen. Die Tram M2 hat da ihre Endhaltestelle, und die Wendeschleife umrundet eine Wiese, auf der sich das Volk, das bürgerliche wie das christliche, versammelt, so auch an Christi Himmelfahrt übermorgen. Die Bäckerei „Brotschmiede“ hat noch geöffnet und wartet auf Kunden. Auf dem Friedhof lächelt zwischen den Bäumen die Kapelle. An der Anlage mit Gräbern für Kriegsopfer liest du, wie viele Heinersdorfer in den letzten Kriegstagen, jung und mitten im Leben stehend, kurz vor der Kapitulation noch Opfer der „Kampfhandlungen“ wurden, während in der Stadtmitte in seinem Bunker der „Führer“ seine letzten, finsteren Tage verbrachte, ehe er sich der Verantwortung entzog. Du gehst durch stille Seitenstraßen, in denen der Flieder blüht. An einem Laternenpfahl hängt noch ein nach der letzten Wahl vergessenes Plakat der Partei „die Basis“ mit der in den luftleeren Raum gestellten These: „Auf den Zusammenhalt kommt es an“. Es kann freilich falschen oder fatalen Zusammenhalt geben, schon deswegen ist die Aussage sinnlos. Es kommt immer auf die Art des Zusammenhalts an. Wenn in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges irgendwelche „fanatischen“ Werwölfchen noch „zusammenhielten“, so war dies lediglich Zeugnis des Nichtwahrhabenwollens dessen, was die Stunde geschlagen hat. Zurück in der Blankenburger Straße erweckt eine Mischung aus kleinen Wohnhäusern, Läden und Werkstätten die Anmutung von Gerümpel. Am Asia-Imbiß hängt ein Pappkarton, auf dem jemand mit Hand in Schönschrift die Autofahrer darauf hinweist: „Achtung! / keine Durchfahrt / Per sonnen verkehr“. Und du findest, daß jetzt in der abendlich warmen Sonne bei dem weiten Himmel mit Haufenwolken und einzelnen Schichtwolken und dem warmen Wind es hier wahrlich einen Sonnenverkehr gebe, und es sei selbstverständlich, dieser solle nicht gestört werden. Aus dem Heinersdorfer Krug ist mittlerweile die Trattoria Toscana geworden, ohne daß sich landschaftlich hier etwas getan hätte. Das historische „Spritzenhaus“ neben der Kirche. Auch die Kirche ist ein Spritzenhaus, in ihm löscht Gott die Flammen des Zweifels, des endlichen Lebens, allein mit dem guten Wort aus dem Mund des Priesters. Um 18 Uhr läuten die Kirchenglocken. Gegenüber, an der Ecke zur Tino-Schwierzina-Straße, hat ein Wohnungsentrümpler sein zentrales Geschäft. Vom Aida-Park aus betrachtest du den quadratischen, 46 Meter hohen, nie benutzten, zerschossenen Wasserturm, ein Denkmal und Mahnmal, er beherbergte am Ende des Krieges noch eine Flakstellung, an den Wänden sieht man etliche sowjetische Einschußlöcher und größere Wunden. Ganz oben, unterhalb des Geländers, an der schmalen Brüstung, wächst eine Birke. Ein Mädchen spielt alleine auf dem Gehsteig und malt etwas, Kinder sind die van Goghs der Gehsteige. An der Trambahnhalte Am Steinberg steht der Circus Kunterbunt, und in Circussen finden die lustig geschminkten van Goghs ihr trauriges Auskommen. Was wäre ein van Gogh anderes als ein Mensch, der in einem Meer von Farben baden geht und, für eine Weile wenigstens, gesundet? 16.5.2023
WEISSENSEE Die Kastanienallee wölbt sich überweltlich im gedämpften Sonnenschein des späten Mittags. Du wanderst über den Campo Santo der Hebräer, ein Ur-Laubwald, und nicht nur stehn betagte Bäume links und rechts des Wegs; es schießen gleichfalls neue, junge Bäumchen mitten auf den Gräbern hoch. Rehe fänden Äsung hier. Gepflegt wird nichts. Die Steine fallen dem Vergessen stumm anheim, verfallen auch, zerbröckeln. Die umgestürzte Eiche liegt quer auf einem Dutzend Gräbern. Und weiter gehst du, tiefer hinein, und kommst sodann, unvermutet, zu Feldern mit neu geschliffnen, glatten, schmucken Gräbern. Die Schrift auf den Steinen ist oft kyrillisch, die Verstorbenen wanderten, vermutest du, nach Verfall des Sowjet-Paradieses in den Westen aus; da erscheint hinter einem Grab ein Fuchs, der erschrickt, und im Davonstürmen stürzt er fast in das frisch ausgehobne Grab. Um siebzehn Uhr wird die Totenstadt im Wald verschlossen, und du bist weit gegangen, beeilst dich nun, den Weg hinaus zu finden: Du willst nicht eingeschlossen sein, hast kein Begehr, über Zehntausenden Skeletten zu verweilen. Aber die Orientierung hast du verloren. Anders als Hänsel, hast du den Weg nicht mit Bröckchen Brot gezeichnet. Kein Schild weist dich zum Ausgang. Als du, nach langem Hin und Her, den Eingang, mit den blühenden japanischen Kirschen, doch erreichst, findest du die Tür bereits verschlossen. Du betätigst wiederholt die Klinke, vergebens, die Tür bleibt im Schloß. Da hörst du den eilend kieselnden Schritt: noch jemand. Eine Gretel taucht auf. Zugleich erscheint am Pförtnerhäuschen der Pförtner selbst und fragt: „Wer rüttelt an meiner Tür?“, zumindest scheints dir so, er richtete und dichtete diese Worte rhetorisch an dich. Sei dem, wie dem wolle, er ist noch da. Ein Glück! Behend und betend scheints schließt ers Gittertörchen auf und läßt die erleichtert frohen Wiedergänger von Hänsel und Gretel in die Freiheit ziehen, in die Stadt der Lebenden. Strebte der Mensch im Mittelalter abends von der Arbeit auf dem Felde vor der Stadt noch vor dem Schließen des Tores zurück in die Stadt, so möchtest du jetzt vor dem Schließen des Tors der Totenstadt hinaus treten in die Stadt der Lebenden. Friedhöfe lagen doch nicht selten vor der Stadt; die Städte der Lebenden und die der Toten waren getrennt. Beide umgab eine Mauer. Beide hatten wenigstens ein Tor. Und doch waren sie zweierlei. In der Stadt der Lebenden führen die Menschen mit jeder neuen Generation von der Jugend bis ins Alter ihr Leben und erhalten es eben am Leben. Die der Toten hingegen läßt die in ihr aufgenommnen Bürger für immer bleiben. Als Lebender hast du aber in der Totenstadt nichts zu suchen; in ihr hast du bestenfalls etwas zu finden. Aber was? Ein Grab? Eine Erkenntnis? Ja, auch eine solche; zum Beispiel die: Wo du dich aufhältst, mußt du den Weg kennen, den Ausweg. Lebkuchenhäuschen Milchhäuschen. Da landest du. In ihm, dem Milchhäuschen am Ufer des Weißen Sees, möchtest du dich laben nach der Rückkehr aus jener Welt. Doch hat es heute geschlossen. Schade, doch über solche unscheinbaren Widerfahrnisse fährst du gleichgültig hinweg. Ein Zettel am Eingang sagt, die Pächter suchten nach Personal. Es ist dies noch eine Folge der Instrumente zur Eindämmung der Pandemie. An den uferweglichen Laternenpfosten informieren Plakate die Passanten über eine scheinbare Selbstverständlichkeit: „Natürlich braucht die Natur Regeln“. Gemäß Kant ist das Genie jenes Talent, „welches der Kunst die Regeln gibt“, beziehungsweise jene Gemütsanlage, „durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt“ (Kritik der reinen Urteilskraft, Paragraph 46), hier aber geht es nicht um Kunst, sondern um Natur. Die Natur ist nur natürlich oder kann sich nur entfalten, wenn der Mensch sich an die Regeln hält, welche die Grünanlagenpfleger-Genies als die angemessenen erachten. Indes hat die Blindenwohnstätte Weißensee Wohnungen, die den Blick zum Weißen See eröffnen. Im Garten hat der Weg ein ununterbrochenes Geländer, mit dessen Hilfe die Blinden spazieren gehen können. Ein Haus, in dem 1949 Brecht und Weigel wohnten, sieht aus, als verfiele es, doch ist es bewohnt, wer weiß von wem. Gegenüber die Dorfkirche mit der alten Eiche und der alten Kastanie. Neben ihr steht das Mausoleum von Pistorius, aber nicht dem deutschen, quicklebendigen Verteidigungsminister, sondern dem durch Branntweinproduktion reich gewordenen einstigen Brennapparat-Erfinder und Käufer des Weißenseeschen Gutes. Am Rathaus Weißensee verläßt du die Berliner Allee und gehst lieber die Liebermannstraße und dann die Parkstraße hinunter, ehe du in der Pistoriusstraße zum Primo-Levi-Gymnasium kommst. An dessen Front haben Schüler zwei Tücher gehängt, mit der Parole: STOP WAR. Vor dem „Frei-Zeit-Haus“ am Kreuzpfuhl erinnert ein Stein an den „Antifaschisten“ Erich Boltze, der im „KZ“ Sachsenhausen umgekommen ist. Sein Wohnhaus befindet sich nahebei Richtung Mirbachplatz. An diesem lockt die Eisdiele „Eisspatz“ die Kinder an, und die Schwäbische Bäckerei nebenan bietet ihre mutmaßlich schwäbischen Backwaren feil. Daneben befindet sich Nadja Cocozzas Bestattungshaus „Engel“. Du aber machst kehrt und gehst die Max-Steinke-Straße Richtung Antonplatz hinauf und kommst an dem verträumten Häuschen vorbei, in dem die Geigerin Frau Glocke unterm Dach einst wohnte und wo in der Küche das Weinlaub zum Fenster herein schaute, während sie dir den Espresso kochte. Sie wollte mit dir im Kino am Antonplatz noch mal den Film „Gundermann“ anschauen, aber ihr habt es dann verpaßt, wie man im Leben immer vieles verpaßt. Im Kino läuft gerade kein dich ansprechender Film, und so gehst du durch die lange, dich französisch anmutende Langhansstraße, nur um dann an der kurzen Scharnweberstraße zu verwurzeln, denn die läßt dich so den Blick aufschlagen, daß du erst nicht weitergehen kannst. Es handelt sich bei ihr um eine Allee aus japanischen Kirschen, blühend und die Blüten bereits in den Wind werfend, deren Zweige oben fast zusammenwachsen und so ein Blütengewölbe bilden, unter dem zu wandeln einem Hochzeitspaar gut anstünde. Doch die Braut, mit der du jetzt hier schreiten könntest, glänzt noch in Abwesenheit. Du gibst das Wurzeldasein auf und gehst weiter, über die Gustav-Adolf-Straße zur „Brotfabrik“, diesem holzhellen Gasthaus mit den leinwandgroßen Fenstern, durch die jetzt die Abendsonne fällt. Ihr Licht füllt den Raum und läßt ihn geradezu schweben. Mit dem schwebenden Raum schwebst auch du, Raum und du, ihr Zwei, seid schwebend eins, Du-Raum und Raum-Du, ineinander verschwebend jetzt, für den ewigen Augen-Blick. 2.5.2023
BLANKENFELDE Es ist, als wollten die Feldsteine dir wohl in ihrer geschichteten Wärme, übereinander, nebeneinander, den Kirchenbau bildend, hier, auf dem blanken Felde des hohen Barnim. Feldstein-Gewand, Feldstein-Zelt, Feldstein-Schiff für die Gemeinde, in seiner Hut, seinem Sie-Behüten, im Innern, wie unter Deck, sich zu versammeln für die Fahrt durch die Zeit in die Ewigkeit. Ringsum der Totenacker, der Friedhof, auf dem die vom Schiff bereits gefallenen in der Ewigkeit ruhen. Zum Beispiel trittst du ans Grab der Gertrud Kleingeist, eine heute vor 114 Jahren geborene geborene Neuendorf. „Der Herr hats gegeben der Herr hats genommen der Name des Herrn sei gelobt“, aber wie lautet sein zu lobender Name? Ewigkeit? Alles, was aus der Ewigkeit in die Zeit kommt, hat seine Zeit, die vorübergeht, die gezählt ist. Nach dem Countdown kehrt es zurück in die Ewigkeit. Daneben, an der Mauer, befindet sich ein Urnengemeinschaftsgrab, mit der Überschrift „Gemeinsam statt einsam“. Ist das nicht schon kindisch, unfreiwillig komisch, wird es zudem grotesk, da in ihm bislang nur ein Mensch begraben ruht, Ruth Mahlke. Im wärmsten, belebendsten Südwind schwankt eine grapefruitorangenfarbene Plastikgießkanne am Gieskannenständer und boxt immer wieder an die Stange. Du könntest ewig hier auf der Mauer sitzen und dich diesem unübertrefflich glanzvollen Frühlingstag aussetzen. Aber obwohl du die Ruhe weghast, treibt dich eine dir unerreichbare innere Unruhe irgendwann doch weiter. Der Gemeine Löwenzahn und die Purpurrote Taubnessel blühen in Hülle und Fülle. Familie Warmbier schläft in ihrem Grubenfaß. Die Eheleute Sommerfeld ruhen unweit der Familie Weixelbaum. Ein gepflegtes Grab, mit Kreuz aus Holz, erinnert an einen Unbekannten Soldaten. Plötzlich, wie aus dem Nichts, trittst du an dein eigenes Grab. Zeitgleich erschrickst du und empfindest doch ein dich erhebendes, beruhigendes Gefühl. Es stimmt dich geradezu froh, ein so schönes Grab zu haben und zu sehen, alles sei in Ordnung. Nach dem Moment der Verwechslung begreifst du, es sei nicht dein Grab, wenngleich du deinen Namen liest und der Verstorbene das Geburtsjahr mit dir gemeinsam hat. Aber nur dieses. Der scheinbare Doppelgänger ist 1993 in die Grube gefahren, im Wonnemonat Mai, 22 Jahre jung. Du verläßt nun den Friedhof und gehst die Hauptstraße, westwärts, weiter, vorbei an Platanengrundschule, Schwalbennest und einem DDR-schlammgrauen Feuerwehrhaus. Etliche, aus Ziegelsteinen erbaute, einst landwirtschaftliche Höfe öffnen sich, heute schweigen da Autos, wartend auf Reparatur, oder wiehern Pferde in ihren Boxen. Auf dem Kopfsteinpflaster der Straße trommeln die von Lübars her hier durchs Dorf fahrenden Pkws. Der Friseursalon Sabine Stein wirkt auf dich wie die Versteinerung einer längst abgeschnittenen Epoche. Die Magnolienblüten blättern ab, und die Tulpen blühen auf. Am Dorfrand ein Pferdehof mit einem Dutzend frei umherspazierender Pferde, die Wind und Sonne mutmaßlich genießen. Auch Pferde werden den Frühlingswind schätzen, schätzt du. Außerhalb des Dorfs führt ein abzweigender Weg nach Süden an blühenden Kirschen entlang, und der Blick wandert bis zur Kirche von Rosenthal. Weiter entfernt und weiter östlich taucht im blauen Dunst der Fernsehturm auf, der aus der Ferne auf dich stets ein Gefühl des Vertrauten erweckt, des fast Heimat Stiftenden. Du gehst nach Westen weiter und überquerst die Gleise der Heidekrautbahn. Da steht das stattliche Bahnhofsgebäude, heute privat vermietet zum Wohnen. Die Bahn fährt hier nur mehr an Museumstagen. Entlang gehst du an einem Acker, ein Traktorist sät und eggt, und im Mittelgrund fliegt ein roter Pfeildrachen hoch in den Lüften. Du gehst an einer Reihe von freilich schon Blätter tragenden blühenden Weißdornen entlang und liest das Schild, das an das ehemalige, hier befindliche „Krankensammellager“ für „Ostarbeiter“ während der Zeit der Nazi-Herrschaft erinnert. Eine junge, anmutige Radlerin fährt heran, tritt in die Bremsen und fragt, ob sie dir helfen könne, und du wunderst dich über ihren Eindruck, dir sei noch zu helfen. Auf dem ehemaligen Grenzstreifen ist mittlerweile ein Wald gewachsen und erinnert gewollt oder ungewollt an dessen einstigen Verlauf. Wo früher die unpassierbare Grenze war und wo heute die Bahnhofstraße in die Blankenfelder Chaussee übergeht, erinnert, oder würdigt, jetzt halb versteckt im Gebüsch ein Stein an den hier erfolgten „mutigen Grenzdurchbruch am 8. Juni 1990 - ausgeführt von Helmut Qualitz und der Freiwilligen Feuerwehr“. Ein Durchbruch, der einem Pyrrhussieg gleichkommen sollte, denn die Lübarser und die Blankenfelder sind nun den Peitschenschlägen des Durchgangsverkehrs ausgesetzt. An der Kreuzung der Bahnhofstraße mit dem ehemaligen Patrouillenweg der Grenzsoldaten hat sich heute ein Treffplatz für Boliden- und Motorfans etabliert. Zwei beleibte vierzigjährige Männer mit Heavy-Metal-T-Shirts haben es sich auf Campingstühlen bequem gemacht und reparieren ihre Motorroller. An einem überdachten Rastplatz gegenüber hat sich ein junges, arabisches Pärchen niedergelassen, das bodenlange Gewand der Frau ist purpurrot, und sie küßt ihren Jeans tragenden Burschen wie wild, sie feiern heute das Zuckerfest, und sie mag dem ihren als das wahre Zuckerstück erscheinen. Neben dem Rastplatz liegt Unrat, der die beiden aber, in ihrer Zuckerwelt verfangen, nicht zu stören scheint. Nordwärts gehts weiter den steilen Berg hinab ins Tal des Tegeler Fließes. Unter dem Warnschild „Gehwegschäden“ liest du, zum ersten Mal, das Schild „Radwegschäden“. Am Köppchensee, dem ehemaligen Torfstich, krötet eine Erdkröte vor sich hin. Eine Reiherente schwimmt gelassen über den windgeriffelten See. Das Röhricht raschelt. Eine Brücke führt dich über das Tegeler Fließ, und am Wegrand halten drei Frauen einen Schnack, während sie an Seilen ihre nebenher grasenden Pferde halten. Ein Mädchen reitet auf dem Rücken ihres Vaters, der klagend ruft: „Du brauchst mich nicht anzutreiben, ich lauf auch so, ich bin doch kein Büffelpferd!“ Umdrehend siehst du am Wegrand eine etwa ein Meter lange Ringelnatter, die sich im Nu ins Gehölz verkriecht. Und nach wenigen Schritten weiter siehst du noch eine davonblitzen. Das Gehölz ächzt, und die Elektroradler donnern an dir vorbei. Eine Frau in Sportkleidung zischt den Berg herunter und hinterläßt den Duft ihres aufgetragenen Parfüms. Eine feuerrote Mauerbiene nistet im leeren Gehäuse einer Schnecke. Zitronenfalter umflattern dich. Am östlichen, erhöhten Ende des Köppchensees, der Sonne gegenüber, siehst du den im Ostwind jetzt goldgetäfelten Spiegel und fühlst dich flüchtig zeitlos schweben. Ein Fischotter taucht auf und kreist dicht unter der Oberfläche. Schlehenbäume blühen. Du gehst über die Heidekrautbahnbrücke südwärts zurück Richtung Dorf, und im Osten taucht der kahle, heute unbesuchte Bauschuttberg Arkenberge auf, auf dem Modellflieger ansonsten ihre Flugzeuge fliegen lassen. Über einen Weg voller blühender Kirschen und begleitet vom Gesang der Feldlerchen gelangst du zum Dorf. An seinem Rand liegen große Rohre in der Wiese, und die Dörflerin, der du begegnest, weiß nicht, warum die da liegen und wofür. Du gehst die Schildower Straße hinab, und ein junger Feuerwehrmann rennt in Montur an dir vorüber Richtung Wache. Der Briefkasten wird täglich um 13.30 Uhr geleert. Eine ältere Sonnenbrillenfrau in Leggings und mit High Heels erinnert dich mit ihrem Unterkiefer an Klaus Kinski, und als sie die beiden Enkel in den gelben Mercedes-Flitzer eingeladen hat, braust sie mit zurückgedrehtem Fahrersitz auf der staubigen Straße davon. Du überquerst die B 96a und gelangst so in den östlichen Teil der Hauptstraße. Den „Graben 33 Blankenfelde“ grüßt du, dessen Wasser den Nordgrabenfluß mit speist. Im Reiterhof Neuendorf klagt unzufrieden wiehernd ein Schimmel in seiner Box, er will raus, nichts wie raus. Wie gepflegt, anmutig, einladend, zum Teil fast großbürgerlich es in diesem Teil der Straße plötzlich ist. Alte Schmiede, Schützenhaus Patzenhof, Schießsportanlage, ein Kunsthof. In diesem steht eine abstrakte, an Knochen erinnernde Großplastik, auf deren oberen Bogen sich ein winziges Buchenbäumchen niedergelassen hat, das nun winzige Blätter hervortreibt. Du Bäumchen, hättest du dir keinen geeigneteren Grund zum Leben suchen können? Zwei Löschfahrzeuge rollen dröhnend an dir vorbei gen Osten, und im ersten sitzt vorn in der Mitte das Weltenkind, der junge Feuerwehrmann von vorhin. Im Westen sinkt die Sonne brennend ihrem täglichen Erlöschen entgegen. 21.4.2023
WANNSEE So gehst du hin in stiller Gegenwart am südlichen Ufer des Pohlesees im Wald. Die Sonne schleiert durch die Wolken, und Wind ruft Rillen auf dem See hervor, als wäre er in deiner Phantasie eine leiernde Platte, die vom sich lösenden Zug der Zeit ein Lied zum besten gibt. Ein dahergelaufener Hund stellt sich neben dich und blickt mit hechelndem Lächeln dich erwartungsvoll an. Willst du mit mir gehen? Sein Frauchen spaziert ins Gespräch vertieft mit einer Freundin hinterrücks vorbei, und er setzt sich hin, als würde er wie du dem Liebesspiel der Enten auf dem See ein Auge schenken. Die Stimme der Herrin ruft, aber er guckt nur dich an, als wartete er auf ein Zeichen, um mit fliegenden Fahnen überzulaufen in sein neues Zuhause. Aber dann ruft die Herrin lauter, kommt gar zurück, und nun muß er ziehen, der Hund, und aus dem Augenwinkel wirft er dir einen Gruß oder einen Vorwurf zu. Schade, scheint sein Blick zu sagen, daß du mich nicht mitgenommen, ich hätte dir treu gedient. Wir, ein Team. Doch schon kommt der nächste Hund, der stehenbleibt neben dir, und du siehst dahinter schon wieder einen kommen, jeweils in Begleitung der Gebieter. Du machst selber kehrt, es scheint dich heute das Volk der Hunde als Flucht- und Zielpunkt auserkoren. Von der Alsenbrücke blickst du auf das jetzt in der Sonne matt glitzernde Wasser des Stölpchensee, und vom Ufer siehst du den anmutigen Hang des Dorfes Stolpe mit seinen gereihten Häusern und der dezent im Hang plazierten Kirche. Am Alten Schulhaus hängt ein Zettel der Mittwochsgruppe: „Nach langer Pause...“ - pandemiemaßnahmenbedingt - „trifft sich wieder die Mittwochsgruppe...“ Ein davor über den Zaun gehängtes Plakat der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg- Schlesische Oberlausitz sagt: „Selig sind, die Frieden stiften“. Aber wie stiftet man den Frieden? Sind die Seligen nicht die, die gestorben sind? Die Toten sind das Friedensvolk, unterirdisch versammelt und wachsend. Der Friedhof ist der Friedenshof, die Toten die Höflinge am Hof des Friedens. An der Kirche hat sich ein Paar gefunden, ein Efeu hat sich seit mehr als hundert Jahren, so stehts da, „einem Spitzahorn verbunden“. Neben der Kirche wird bei „Yoga Wannsee“ das Ganzsein des Menschen trainiert. Im Garten klettern die Kinder ins Baumhaus. Am Wilhelmplatz steht eine uralte Eiche, Wahrzeichen des Dorfs. Das Gasthaus zum grünen Baum lädt zu süddeutscher Küche und Meckatzer Bier. Aber dich verdrießen die an der Tür oben fest angebrachten Logos von Bewertungsplattformen im Netz, wo bei katholischen Häusern der Segenswunsch der Sternsinger mit Kreide geschrieben steht. Es ist als sollte hier der Segen dank guter Gästebewertungen erfolgen. Bleibt mir gestohlen. Im Cafe Aux Delices Normandes räumt die Verkäuferin die Gebäcke zusammen, sie schließt um 16h. Unweit der Musikschule Wannsee hat ein Restaurant für immer geschlossen: „Liebe Gäste, wir danken Ihnen für die vielen schönen Jahre und verabschieden uns in die wohlverdiente Rente. Machen Sie es gut. Arrivederci Ihr Ristorante Salina“. „Buch in Wannsee“ träumt sonntäglich mit offenen Augen vor sich hin. Auch das Kinderhaus Wannsee hat heute frei. Der Kunst- und Weinladen glänzt mit Stille. Am Stadion Wannsee steht auf einem Schild: „Achtung Wildschweine! Türen schließen“. Im Hof des Cafes „Mutter Fourage“ sind die Sonnenplätze besetzt, und als du draußen an der Bundesstraße 1 stehst, siehst du einen Meilenstein, der dir sagt: „III Meilen von Berlin“. In der katholischen St. Michaelkirche hat der düstere, dir geradezu Angst einjagende Eingangsbereich geöffnet. Regale ächzen unter ihrer Bücherlast, und darüber, daß niemand sie will, nicht mal kostenlos. Und neben einer Madonna flackern drei Opferkerzen auf einem Treppenkerzen-Tableau. Trotz des sonntäglichen Ausflüglerverkehrs weht von gegenüber, vom über und über blühenden Weißdorn ein dich umwerfender Duft. Und während du dich wieder aufrappelst und du dich fragst, ob wohl das alte Biogemüsepaar noch lebt, das vor lange verflossener Zeit auf dem Steglitzer Wochenmarkt auf dem Hermann-Ehlers-Platz einen Stand betrieb, dann aber plötzlich verschwunden war, und von dem du nur wußtest, es lebe in Wannsee, geht es plötzlich an dir vorbei. Es ist so überraschend, obwohl du an sie gedacht, und ein so großer Zufall, daß du, wie vom Donner gerührt, den Moment nicht ergreifen und es ansprechen und fragen kannst, wie es ihm gehe. Aber du siehst doch, es geht ihm wie eh und je, und es geht offenbar immer noch gemeinsam durchs Leben. Oder willst du hinterhereilen und die beiden ansprechen? Da kommt der Bus angefahren, und wie ein Hund zwischen zwei Leberwürsten, kannst du dich nicht entscheiden; doch als neben dir der Fahrer die Tür öffnet, mußt du wohl nolens volens wie der Hund, dem die Haustür aufgemacht wird, freudig jaulend hineinjagen. Glauben, loben, lieben - die drei sinds, worin du dich wiederfindest. Du glaubst an das Gute, in einem nicht-religiösen Sinn, daß es sich durchsetzen wird, wenn auch vielleicht erst in sehr später Zeit. Wer glaubt, der lobt, und wer glaubt, der liebt. Alles geht sich ein und aus. Frühling ist, und die Menschen blühen auf. So zieht des Lebens Glanz vor deinem Aug vorüber, das Leben ein Ball, ein Tanz, und statt des Ärgers findest du die Freude lieber. 26.03.2023
ROSENTHAL Weit und breit ist nichts zu sehn von einem Tal mit Rosen, aber sicher doch wären in einem von dir noch nicht entdeckten, in einem versteckten Garten einer freundlichen Familie Rosen zu finden, wenn sie auch jetzt freilich noch nicht blühten; aber ein Tal, ein buchstäbliches, findest du hier wahrlich nicht. Gigantenlastwagen rauschen an dir vorbei, der du eingeklemmt auf dem schmalen Bürgersteig des Wilhelmsruher Damms nahe der Hauptstraße an bezäunter Hecke erzitterst vor der fahrenden Felswand neben dir, ohne Fluchtmöglichkeit. Wer tilgt die unsichtbaren Kosten für das logistische Getriebe? Die Hauptstraße bringt von Wilhelmsruh das verheerende Lastenverkehrsheer her. Das rumpelt und dröhnt über die Dorfangerpflasterstraße. In der Mitte die hohe, stolze Kirche von anno Domini 1230. Kleinbetriebe haben sich hier angesiedelt in den aufgelassenen, verlassenen, wie fluchtartig verlassenen Höfen, von Zeitungen und Supermarkt- Reklamezetteln verstopfte Briefkästen zeugen von den Aussiedlungen. KFZ-Reparaturbetriebe sind jetzt da. Und Opel Hinz preist seine Elektroautos an: „Die Zukunft liegt im Blitz.“ Auch wenn die These auf das Markenlogo von Opel und auf das Naturphänomen des Blitzes anspielt, bei dem elektrische Ströme fließen wie auch im Elektroauto, wenn auch da gebändigt, scheint es dir, als läge zwischen Hinz und Heraklit nur ein Schritt. Dieser sang: „Der Blitz steuert alles.“ So schlösse sich jüngste Gegenwart an die älteste an, und der jetzt säkularisierte Heilsgott heißt Strom. Die Offenbarungen Gottes zeigen sich in den Elektroautos. Und so, wie Lübars das Pferdedorf ist, so Rosenthal das der Pferdestärken auf vier Rädern. Doch der Blitz ist auch die Erkenntnis. Im Dunkel jener Nacht, in der der Mensch auch bei Tag gehüllt vor sich hin schläft, hat die blitzartige Erkenntnis ungeahnte Folgen: Was er erkennt, ist die ihn umgebende, in grellstes Licht getauchte wirkliche Landschaft, von der er zuvor nichts geahnt. Er sieht, wo er wirklich ist, was es mit ihm auf sich hat hier, in diesem fremden Land. Wer vom Blitz heimgesucht wird, der erkennt, er war bisher in einer scheinbaren Heimat zuhause. Der Blitz, die Erkenntnis, läßt ihn erst jene Heimstätte sehen, nach der er sich fortan sehnen, die er suchen und finden möchte. Nur der Blitz steuert dich auf deinem Weg in die andere Heimat, in jene Sphäre, die du wirklich bist. Und die ehemaligen Bauernhäuser und Gutshöfe locken nach hinten hinaus mit weitläufigen Gärten, Scheunen, einer versunkenen Welt. Die uralte, mächtige Eiche, vollhängend mit letztjährigem Laub, ragt an der Hauptstraße auf, ein Riese, vor dem der Verkehr über die Schönhauser zur Bundesstraße 96a abtaucht. Baggerlärm umhüllt dich, Bauarbeiter erneuern die Abwasserdruckleitung und das Trinkwassernetz, ohne Wasser kein biologisches und kein zivil-bürgerliches Leben. Das Cafe Zur alten Backstube hat sonntags von 13 bis 17 Uhr geöffnet. Ein Plakat ruft: „Kein Schwerlastverkehr durch Wohngebiete!“ Du siehst Wencke's Haarschneiderei, und die Post wird täglich um 14 Uhr geleert, so stehts am Briefkasten. Die Evangelische Gemeinde verspricht: „Musik löst den Staub des Alltags von der Seele“ und lädt zum gemeinsamen Chorsingen ein. Der neue Aldi-Supermarkt scheint in der Tradition der Formensprache von Mies van der Rohe zu stehen, wenn auch in dunkelroten Backsteinen, der Bau erinnert dich an die Villa Tugendhat in Brünn, in dem vor dem Krieg jenes Kind Ernst lebte, das später zum Philosophen heranwuchs und vor drei Tagen dreiundneunzigjährig in Freiburg die Reise in die Ewige Freiheit angetreten hat. Nebenan bietet der Irem-Imbißstand vegetarische Currywurst an, ein Mann sitzt bierlos auf der Bierbank davor und vertieft sich in den „Tagesspiegel“. Auf dem nahen Spielplatz Friedrich-Engels-Straße Ecke Hauptstraße schaukelt eine Jugendliche besinnungslos, dem Absturz nah. Es ist 13.55 Uhr. Dittmann's Gasthof, seit 1892 am Ort, hat noch zu. Am Nordgrabenweg siehst du ein Gewässer, das dir als kanalisierter Fluß erscheint. Im Angerweg Ecke Debussystraße kommst du an einem zugewucherten Garten mit Garagen vorbei. In der César-Franck-Straße Ecke Andanteweg hält dich eine riesige Pfützenlache auf, ideal für das Volk der Spatzen. Am Bratvogelweg Ecke Kastanienallee verlassen die Grundschüler das Schulgebäude. Du kommst durch die Straße An der Priesterkoppel und hörst in der Straße 140 den Nordgrabenfluß rauschen, in einer steil abfallenden Waldschlucht. Er springt über die im Wasser liegenden Felssteine. Der Blick geht zurück durch Gärten zum jetzt fern im Norden liegenden Kirchturm der Dorfkirche. Im Gebirgskräuterweg siehst du auf dem rechten Ufer des Nordgrabenflusses einen drei Meter hohen Wasserfall aus dem Zingergraben stürzen. Auch auf der linken Seite erscheint ein Fließgraben. Am Frauenmantelweg Ecke Gebirgskräuterweg hat sich die Schlucht weiter vertieft. Stromschnellen lassen den Nordgrabenfluß geradezu gebirgsflußähnlich rauschen. Eine hohe Brücke auf Stelzen führt darüber, und die im Westen stehende Sonne glänzt auf dem Wasser, es ist 16.21 Uhr. Du läßt einen Stein in die Tiefe fallen. Weiter ziehend passierst du den Jugendstil-Kirchsaal in der Kirchstraße, wie fast überall triffst du auch hier nur auf verschlossene Kirchentüren. Im Döbrabergweg zeigt eine Reihenhaussiedlung grüne Holzläden, und in der Schönhauser Straße 42 hat eine Villa im italienischen Stil einen Aussichtsturm. In der Kastanienstraße 104A weht in einem Garten eine Fahne mit dem gelb-blauen Wappen von Hiddensee, vielleicht ein solidarischer Gruß an die Flagge der Ukraine? Und der vielfach vom Verkehr gebrochene Asphalt flattert, wenn die Autos darüber rollen. Es hört sich an, als würde ein Schwarm Schwäne auf dem Wasser flügelschlagend die Flucht ergreifen. 16.3.2023
WILHELMSRUH Als die Mittagsstunde naht, wanderst du auf dem Weg von Osten her zum Wilhelmsruher See. Du nimmst ein Sonnenbad. Der See ist, wie es offen sichtlich ist, Anlauf-, Höhe- und Zielpunkt für Nachbarn, Mütter mit Kindern und jenen, die die Mittagsfreude hinaus in die Sonne ans Ufer winkt. Hier sonnen sie sich in der Sonne, ehe sie sich besinnen und weiter ihrer Wege ziehen. Am See kommt Wilhelmsruh zur Ruh, kommt es ganz zu sich. Am See ist Wilhelmsruh Wilhelmsruh. Gegenteilig dagegen erscheints dir in der Unruh der Chaussee, Hauptstraße genannt. Durch sie geht unablässig Luft verstaubender, schwere Lasten schleppender Verkehr, der das Leben dir vermiest, solange du da weilst. Er zerschneidet, verlärmt, zergast das Dorf. Löste er sich in Luft auf, könnten die Wilhelmsruher die Ruhe weghaben und in aller Ruhe von Geschäft zu Geschäft bummeln. Einige der Hiesigen nehmen die Situation nicht hin und geben, wie sie sagen, keine Ruh, was ihre Proteste dagegen betrifft. Sie versuchen dabei auch, nicht allein verkehrsärmeres Leben in die Ortsteilbude zu bringen. Zum Beispiel haben sie die von der Stadt aufgegebene Bibliothek ehrenamtlich in der von der Post verlassenen Post für die Einwohner selber wieder eröffnet und veranstalten mit Pauken und Trompeten Lesungen und Liederabende. Andere haben in einer aufgelassenen Fleischerei einen Dorfladen für bioregionale Waren gegründet. Auch zwei Dorfcafes rühren rührig die Rührschüssel und backen Kuchen und verhätscheln die hiesigen Leckermäuler und die dem Naschen zugeneigten Katzen. Und Herr Förtsch, der große Schlanke mit der rosa Baseballmütze, betreibt im Buchladen ein Antiquariat. Sein Steckenbär sind vergriffene Bücher über Berlin, doch Werkausgaben der Klassiker hat er auch bis unter die Decke zur Hand. Die wichtigen Seitenstraßen sind auch nach solchen benannt, Lessing, Goethe, Schiller und Uhland schütteln sich hier die Hände und werden vom Schnauzbartrealisten Fontane in einer Kreisbogenstraße begrüßt. Am Hauptplatz neben der Hauptstraße, zwischen Goethe und Schiller und vor dem Gotteshaus, erinnert ein Gedenkstein an die „Opfer des Faschismus“. Du glaubst, die heutigen Wilhelmsruher seien wenn nicht Opfer, so doch Leidtragende einer anderen Form von geißelnder Mobilmachung. Sie kämpfen gleichwohl unverdrossen weiter gegen die Windmühlen des weltumrollenden Verkehrs. Der versteckte Garibalditeich, abseits der Hauptstraße, weiter im Westen, jenseits der Goethestraße, ist spiegelglatt, Bäume und Schilf spiegeln sich im Spiegel. Ein Jugendlicher spielt Korbball. Eine junge Mutter mit Kinderwagen sitzt auf einer Sonnenbank und schweigt. Auch hier ist Wilhelmsruh ganz bei sich. Dank des Bahndamms der musealen Heidekrautbahn ist die Ecke vor Verkehr und vor Blicken geschützt. Es ist, als wäre das Ende der Welt erreicht. Um wieder nach Hause zu kommen, mußt du umkehren. Dreh dich um, und wäre es nur auf der Stelle. Du wirst eine andere Welt gewahren als die, die du jetzt siehst. Nimm Rück-Sicht und geh weiter bis ans andere Ende der Welt. 28.2.2023
NEU-HOHENSCHÖNHAUSEN Du willst aus einer Laune heraus dir in Neu-Hohenschönhausen die Haare schneiden lassen. In seiner geographischen Form erinnert der Ortsteil dich an ein vierblätteriges Kleeblatt. Die Falkenberger Chaussee und die Eisenbahnstrecke teilen ihn in vier Bereiche. Das erste, was du siehst, als du von der Falkenberger Chaussee in die Zingster Straße zum Linden-Einkaufstempel gehst, sind Zehntausende Kaugummis, die fest auf dem Pflaster kleben. So viele ausgelutschte Kaugummis hast du noch nie gesehen. Die Kaugummi-Industrie hat hier ihre treuesten Kunden, an den Neu-Hohenschönhausern wird sie nicht zugrunde gehen. Vor dem Eingang in den Tempel fangen Bettler die Passanten ab, ihr Herantreten und das bogenförmige Ausweichen der Angebettelten erscheint dir als abgestimmte Choreographie, als hätten sie sich zu einem Tanz verabredet. In Einkaufszentren hältst du dich nicht gerne auf, weil du den Himmel nicht sehen und den Wind nicht fühlen kannst, doch heute, angesichts der draußen waltenden Kälte, stimmt die Wärme dich milde, und wie du in den Cafes ältere Damen in Rüschchenblusen bei Kaffee und Kuchen plaudern siehst, verstehst du, hier sei für sie die Stadtmitte, sei ihr Städtchen, wo sie unter die Leute gehen und andere treffen. Die werden es in den „Lockdown“-Zeiten der Corona-Pandemie nicht leicht gehabt haben in ihren Wohnungen in den Hochhäusern, ohne einander öffentlich sorgenfrei zum Schwatzen treffen zu dürfen. Jetzt sitzen sie da, ganz Gegenwart, und die Pandemie ist Geschichte. In einem Schweizer Frisurenstudio fragst du nach dem Preis für einen Schnitt und bist überrascht von der Antwort und ziehst erst einmal weiter, siebenunddreißig Euro scheinen nicht wenig zu sein, und jeder Schnitt ist bekanntlich nicht für die Ewigkeit. Du ziehst wieder hinaus in die Zingster Straße, während die Bibliothek Anna Seghers herübergrüßt. Am Wegrand im Gras sitzt ein Vietnamese in der Hocke, es scheint, als täte er das gerne, einfach so, ohne erkennbaren Grund, ein Tag muß schließlich vorübergehen. An einer Ladenzeile triffst du auf den Salon Heidi, wo das Schneiden günstiger, dafür freilich kein Platz frei ist. In der Schwimmhalle ziehen Schwimmschüler ihre Bahnen, und davor sitzen Männer auf Bänken und reden nicht viel. Gegenüber in der Barther Straße 3 erinnert eine Gedenktafel indirekt an den saarländischen Dachdeckerlehrling, der 1984 den Grundstein für die ganze Siedlung hier gelegt hat. Streubel & Cornet betreiben nebenan ein kleines Pavillon-Cafe, in dem ein Gast sich Kaffee und Hörnchen schmecken läßt. Der Prerower Platz, die Mitte des Viertels, spricht dich in seiner großen Leere an. Nichts ist da, niemand, aber jetzt, da du drübergehst, ist doch jemand da. Auf einem Parkplatz neben der Falkenberger Chaussee ist ein Zirkus aufgebaut, aber du siehst und hörst niemanden, er wirkt wie ausgestorben. Auf der Brücke der Chaussee über den Gleisen siehst du einen Zug nach Templin einfahren, pendelnde Schüler steigen aus, und junge Damen steigen ein. Du gehst weiter und holst im Laden des Bäckerei-Werksverkaufs Streubel & Cornet einen Kaffee und ein Hörnchen, inspiriert von dem einsamen Mann im Zingster Straße-Pavillon. Die strenge Verkäuferin pumpt dir den Kaffee aus einer bereitgestellten Thermoskanne in einen Plastikbecher und reicht dir das trockene Hörnchen. Nebenan steht die neue Falkenberger Kirche, die nicht in Falkenberg steht, sondern eben hier, im Nachbarortsteil, in Falkenberg erinnert auf dem Friedhof nur mehr die Kriegs-Sprengruine an die alte. Du umkreist die neue ein Mal rundum, als würdest du ihr so die Ehre erweisen. Drüben am Warnitzer Bogen sprichst du im Vandell-Studio vor. Die filigrane Friseurin, Tabitha, erwartet bald eine Stammkundin, aber nach kurzem Überlegen, mit Blick auf die Uhr, sagt sie: „Das schaffe ich!“ und bittet dich, Platz zu nehmen. Ihre Stirn ist rundgewölbt, ihr Haar grün und blau gefärbt, und Metallstifte und Ringe durchbohren Mund, Nase und Ohren. Anschließend wanderst du, frisch verjüngt, den Bogen mit seiner Ladenzeile weiter. Bäcker Feihl bietet seine Waren feil. Die Schuldnerberatung läuft. Die Fleischgrillgerichte eines Imbisses finden Absatz. Am Quartierspark spielen Kinder. Und du gehst die Vincent-van-Gogh-Straße hinunter, und die Friseurin in ihrer filigranen Art geht dir nach und läßt dich lächeln. Die Sonne steht tief. In der Straße Zu den Krugwiesen sitzt eine Gesellschaft für Oberflächenbearbeitungstechnologie. Die produzieren Diamantwerkzeuge, Maschinen zum Schleifen, Läppen und Polieren und Systeme für Präzisionsoptik. Ihre Produkte haben es, wie die Berliner Woche schreibt, bis auf die ISS geschafft. Auch Schreiben ist eine Form von Oberflächenbearbeitungstechnologie, scheint dir. Nagelneue Wohnbauten in der Seehausener Straße lassen dich Bauklötze staunen. Das einstige Neue von Neu-Hohenschönhausen wird alt, und neues neues kommt nach. Das ist der Lauf der Welt, auch bei Häusern. Vorm Penny halten schwergewichtige Raucher, mit Bier an die fahrradlosen Fahrradständer gelehnt, ihre Konferenz über Gott und die Welt ab. „Liebe Eltern, wie Ihnen bereits bekanntgegeben, bleibt unsere Kita heute geschlossen“, liest du in der Warnitzer Straße an der Tür einer Kindertagesstätte. Und an der Pablo-Picasso-Straße steht auf einem Meilenstein: „1 Meile bis Berlin“. Am Rotkamp, wieder westlich der Eisenbahn, im Quartier Mühlengrund, findest du weitere ansprechende Wohnungsneubauten, mit Holzwänden, du befühlst die Wand, und eine Latte tränt Harz. Wohnungen haben Balkone wie Aussichtsplattformen über Schluchten. Radständer warten auf zukünftige Räder. Die Sonne geht unter, und an der Falkenberger Chaussee kniet ein Moslem am Grassteifenrand hinter einer Werbetafel auf seiner ausgelegten Jacke und betet. Er verfehlt, deiner Meinung nach, die Richtung nach Mekka. 23.2.2023
LANKWITZ Hoher Nachmittag, und am Himmel häuten sich die Wolken. Du biegst an den Aral-Zapfsäulen von der Kaiser-Wilhelm-Straße in die Straße Alt-Lankwitz ein, wie heute die einstige Dorfstraße heißt. So entkommst du den pausenlos Ohrlaschen austeilenden Auto- und Lastwagenkaskaden, wie auch den dich blendenden, nach dem Krieg in der Not bescheiden errichteten Wohnburgen. Die Straße teilt sich, um das Auge des Dorfs, den Anger, hütend zu umschließen. In ihrer Anmut läßt die Anlage den Blick ruhig und frei schweifen. Nach wenigen Schritten aber rührt dich der abzweigende Langkofelweg, katapultiert dich en passant aus dem Urstromtal hinauf in die Dolomiten. Dein Vater und seine Busenfreunde wedelten einst auf Skier durch die Langkofelscharte zwischen herausstehenden Felsen zu Tal; am Abend, geschafft, mit schmerzenden Beinen, bekamen sie in der Trattoria in Canazei, beziehungsweise „Kann-net-sei“, wie sie das Tal-Kaff auf schwäbisch nannten, erwünschteste Spaghetti serviert. Vom Langkofel schreitest du geradewegs über die Wiese gen Dorfkirche, die bei einem der verheerendsten Luftangriffe der Alliierten in der Nacht vom 23. zum 24. August 1943 zerbombt und nach dem Krieg in den fünfziger Jahren wiedererrichtet wurde. Auf der Wiese umkleidet ein schmiedeeiserner Schmuckzaun eine Eiche, während auf dem Weg vor der Friedhofsmauer verkleidete Kinder ziehen, ihre Mütter und Großmütter im Schlepptau. Sie feiern heut Fastnacht, ehe morgen, für praktizierende Christen und solche Menschen, die den Anlaß aufgreifen, die Fastenzeit beginnt, Wochen der Reinigung, der Reparatur, der Verjüngung, des Fegefeuers auch der seelischen Fettzellen, bis an Ostern, mit den bemalten Ostereiern, das zyklische, ewige Leben, verdichtet in der Erzählung von der Auferstehung des Herrn, wieder gefeiert wird. Das Tor zum an die Kirche sich anschließenden Gottesacker ist zugesperrt, doch siehst du auch so durch die Stäbe die Krokusse und Schneeglöckchen blühen, hörst deren Botschaft vom bald allseits wiedererstehenden Leben, für die der Glaube dir nicht fehlt. Das Dominikuskloster taucht auf; das stattliche, gelbe Frontgebäude war wohl früher das Gutshaus, dann das Mutterhaus des Klosters der Christkönigsschwestern. Hier haben sie seit 1927 bald ein Jahrhundert lang hilfsbedürftige Menschen gepflegt und geheilt, ehe zwei Betrüger sie um ihr Vermögen brachten und sie alles verloren, das Kloster nicht überleben konnte. Jetzt belebt die christliche Gemeinschaft Chemin Neuf, Neuer Weg, Haus und Kirche. Auch hat in der Gnadenkapelle die Gemeinde des Heiligen Isidor Einzug gehalten, die Berliner Diözese der Russisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, deren Oberhaupt ein gewisser Kyrill I. ist. Es heißt, der sei ein ehemaliger KGB-Agent, ein Milliardär und segenspendender Anhänger des Kreml-Schlächters. Wie betet es sich wohl, wenn ein solcher das Oberhaupt ist? Christlich den Nächsten zu lieben und gleichzeitig zu wissen, der Kyrill segne das grausame Töten und Foltern der rußländischen Soldateska in der Ukraine, kann das zusammengehen? Du stehst vor der Kapelle und überlegst, die Tür zu öffnen. Da hörst du von drinnen ein Lachen, von zwei Menschen, und plötzlich zögerst du, sie zu öffnen. Du könntest deine Fragen doch ihnen stellen, fürchtest dich aber vor einer Lage, die einen Abgrund zwischen euch eröffnen könnte, und so verläßt du lieber den Vorhof. Nebenan steht das Gästehaus Angelicum, das, wie ein Zettel an einem Pfosten im laubgefüllten Vorgarten mitteilt, seit dem 1.1.2013 geschlossen ist, da die Christkönigsschwestern das Kloster verließen. Es sieht unbewohnt aus. Warum bietet man es nicht ukrainischen Flüchtlingen an? Die Russisch-Orthodoxen, vielleicht haben sie längst und insgeheim sich von ihrem nur scheinbar christlichen Oberhaupt losgesagt, beziehungsweise hätten ihn zum Teufel gewünscht, wenn er nicht schon des Teufels wäre, und leisteten gerne ihren neuen Nachbarn tätige Nächstenhilfe? Aber wer hat die Schlüsselgewalt über das engelhafte Gebäude? So ziehen die Gedanken wie Schafe von selbst vorüber, während du weiter vorbei an einem Wäldchen über die Wiese gehst; und jenseits des hier unterirdisch kanalisierten früheren Wiesenbachs namens Lanke, von dem das Dorf seinen Namen erhielt, stößt du auf die Kleine Kneipe, die, ausgerechnet, für den 24. Februar 2023 Eisbein ankündigt - den fetten, fleischigen Unterschenkel eines Schweins -, Reservierung erwünscht, was du in deinem Leben noch nie gegessen hast und auch nicht essen wirst. Indes zieht im Himmel ein Schwarm Kraniche zurück aus dem Süden, und im Osten ist der Himmel weißblau, von gelben Schichtwolken durchzogen. Du gehst südwärts weiter und stößt am Halbauer Weg auf die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche, die das Gebäude von einer Römisch-Katholischen Gemeinde übernommen hat. Häuser und Gebäude werden immer, wenn sie verlassen oder aufgegeben oder ihre Bewohner vertrieben werden, von anderen neu bezogen, neu eingerichtet, neu beseelt. Das haben auch die frühen Christen getan, als sie ihre Kirchen über ehemaligen römischen, „heidnischen“ Tempeln errichteten. Es ist 17.08 Uhr, und die Sonne kommt heraus und taucht die Häuser in gelbrotes Licht. Die Cumuluswolken verschwimmen in orangegelbem Chiaroscuro. Und auch du verschwimmst, wie am Ende ohnehin alles verschwimmt, die Zeit, der Raum, die Erinnerung. Was einzig bleibt, ist das Verschwimmen. 21.2.2023
LICHTERFELDE Da sitzt sie, die ältere Dame, unter der Markise des Tchibo-Cafés am Platz vor dem Bahnhof Lichterfelde-West und hält sich an ihrer Tasse fest. Sie blickt in den Regen oder vielleicht jenseits des Regens auch in eine Ferne, die allein sie vor Augen haben kann, wo der Regen nachläßt und ein strahlender Tag beginnt. Sie umschließt den Griff der Tasse fester, als wolle sie nicht zurück in die Leere dieses Vormittags fallen. Der bietet nach außen hin nur das himmlische Naß und die bescheidene Geschäftigkeit der Geschäfte hier am Platz, und so schmiegt sie sich tiefer in ihre lange, bis zu den Füßen reichende Winterjacke, und am Kaffee nippend, schließt sie die Augen und träumt von früher, als ihr ein Jüngling den Hof machte. Der war damals ihr zukünftiger und ist heute ihr längst gestorbener Mann, der auf dem Friedhof unweit von hier seinen ewigen Schlaf gefunden hat. Das Leben folgt dem unveränderlichen Wechsel von Aufwachen und Einschlafen, so im Alltag, aber auch auf der ihn überschreitenden Ebene. Da besteht das Schauspiel aus dem unwahrscheinlichsten Erwachen eines Lebewesens aus dem Nichts und aus dem wahrscheinlichsten Verschwinden desselben zurück in das Nichts. Ein einmaliger Kreislauf. Aus dem Dunkel ins Licht und zurück ins Dunkel. Längst ist die Zeit vorbei, da ihr einer den Hof machen würde. Sie umgarnt auch keinen mehr. Das Garn liegt unbenutzt im Nähkästchen. So vor sich hin träumen ist, als pflegte sie ihre Seele. Es ist dieses Hiersitzen und in den Regen Schauen ihr Kosmetikstudio. Tränen rollen über ihre Wangen, und in ihnen blitzt ein Licht. Und mit diesem Blitz, der sich auf dich überträgt, ziehst du weiter und schenkst ihr ein Lächeln. In der Drakestraße schaust du zu Lüske hinein, dem Lebensmittelgeschäft, das sich in einem früheren Kino aus dem Jahr 1953 einquartiert hat, welches „Der Spiegel“ hieß und das die ältere Dame einst mit ihrer Liebe besucht haben mag, und es freut dich unmittelbar, daß das Bauwerk mit Empore, Saal und Leinwandseite erhalten geblieben ist, nur die Stuhlreihen wurden notwendigerweise entfernt. Ohne etwas zu kaufen, verläßt du die Höhle wieder und gehst weiter im Regen. In der Ringstraße siehst du Mitarbeiter der Straßenreinigung Kastanienlaub bergeweise zusammenrechen und die Haufen in abbaubare Säcke stopfen. In ein paar Monaten können die neuen Blätter erscheinen. Vorher wird tabula rasa gemacht. Was tot ist, wird entsorgt, kompostiert, beerdigt. Das Leben ist immer auch eine Platzfrage. Und du betrittst die Außenstelle des Amtsgerichts Schöneberg, dem burgartigen, von außen auf dich düster wirkenden Felsengebirge von einem Haus, und läßt dich im käfigartigen Eingangsbereich von den Justizbeamten auf Identität und Waffen prüfen, und als sie sehen, daß du eine Identität hast, worüber du freilich gerne noch einmal diskutieren würdest, und du keine Waffen trägst, womit du d'accord gehst, lassen sie dich alleine in das Innere des Gebäudes ziehen. Du gehst durch lange, hohe Gänge, suchst den Weg, gehst Treppen hinauf und Treppen hinunter, Türen gehen auf und Türen gehen zu, und noch ehe du dich versiehst, hast du dich verirrt, gingst du dir verloren. Nun sammle dich, bestimmt findest du dich wieder, an einem anderen Ort. 22.12.2022
MITTE Abends in beizender Kälte, die dich heimwärts treibt oder dir doch wenigstens den Besuch einer warmen Stube nahelegt, siehst du, von der Friedrichstraße kommend aus den Augenwinkeln am Gendarmenmarkt Besucher zur Aufführung des Weihnachtsoratoriums, Bach-Werke-Verzeichnis 248, in Richtung Konzerthaus streben. Das wäre eine gute, warme Stube, und so gehst du zum Eingangsbereich und prüfst, ob nicht irgendwer eine Karte übrig hätte. Für das von Musik durchmalte Aufwärmen wärst du bereit, zwanzig Euro springen zu lassen. Da kommt schon ein älterer Herr, fast rennend, im Pulk mit anderen, und du fragst, ob er seine offenbar übrige Karte, mit der er wedelt, nicht an mich verscherbeln wolle. „Ja, wieviel willste denn zahlen?“ sagt er, ganz Feuer vor Freude, daß er die Karte noch loswird. Indem du von seiner dich duzenden Ansprache absiehst, nennst du den abgemachten Betrag. Da lacht er auf und ruft: „Da lasse ich die Karte lieber verfallen - die hat über achtzig Euro gekostet.“ Nun denn, so zieh des Wegs, lieber die Karte lieber verfallenlassender Mensch. Es ist auch egal. Und weiter strömen die Menschen vorbei, übrigens fast allein betagte Semester, ja, ihrem Aussehen nach zu urteilen, scheint es, als hätte irgendwer die halbe Brandenburger Dorfbevölkerung, oder sind es die Eingesessenen der Berliner Dörfer, hierher mit Bussen gekarrt. Doch da die Kälte dich wieder daran erinnert, entweder subito hier den Konzertofen zu entern oder stehenden Schritts zu gehen, tendierst du, da ohne Ofenkarte, schon dazu, Leine zu ziehen, als just eine mantellose Japanerin in dünnem Tüll herausstolpert. Offenbar will die noch schnell eine Karte loswerden beziehungsweise an den Mann bringen. Also gut. Du sprichst sie an und nennst den bekannten Betrag. Sie bejaht zunächst und überreicht dir die Karte. Aber es tut ihr dann doch leid, nur so wenig zu bekommen, da sie so viel gezahlt habe, und sie überlegt sichs anders und will über den Preis verhandeln. „Vierzig Euro!“ Du gibst ihr die Karte zurück und schickst dich an, nun wirklich zu gehen, worauf sie sagt: „Ach, es ist zu kalt hier draußen, nehmen Sie die Karte, ich schenke Sie Ihnen!“ und rennt wieder hinein. Nun gut, in dem Falle solltest du Gnade vor Recht walten lassen und die Möglichkeit, dich im Konzerthaus beim Weihnachtsoratorium aufzuwärmen, nicht ungenutzt verstreichen lassen. Erst drinnen macht dich der Platzanweiser darauf aufmerksam, daß du sogar zwei Karten erhalten hast, einmal für die erste Reihe und einmal ein paar Reihen weiter hinten in der Mitte. In der Mitte ist die Akustik besser, und es sitzen da auch nicht so viele Besucher, warum auch immer, ein paar Plätze rechts und links neben dir bleiben frei, was dir ganz recht ist, und so kannst du, während Geneviève Tschumi im blauen Samtkleid mit ihrem dir nahegehenden, dich wärmenden Alt singt, in Ruhe auftauen. Es ist, als verwandeltest du dich von einem vereisten Bach in einen fließenden, springenden, seine jauchzend frohlockenden Töne lallen und sprudeln und jubeln durch dich. 3.12.2022
KARLSHORST Du befindest dich auf der Suche nach dem noch nicht entdeckten Odesa-Platz, den es hier neuerdings geben soll, benannt nach der Stadt am Schwarzen Meer, in der ukrainischen Orthographie, mit einem S. So wurde es beschlossen vom Bezirksparlament, im heißen Monat August, aus Solidarität mit der Ukraine, der angegriffenen, überfallenen, heimgesuchten, von dem scham- und gewissenlosen, aus rußigen Hinterhöfen Leningrads entlaufenen Schwerenöter mit der Miene einer einbalsamierten Leiche. Warum das Parlament den Platz nicht gleich nach der Ukraine benannt hat, den Ukraine-Platz in öffentlicher Sprechhandlung ins Leben gerufen hat, bleibt vorderhand ungeklärt. Nirgends entdeckst du ein Schild, das den bis jüngst namenlosen oder nicht existenten „Platz“ namhaft oder dingfest machen und zur Erscheinung bringen würde, und so bist du dir nicht ganz sicher, ob du auch wirklich am richtigen Ort zum Stehen gekommen bist, hier, wo Rheinsteinstraße und Ehrenfelsstraße in die Treskow-Allee münden, die unentwegt Wellen schlagende. Du ruderst hinüber in die Galerie im Kulturhaus und fragst den Galeristen, der es doch wissen muß. „Odesa-Platz? Noch nie jehört. Und ick wohn hier schon seit Ewigkeiten. Wo soll der sein? Ne, meen Lieber, den jibs nich!“ Und du ziehst weiter zur Buchhändlerin gleich um die Ecke in der Dönhoffstraße. Die mutmaßlich vieles lesende Frau, die sollte doch klarsehen. Pustekuchen, auch die staunt nur und starrt dich an, als wärst du ein Buch mit sieben Siegeln, von dem sie nicht zu sagen wüßte, wie sie die Schnallen öffnen soll, obschon sie es gerne täte. Auch in ihrem Hinterstübchen flammt bei Odesa keine Ahnung auf. „Hast du gehört“, fragt sie ihren Kollegen, „daß es hier einen Odesa-Platz geben soll?“ - „Einen Odesa-Platz?“ Und du siehst an seinem in die Ferne schweifenden Blick, daß er den doch in der Nähe liegenden, guten Platz nicht finden wird. Und weil ein umhergehendes Fragen erst bei drei Befragten anfängt, eine in Grenzen brauchbare Aussage zu bekräftigen, gehst du noch in die Feinbäckerei Hollschewski, unmittelbar neben dem mutmaßlichen Odesa-Platz. Um gute Stimmung zu unterstützen, kaufst du zuerst ein paar der ins Auge springenden Zuckerwerke aus der Auslage und stellst dann deine Frage. „Odesa-Platz?“ schnaubt es fast konsterniert über den Tresen. „Ne, tut mir leid, da bin ick überfragt!“ Nun läßt du es sein Bewenden haben und die Frage gut sein, im Bewußtsein der Bevölkerung hat sich dieser Platz noch nicht verankert, kein „Panzerkreuzer“ liegt im Hafen, keiner ins Auge getroffenen Frau entgleitet der Kinderwagen, der, inmitten der panisch vor den Schüssen aus den Gewehren der die Treppe herabkommenden Soldaten fliehenden Menge, über die Hafentreppe wippend und geradezu ungerührt zur Mole hinabrollt, wo er mitsamt dem Kinde vorwärts umkippt. Odesa liegt janz weit draußen, weiter draußen, als Berlin groß ist. Du begibst dich nun mitten auf den wahrscheinlichen Odesa-Platz und bleibst auf ihm stehen und versuchst, seinen Geist zu erhaschen, den er hat oder haben muß oder haben könnte. Ein wegweisendes Schild zeigt in die Rheinsteinstraße zum „Museum Berlin-Karlshorst“. Das heißt seit diesem Jahr so, nachdem es zuvor sieben Jahre lang „Deutsch-Russisches Museum“ (und unförmlich noch länger so) geheißen hatte. Die Museumsleitung hat den Namen jetzt allgemein und somit so oder so sachgerecht gefaßt und innewohnend das Brennglas auch auf andere Länder wie Weißrußland oder Belarus und Ukraine gelegt, die bekanntermaßen mindestens ebenso vom damaligen Deutschland angegriffen wurden. Anlaß der Umbennenung war selbstredend der seit dem vierundzwanzigsten Februar ausgeweitete, nun das ganze Land mit beispiellos schmählichen Raketen ruinierende Kriegszug des russischen Staates gegen die Ukraine, im Jahr 2014 mit der Überfall-Besetzung der Halbinsel Krim schon vom Grenzzaun gebrochen. Und du drehst dich um und siehst dort, am Theater Karlshorst, den seit 2014 nach Johannes Fest benannten Platz, dem Karlshorster Bürger und Mit-Verteidiger der Republik, der Weimarer, Rektor einer katholischen Volksschule und Bezirksverordneter, im April 1933 „aus dem Dienst entfernt“ und mit Berufsverbot belegt, nach dem Krieg als ein Stadtältester von Berlin geehrt, Vater auch des Historikers Joachim Fest. Nachdem der Vater sich von Anfang an gegen den Diktator und seine Partei gewandt hatte, wandte nach dem Krieg der Sohn sich zumindest wissenschaftlich- biographisch dem freilich toten Diktator zu und verfaßte eine Lebensbeschreibung. Später ging er auch dem einstigen Architekten und Rüstungsminister, unzeitgemäß Speer genannt, beim Verfassen von dessen schöngefärbten Erinnerungen zur Hand. Beim Studium in Heidelberg gingst du nolens volens täglich an dessen Anwesen im Schloß-Wolfsbrunnenweg vorüber, auf dem Weg zum Seminar oder von diesem nachhause, weil du schräg gegenüber im Klingelhüttenweg 1 wohntest. Der Name Wolfsbrunnen paßte unfreiwillig, wenn auch der Wolfsbrunnen selber idyllisch und besuchenswert ist. Bisweilen rollte ein Porsche über das Speersche Grundstück, und du glaubtest, es sei Speers Sohn Albert, der, in Frankfurt, gleichfalls Architekt und Städteplaner geworden war und es offenbar nicht für moralisch anstößig ansah, für die scheußlichsten Diktaturen der Welt zu planen und zu bauen, wobei er das freilich mit etlichen international tätigen Architekten gemein hat, diesen ruchlosen Huren blutrünstiger Despoten, was die Angelegenheit allerdings moralisch nicht weniger verwerflich macht. Unweit der einstigen Festlichen Wohnadresse steht die Kirche St. Marien (Unbefleckte Empfängnis), 1935 bis 1937 in neoromanischem Stil errichtet, mit der Hauptfassade und dem Turm in Rüdersdorfer Kalkstein, womöglich noch von der Familie besucht. Von 1905 bis 1910 war der Priester Bernhard Lichtenberg Seelsorger für die hiesigen, noch kirchenbaulosen Katholiken. Wegen Eintretens für die von den Nazis Verfolgten wurde er von den Nazis selber verfolgt, eingesperrt und mißhandelt. Auf dem Transport ins KZ Dachau verstarb er 1943. Als Märtyrer wurde er 1996 von der Kirche seliggesprochen. Nach dem Krieg entweihten die Sowjets die Kirche als Lagerhalle für Kohle und Möbel und als Viehstall. Du wanderst weiter, kommst zur Trabrennbahn Karlshorst, und gehst am Rande der Anlage entlang. Auf der Außenbahn dreht ein einsamer Traber seine Runden, während innerhalb des Ovals Reitschüler auf Pferden schaukeln. Der Wind tost über die leere, verfallende Tribüne, und hinten bei den Stallungen putzen Halter ihre Pferde, während Handwerker ihre Sachen für den Feierabend zusammenpacken. Du erreichst den Deich auf der Ostseite des Ovals, und ein weiterer Traber fährt jetzt mit seinem Rennwagen seine Runden in entgegengesetzter Richtung, auf der inneren der beiden Bahnen, zwei gegenläufige Uhren. Östlich davon liegt ein Neubaugebiet für junge Familien. Die Häuser tragen Pastell, als wären sie Bonbons, und hoffen auf friedliches Beisammensein, und wirken doch unfroh, fast wie eine Gefängnisanlage ohne Mauern. Mädchen radeln über die Trampfelpfade, auf dem Weg von der Schule nach Hause. Eine alte Eiche hat einen Ast verloren, und die Riß-Stelle sieht aus wie der „Schrei“ von Edvard Munch. Andererseits erinnert die Eiche mit ihren erhobenen Ästen an die nackte Vietnamesin, die vor den Napalmbomben flieht, Phan Thi Kim Phúc. Eine Düne ist eingezäunt, eine binnenländische Sandablagerung, von Kiefern bewachsen. Als du später von der Liepnitzstraße zur Hegemeisterstraße gehst, glaubst du kurz, in Österreich gelandet zu sein, weil die Häuser eingangs in Schönbrunner Gelb, auch Habsburger Gelb genannt, gestrichen sind, die Läden in Lindengrün. Ist das nicht Rodaun? Die Drei-Straßen-Aufgabelung Liepnitzstraße, Hegemeisterstraße, Oskarstraße mit ihrer lässigen Verschwenkung wirkt belebend auf dich, in der Seele, in den Hüften, in den Beinen, und schon beginnst du zu tanzen, während über dir die grauen Wolken nach Osten stürmen. Diese Waldsiedlung, dörflich anmutend, mit ihren fehlenden oder kleinen, gepflegten Vorgärten und herausgeputzten Häusern und den radfahrenden Müttern, hat einen außerweltlichen Charakter oder einen Charme, als wäre sie nicht von hier und vor allem für Kinder gebaut, für sie ein paradiesischer, verwunschener Ort. Freilich, auch hier, südlich und östlich, jenseits des Walds, tosen große Straßen - die Rummelsburger Landstraße und die Treskow-Allee. Egal, wo du bist, du wirst von diesen Kraftwagen-Strömen eingeschlossen. Der Traberweg, im ursprünglichen Teil von Karlshorst, nach Treskows Vorname benannt, lockt dich mit seiner uralten Eichen- Allee und den Schattengestalten der Passanten in der fallenden Dämmerung zu sich herein. An der Ecke Traberweg und Liepnitzstraße stößt du auf ein an Autofahrer adressiertes, altes Schild mit der Aufschrift: „Fahr vorsichtig. Es könnte auch Dein Kind sein“. Angenommen, es könnte keinesfalls dein Kind sein, sollte das heißen, du dürftest unvorsichtig fahren? Die Lehre der Geschichte lautet wohl: Paß auf, mach keinen Mist und vergiß nicht: Alles, was du tust, was du sagst, auch was du verschweigst, jeder Moment deines Lebens, hat Auswirkungen auf deine Mitwelt. Zu der Mitwelt gehörst im übrigen auch du selber, denn jede Handlung wirkt auf den Handelnden zurück. Und die Dämmerung fällt weiter, und wie sie weiter fällt, fällst auch du weiter aus dem Tag. 28.11.2022
FENNPFUHL An diesem düsteren, kalten Totensonntag siehst du, durch die Karl-Lade-Straße schlendernd, daß die Scheiben des Büros eines Politikers der Partei „Die Linke“ beschädigt sind; selbsternannte, sich gleichfalls als „links“ begreifende „Widerständige“ haben die Scheiben lädiert, so daß sie gesplittert sind wie Spinnennetze. Du siehst, wie sie auf ein auf der Innenseite angebrachtes Portraitplakat des Politikers eingeschlagen haben, als wollten sie das Gesicht, ihr Feindbild, zerstören, und hämmern es nur um so fester in ihr manichäistisches Weltbild. Ihr Credo: Hier sind wir, die aktionistischen Guten, die Gute Gewalt Ausübenden, und da sind die Bösen, die Parteien, der Staat, die Kapitalisten, und letztere zeichnen letztlich für alles Leid der Erde verantwortlich. Davon läßt sich aber das „Libero“ nebenan nicht beeindrucken, die Fußballkneipe, an deren Außenwand schon der Spiel- und Fernsehplan für das anstehende Fußballturnier in Katar angebracht ist. Was würden die Biertrinker und Fernsehgucker sagen, wenn die „Widerständigen“ zu ihnen eindrängen und ihnen den Fernseher zertrümmerten, weil der Fußball schließlich nicht nur ein unschuldiges Spiel, sondern auch ein gekapertes Objekt der globalen Geschäftemacherei ist, also des schlechthin Bösen, das auf dem rechtlosen Kreuz tausender Bauarbeiter sein zynisches Geldscheffel- und Selbstinszenierungs-Zeremoniell erfolgen läßt? Im Nachbarhaus klopft sich der Bäcker in der Stube der Bäckerei Rauch das Mehl vom rechtschaffenen Bäckerhemd. Von seiner Hände Arbeit lebt er, von der ehrlichen Hand in den goldenen Mund. Du gehst weiter, und zwischen den hohen Wohntürmen hast du das Gefühl, am Grunde einer Schlucht zu wandeln. Du betrittst den weitläufigen Anton-Saefkow-Platz, während die fröhliche Tram durch eine wie für sie allein gewachsene alte Allee saust. Der Kommunist Saefkow, Gegner der „Nationalsozialisten“, hat anscheinend in Berlin die meisten postumen Ehrungen der Widerstand Leistenden erhalten, der Platz, eine Straße, ein Park, eine Schwimmhalle, eine Bibliothek sind nach ihm benannt, und ein Ehrengrab, in Niederschönhausen, wird von der Stadt auch unterhalten, aber um einen Wettbewerb geht es da natürlich nicht. In Plötners Bäckerei und Cafe sitzen derweil Dutzende von würdigen Damen in schickem, altbackenen Plunder bei dünnem Kaffee und dickem Kuchen und plaudern miteinander als wäre die Welt in Ordnung und der Sonntag für die Ewigkeit. Die Dämmerung schickt sich an, langsam zu fallen und en passant im Park das Blau der Sitzbänke zu verschleiern, das maritimste Blau, das du je sahst und in dem du gern für immer verschwimmen würdest. 20.11.2022
PANKOW Kennenlernenswert ist diese Hündin, deren Name zum Schutze ihrer Persönlichkeit nicht veröffentlicht und deren Aussehen aus selbigem Grunde nicht beschrieben werden kann; wäre Venus ein Hundename, würde er zur ihr passen. Ihr Zuhause ist die tschechische Bierstube „Prager Frühling 1968“, die auch eine Kunstgalerie und ein Museum für tschechoslowakische Film- und Gesangskultur der Nachkriegsgeschichte ist, obendrein ein begehbares Kunstwerk. Meist sitzt sie hinterm Tresen auf einem Barhocker mit Lehne, sitzt auf ihrem Hinterteil und hat die Vorderbeine durchgestreckt und beobachtet genau, was alles ihr Lebenspartner am Zapfhahn gelehrig verzapft. Das Sitzpolster hat sie mit ihren Krallen zerrissen. Ihr Lebensgenosse behandelt sie scheinbar wie Luft, doch als er einmal auf Slowakisch etwas sagt (sie versteht nur diese Sprache), springt sie vom Hocker herab, dreht eine Lokalrunde und streckt die Beine durch und gähnt. Währenddessen vertilgt ein Gast am Tresen mit größter Befriedigung zwei „Ertrunkene“, süß-sauer eingelegte Brühwürste, bei deren bloßem Anblick dir fast weh ums Herz wird, und schaut nebenher am aufgehängten Bildschirm das Freundschaftsspiel Türkei versus Tschechien an, die es beide nicht zur Fußball-WM nach Katar geschafft haben. Die Hündin schaut nicht ein Mal zum Fernseher hoch, als wäre der überhaupt nicht existent, anscheinend interessieren Hunde sich nicht für Fußball. Die Hündin schließt schläfrig die Augen. Treten Stammgäste herein, springt sie ihnen entgegen und nimmt Streicheleien entgegen, als wären sie die Eintrittsgebühr, die sie zu entrichten hätten. Eine junge Deutsche mit langen goldenen Haaren drückt und streichelt die Hündin auf liebste Weise gute zehn Minuten, sie verpaßt ihr sogar einen Kuß in den Nacken. Sind die Plätze im Schankraum besetzt, geht die Hündin umher und stellt sich an den Tischen neben die Gäste und wartet, wartet nur kurz; denn die wissen, was sie zu tun haben: sie streicheln. Die meisten Streichler streicheln auch ihre Ohren und zupfen fast daran, das scheint ein Höhepunkt des Genießens für die Hündin zu sein. Wenn sie sich dann auf den Hintern setzt und die Brust rausstreckt, deutet sie an, man solle noch mit sanften Strichen ihre Brust behandeln. Es ist diese Bierstube der Massagesalon der Hündin. 19.11.2022
NIEDERSCHÖNHAUSEN Ein unerwartet früher Wintereinbruch, oder ein Vorspiel des Winters, ein Vorbote doch, mit halbtaglangem, kräftigem Schneefall. Anfangs, am Vormittag, allerdings hat es nur leicht geflockt, das Flocken war ein langsames, fast schien es, als wollte es sein Tun wieder einstellen, ehe es gegen Mittag den Beweis antrat, dies doch nicht tun zu wollen. Nach und nach wurde es immer stärker, bis es schließlich noch und noch herunterfiel, ein Vorhang, der das Panorama, die Stadt verschleierte. Du gingst durch die Heinrich-Mann-Straße, an einer Bushaltestelle stand eine alte Frau unter dem Dach, mutmaßlich den Bus erwartend oder auch nur darauf wartend, daß der Schnee aufhörte. Der hörte aber nicht auf, und links und rechts verloren sich Wohnstraßen mit ihren sittsamen, sattsam bekannten Familienhäusern, und der Heinrich-Mann-Platz, das große Rondell, in dessen Mitte die Bäume sich dem Treiben entgegenbäumten, schien dir ein guter Platz zum Tanzen, und die Flocken tanzten auch. Nördlich der Hermann-Hesse-Straße lag die im Schnee schon entrückte Schönholzer Heide, und während du gingst und der Schnee unter deinen Schuhen knirrte, bemerktest du, wie die Flocken dich kleideten, ein Schneepelz hat sich um dich gelegt. Es war Nachmittag, und im beständigen Schneefall, Myriaden von weißen Kristallen, die herniederschwebten, war das Licht gefiltert. Du betratst den Wald, seitlich auf einem hügeligen Weg gingen Menschen mit einem Hund, aber du konntest sie nur hin und wieder sehen, hinter dir schritten zwei schneegefiederte Frauen, eine Wiese, schneebedeckt, lockte zwei Kinder, auf ihr eine Kugel zu bauen, der Vater vereiste stumm daneben. Jenseits der Germanenstraße, durch die gerade ein Bus Schnee von der Straße pflügte, gingst du durch die Lindenallee, die zum Sowjetischen Ehrenmal führt. Du gingst in es hinein und gingst in ihm umher, während dich die Furcht beschlich, das Tor könnte vor der Zeit geschlossen und du eingeschlossen werden mit 13200 Toten, in der Schlacht um Berlin gefallenen und in Gefangenschaft gestorbenen Rotarmisten, die ihre letzte Ruhe hier gefunden haben. Die Anlage ist voll Ernst, Pathos, Emphase; der als Helden geehrten, ihr Leben gegeben habenden Männer und Frauen gedenkt die „sowjetische Heimat“, die sowjetische Übermutter für immer. Und dir fiel das Anti-Kriegsmuseum von Ernst Friedrich ein, Friedrich ein paradox passender Name für einen, der nach der Devise „Krieg dem Kriege“ verfuhr, in der Parochialstraße 29 in Mitte, einen Schneeballwurf von der Klosterstraße entfernt, unweit der Spree, hat er es 1923 eröffnet, ehe es, zehn Lenze später, die Nazis verwüsteten, und an dessen einstiger Stelle eine Gedenktafel an es erinnert, neben der rechts und links an je drei Ketten zwei Soldatenhelme kopfüber als bepflanzte Blumenampeln hängen. Es ist dies eine andere Form der Losung „Schwerter zu Pflugscharen“: Helme zu Blumenampeln; diese „Skulptur“ provoziert, sie ist lächerlich, ist humoristisch, ist poetisch, und sie löckt gegen das todernste Pathos. Eine solche Skulptur wäre hier auf dem Gelände dieses Ehrenmals undenkbar, schon der Begriff Ehrenmal ist von einer musealen Antiquität, daß ihn heute niemand mehr ohne Not in den Mund nehmen würde. Andererseits, wenn die Sowjetarmee allein in Berlin rund 80000 Soldaten „opfert“, dann ist es nach der Schlacht gleichsam natürlich oder geradezu zwingend, die Gefallenen zu begraben und ihnen ein ihnen Ehre erweisendes Andenken zu verschaffen. Die Überlebenden sind das den Toten schuldig. Jesu Wort in Matthäus 8, 22, die Toten sollten ihre Toten selber begraben, haben sie sich nicht zu eigen gemacht. Freilich, vielen der gefallenen Soldaten wäre es womöglich lieber gewesen, zuhause bei den Lieben ein „unheldenhaftes“, doch langes Leben zu führen, anstatt hier gleich einem sowjetischen Achilleus unverwelklichen Ruhm „zu genießen“. Das Schicksal aber, das Zeitalter, in das du hineingeboren wirst, reißt dich, ob du es willst oder nicht, mit in seinen Schlund, du kannst versuchen, es zu fliehen, oder den Kampf annehmen, nach dem du nicht verlangt hast; ob du am Ende durchkommst, weiß nur die Zeit, die es an den Tag bringt. Frei ist der Mensch immer nur bedingt, die Eltern, das Land, die Epoche, wohinein du geboren wirst, reden immer wenn auch schwer zu deutende Wörtchen mit, bei allem, was du tust. Was du aber tust, tu tunlichst tunlich. 19.11.2022
MALCHOW Anders als Wilhelm I., König in Preußen, kommst du nicht von Niederschönhausen, vom Schloß her nach Malchow, sondern von Neu-Hohenschönhausen aus, am Hechtgraben entlang, auf des Schusters Rappen, ohne Kutsche. Der Hechtgraben führt Wasser zum Malchower See, von dem gelangt es über den Fließgraben zur Panke bei Blankenburg. Der König und seine Gemahlin Sophie Charlotte kamen häufiger hierher, um den eminenten Minister Paul von Fuchs zu besuchen, sie taten das auch an einem Tag im August 1704, als der Reichsfreiherr verstarb. Ein Todesfall, der den Kutscheninsassen auf halber Strecke zugetragen wurde. Sie machten wieder kehrt, mutmaßlich betroffen. Leidenschaftlich aufgeräumt, wohlorganisiert, umsichtig war der 1640 in Stettin geborene Fuchs, erwarb das Gut von Herrn von Barfus, ließ es ausbauen, errichtete und renovierte Wirtschaftsgebäude, darunter ein Brauhaus, ein Predigerwitwenheim und ein Armen- und Waisenhaus. Im Wohnhaus gab er, Brauhaus verpflichtet, feuchtfröhliche Feste. Heute arbeiten hier von Genußgiften Erkrankte auf nüchterne Weise an ihrem Weg ins normale Leben, sie üben es jeden Tag, nennen es den „Tunnel zurück ins Leben“, in der Formulierung klingt sprachlich das Register des Religiösen an, als gehe es darum, aus der Hölle der Sucht über das nüchterne Fegen zurück in die lichte Freiheit zu finden, eine Erfahrung des Transzendierens, des Überschreitens, um in ein friedliches Reich zu gelangen, sich selber zum Reichsfreiherr über das Leben zu erheben. Du gehst ein Stück auf dem Max-und-Herta-Naujocks-Weg, benannt nach dem Ehepaar, das seit 1943 in seiner Hütte in der Kolonie Wiesenhöhe die jüdische Familie Weiss versteckt hielt, Mutter Regina und Tochter Ellen überlebten, Vater Moritz nicht, er wurde bei einem Ausflug nach Berlin „erwischt“. Der Malchower Teichweg bringt dich zum Wartenberger Weg, der verkehrsreichen Straße, rasende Autos und Schwerlaster, aber was heißt rasend, wer rast denn, rasend macht es die Insassen, wenn jemand vor ihnen zu langsam fährt, dann hupen sie und überholen die Ente. 30 km/h sind vorgeschrieben was freilich keinen bekümmert, sie sind, scheint es, Anhänger des Privatismus, die sich vom Staat, den sie ablehnen oder dem sie längst die Gefolgschaft gekündigt haben, nichts vorschreiben lassen. Wer hat das Recht, mir zu sagen, wie sehr ich das Gaspedal durchdrücken darf? Sie rasen und gasen an der Kolonie vorbei, in der die Naujocks die Bedrohten versteckten, je höher die Geschwindigkeit, desto weniger siehst du die Details der Umwelt. Die uralte Eiche nebenan im Bruchwald liegt frisch gefällt, liegt da wie ein Riese, tot. Im Wald steht auch ein Gedenkstein für den 1934 abgestürzten „Kunstflieger“ Günther Fries, ein Junge aus dem Dorf, alt zwanzig Jahre, auf dem Friedhof liegt er, die halsbrecherischen Loopings, die er flog, waren am Ende genau das. Auf dem Friedhof, neben den Ruinen der im April 1945 wie die beiden Kirchen in Wartenberg und Falkenberg von Deutschen gesprengten Dorfkirche, in deren einstiger, längst zugeschütteter Gruft die Fuchsschen Überreste ruhen, hörst du ein Pferdewiehern, es kommt vom Pferdehof nebenan, und du bist ihm dankbar, weil es dir das Gefühl verschafft, unter Menschen zu sein. Im Pfarrhof hängen drei Kirchenglocken in einem schlichten Holzschutzbau. Daneben die neue, schmucklose Kirche. In den Blick dreht sich von Osten her ein riesiges Windrad. Der von rührigen Naturen herausgeputzte Naturhof Malchow bekommt jedes Jahr feierlich erwarteten Besuch: die aus dem Süden zurückkehrenden Störche. Die stören sich offenbar nicht an den Hochspannungs- leitungen, die niedrig über das Dorf gespannt sind. An der Dorfstraße steht einsam ein Obst- und Gemüseverkäufer an seinem Stand, und eine gehbehinderte Frau, aus dem Bus gestiegen, muß einen hundertemeterlangen Umweg zur Ampel machen, weil sie über die Straße nicht kommt. Vielleicht ist ihr das so lieber, als durch beherztes oder wagemutiges Überqueren den Verkehr zum Einhalt zu zwingen. 30.3.2022
WARTENBERG Neben dem einst sichtbar mit Hang zur Feinheit und mit Hoffnung auf eine Zukunft hier betriebenen, jetzt verwaisten, vom Benzinnebel des Verkehrs unbehelligt vor sich hin verfallenden Hofladen an der Dorfstraße befindet sich ein Schaukasten aus Glas. In ihm waren früher Mitteilungen, Angebote, Zeiten zu lesen. Jetzt ist es dem am Wegrand wuchernden Brombeerstrauch gelungen, die Umrahmung des Kastens am unteren Rand zu öffnen und sich mir nichts, dir nichts in den Schaukasten zu stehlen. Da sind jetzt keine Informationen mehr zu lesen, sondern Brombeeren hinter Glas. Wobei die Brombeeren hinter Glas selber auch Informationen preisgeben. Zum einen etwa die, daß die Natur irgendwann wiederkehrt und es dem von teuflischem Ausbreitungs- und Ausbeutungsprinzip gerittenen Menschengezücht nicht gelingen wird, sie auf Dauer zu zähmen. Zum anderen, daß auch Brombeeren sich irren und verirren können. Denn in dem Kasten machen sie jetzt doch eine unglückliche Figur. Und während der zehn Minuten, in der es dir nicht gelingt, die Straße zu überqueren, fragst du dich, was Fortschritt heute noch bedeutet. Was hatte dieses Dorf, dessen uralte Gehöfte und Häuser noch passabel erhalten und an sich nicht unansehnlich sind, davon, im Jahr 1920 nach Berlin eingemeindet worden zu sein? Im Grunde gibt es das Dorf nicht mehr, auch wenn einige Bauwerke noch stehen. Das einzige, was hier herrscht, ist der Autoverkehr. Es ist dies ein Fortschritt, der mit Verlusten einhergeht. Wahrer Fortschritt wäre womöglich einer, der das Wahre, Schöne Gute fördert, ohne gleichzeitig Leichen zu scheffeln. Das Auto an sich hat zwar etwas praktisches, wenn es dich bei Regen trockenen Fußes von A nach B bringt, und das auch schneller, als mit der Postkutsche. Wenn du aber während der Fahrt nicht aufpaßt, und jemand kommt zu Tode, was hast du dann vom Praktischen? Gibt es also überhaupt Fortschritt? Oder ist der immer dialektisch? Liegt im Leben selbst vielleicht etwas tragisches in dem Sinne, daß egal, was du tust, dies immer auch ungewollt schlechte Wirkungen hervorbringt? Wenn du jetzt zu Fuß hinaus in die Feldmark gehst, dann verbrauchst du, ähnlich wie ein Auto, Energie, du wirst müde und mußt dich auf diesen Markstein da setzen und warten, bis du wieder zu Kräften kommst. Wo bekommst du aber die Energie her? Irgendetwas mußt du essen, vielleicht dieses Tier? Das wird damit nicht einverstanden sein. Du gehst hungrig zurück zum Dorf und weißt, es ist nicht einfach, keinen Fußabdruck zu hinterlassen. Das ganze Leben ist ein beständiger Wettkampf um Ressourcen, um Waffenherstellung, um Wissen, um Anwendung, um Fortpflanzung, um Geschwindigkeit, der frühe Vogel fängt den Wurm, wer zuerst kommt, mahlt zuerst, Redewendungen, geronnenes Alltagswissen, und gegenüber dem Bahnhof von Wartenberg betreibt ein Pole einen Imbißstand, an dessen Biertisch vier Deutsche hängen und Bier trinken, sie wirken so, als würden sie auf nichts mehr warten, nichts mehr von sich erwarten, sie erwarten höchstens die staatliche Stütze, um im Suff glücklich die letzten Jahre, wenn es solche sein werden, abzusaufen, und am Bahnsteig wartet die hier einsetzende S-Bahn Richtung Warschauer Straße, junge Leute steigen ein in Erwartung einer Party, die sie in den Kiezen von Kreuzberg und Friedrichshain feiern werden. So geht alles seinen Gang, und am Ende wird nichts mehr so sein, wie es nie gewesen ist. 14.11.2022
FALKENBERG Angesichts der Grabestafel der Eltern der Gebrüder Humboldt, Marie-Elisabeth und Alexander Georg, beide starben in ihren Fünfzigern allzu früh, das an einem Mäuerchen bei den Überresten der einst aus Feldsteinen gebauten Kirche angebracht ist, denkst du nolens volens, wie es angebracht ist, auch an ihre Söhne, die nicht allein älter als die Eltern wurden, sondern auch die aufgelesenen Früchte ihres Geistes rechtzeitig ins unsterbliche Feld umzubetten verstanden und auf die Weise weiter mehr oder weniger schmackhafte Früchte in den Köpfen der nach ihnen Lebenden wachsen und reifen lassen können, eine Strategie, ähnlich verfolgt auch vom alten Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, der, wie Fontane es beschrieb, vor seinem Abscheiden beschied, man möge ihm eine Birne mit ins Grab legen, damit „er“, in insgeheimer Voraussicht, Jahre später, wenn aus der Birne ein Birnbaum gesprossen sei, wie zu Lebzeiten den lütten Kindern Birnen schenken könne. Der Kirche Stündlein freilich schlug am 21. April 1945, kurze Zeit bevor die Rotarmisten das Dorf erreichten. Die über 700 Jahre alte Kirche mit ihrem Turm sollte der Sowjetarmee, heißt es, nicht zur Orientierung bei etwaiger Beschießung dienen. Genau gleich erging es den Kirchen in den Nachbardörfern Wartenberg und Malchow, Gottes Häuser, pulversiert, Gott ein Obdachloser, vorübergehend, solange, bis man ihm wieder eine Unterkunft errichtet, sein Obdachlosenheim. Weil gleichwohl alles seine Ordnung haben muß, weist am Eingang ein Schild die Nutzer des Friedhofs darauf hin, daß der Abraum zur Abraumstelle zu bringen sei, und daß ungepflegte Gräber eingeebnet würden. Der Abraum. Was versteht man darunter? Jeder hat ihn vielleicht im Kopf, den Abraum, alten Plunder, den man zur Abraumstelle bringen sollte, die in dem Falle das Vergessen meint. Glücklich, wer vergißt, was nicht zu ändern ist. Zu der einen Zeit sprengen dem „totalen“ Krieg verschriebene Nazi-„Fanatiker“ die Kirche in die Luft, wie im ganzen „Reich“ andere gleiches oder auch anderes, Brücken zum Beispiel, um doch nicht zu retten, was nicht zu retten ist; denn damit in der Gefahr das Rettende wächst, hätte man bekanntlich zwölf Jahre zuvor den ganzen Braunhemdenladen, und nicht die Kirchen und Brücken, sprengen und ihre „Hüter“ zum Teufel beziehungsweise in die Luft jagen und somit dem Rettenden Raum verschaffen müssen. Zu der anderen Zeit ebnet man, auf einer kleinen, dem Alltag zugehörigen Verwaltungsebene, die Gräber ein, wenn Angehörige nicht wissen, was Pflege ist. So hat alles seinen Sinn beziehungsweise Unsinn. Und du ziehst weiter, gehst am Rande der Straße und erlebst, wie der Durchgangsverkehr das Dorf unter sich begräbt, desertierst in den einstigen Gutspark der Frau von Humboldt, in dem heute allein noch Bäume leben, gehst weiter hinaus zu den Rieselfeldern und dem Horizont ins offene Messer. 14.11.2022
RUMMELSBURG Abends um sechs, draußen ist es längst finster, erklingt in der Erlöserkirche an der Nöldnerstraße mit Chor, Solisten und Orchester im Gottesdienst die Bachkantate Bach-Werke-Verzeichnis 39 „Brich dem Hungrigen dein Brot“. Es sind, neben antikeren Semestern, etliche blutjunge, elaboriert-filigrane und herzensfröhliche Christenmenschen erschienen, so daß du vorsatzlos denkst: „Das ist das Christentum“, und nicht jene Ausfertigungen, die in den „Medien“ geistern mit ihren allzu oft zeitgeistlichen Einlassungen und ihren cum grano salis grimmigen Mienen. Und als der Chor zu singen beginnt, hebt dich die voluminöse Gegenwart der Stimmen fast aus der Kirchenbank heraus, und du fühlst dich in dieser warmen sinnlichen Nähe und in den Händen dieser sanftesten Gewalt geradezu begütigt. Was wäre ein Gottes-, nein: laß Gott beiseite, was wäre ein Seligmachungsbeweis, wenn nicht diese Kirchenmusik? 13.11.2022
ALT-HOHENSCHÖNHAUSEN Aufzustehen, fällt dir manchmal schwer, an grauen Tagen zumal; das fällt dir auf, und schon gehst du leichter, von der deutschen Sprache mit einem Stromstoß belebt, hinaus, in den Straßenwald hinein. Im Sportforum kannst du weiter staunen über die leichte 50er-Jahre-Eleganz der Sporthalle, wie ein Banner mit diesem einen Wort sie bezeichnet, serifenlos. Und du gehst selber serifenlos weiter durch den Tag, befreit von allem, was ansatzweise Ornamenten gleicht. Die unterschiedlichen Sportarten, hier ausgeübt auf fünfunddreißig Sportanlagen, von der Schwerathletik zur Leichtathletik, von Ballspielen zum Kunstlauf in der Eishalle, wo Mädchen ihre Eisballerina-Pirouetten einüben, während Kati Witt ihnen über die Schulter schaut, haben eine ansteckende Wirkung auf dich, du kannst dich dem Belebungsfeld nicht entziehen, und wo drüben neben der Schwimmhalle die Olympiaschwimmer im Strömungskanal trainieren, springst du mit ihnen ins Wasser. Hinter der Mauer liegen die Friedhöfe der lokalen evangelischen Gemeinden, es ist die Mauer für die Ewigkeit, die niemals fällt und welche die Ruhe der Toten schützt. Auf dem weiteren Weg, es ist schon fast dunkel, ein fernes Blau nur ist über dem Jüdischen Friedhof noch zu sehen, passierst du den Betriebshof in der Indira-Gandhi-Straße, und an den über hundert Ladesäulen, hintereinander und nebeneinander gestaffelt, leuchtet ein grünes Licht. Daneben stehen die Elektrobusse und saugen im Schlaf den Strom für die Fahrt am nächsten Tag. 9.11.2022
FRIEDRICHSFELDE Der für Passanten schier unüberquerbare Boulevard Alt-Friedrichsfelde, aus den Bundesstraßen B 1 und B 5 bestehend, von Wohnhochhäusern links und rechts steilwandig begrenzt, tost vor Auto- und Lastwagenverkehr. Du weißt nicht, warum du dieses Tosen und Rauschen, unaufhörlich, in beide Richtungen, nach dem Osten, Polen und Rußland zu, nach dem Westen, dem Zentrum und Aachen und Dänemark zu, nicht schön oder gar erhaben finden kannst, so wie du das Rauschen und Tosen der Iguazu- Wasserfälle an der Grenze zwischen Brasilien und Argentinien schön und erhaben findest. Könntest du dieses Tosen und Rauschen hier, von menschlicher Technik hervorgerufen, nicht womöglich sogar schöner und erhabener finden? Die Wasserfälle sind natürlicher Abläufe Resultat, das im Zuge der Erdgeschichte sich aufgrund bestimmter physischer Bedingungen ergeben hat. Zu bestaunen in jedem Falle. Aber der Mensch, der Erfinder der ganzen technischen Mitwelt, vom Rad über das Auto bis zum Flugzeug, was hat nicht er alles, freilich auch unnützes und gar schädliches, der Erde bewußt hinzugefügt? Sind der Krach, der Lärm, das Tosen und das Rauschen dieser nicht-natürlichen Klangsphäre, jahrmillionenlang undenkbar, unhörbar, nicht auch Ausdruck seiner beispiellosen Gabe, die Erde selber, nach Wunsch und Wille, wenn auch nicht immer nach langfristig klugem Plan, zu gestalten? Erscheint dir das, so gesehen, nicht ungleich beeindruckender als die Wasserfälle im Urwald? Hier stehst du mitten im von Menschenhand erbauten Felsen-Wald der Wohnhochhäuser, und vor deinen Augen rauscht und rollt und blitzt der andauernde Strom des automobilen Lebens. 8.11.2022
LICHTENBERG Julia Graureiher, du stehst seit Stunden aufrecht auf der halbrunden Brüstung des Terrassenbalkons am Stadtparkteich und wartest, selbst wie versteinert, doch hellwach, auf deinen Romeo, wollte er auch nur als Fisch erscheinen. Du würdest dich, um alles in der Welt, sogleich auf ihn stürzen und ihn verschlingen, so ihr vereinigt werdet, Hochzeit feiert. Wann taucht er durch den Spiegel des Unbewußten auf? Wann findet der Umwandlungs- und Austauschprozeß statt, nach dem du dich sehnst? Du wartest auf den Moment, in dem es auf alles ankommt. Es ist ein Warten der Camouflage. Romeo soll überrascht werden, wenn du zu ihm hinunterpfeilst. Amors Pfeil, dein Pinzettenschnabel, Liebe eine Operation am offenen Herzen. 7.11.2022
FRIEDRICHSHAIN Jeder Hund hat seine Biographie. Auch der auf dem Balkon in der Krossener Straße 22, 2. OG rechts, den du im Vorbeigehen bemerkst. Es handelt sich um einen mittelgroßen, blondfelligen Familienhund. Welcher Rasse er angehört, weißt du nicht, wenn es auch für die Hundekenner angebracht wäre, das zu wissen. Jedenfalls hat sein Herr und Diener aus der Balkonbrüstung zwei Segmente entfernt, damit er besser das Treiben auf dem Platz beobachten kann. Der Platz ist nach der einst hier befindlichen Ansiedlung Boxhagen benannt. Was dem Hund, der flach auf dem Balkon liegt, mit der Schnauze nah am Abgrund, durch den Kopf geht, wenn er die sonntäglichen Trödelmarktbesucher sieht, weiß selbstredend niemand. Sollte er jedoch den Grüffelo kennen, das Ungeheuer aus dem gleichnamigen Kinderbuch, das kratzige Klauen, herausstehende Zähne, spießige Hörner, Stacheln am Rücken, beleuchtete Augen und eine narbige Nase hat, dann denkt er vielleicht: Dort unten haben Hunderte von menschlichen Grüffelos sich versammelt, mit ihren Tätowierungen, ihren mit Stiften und Ringen durchbohrten Lippen, Nasen, Wangen, Ohren, ihren lackierten Fingernägeln, geschminkten Augen, vernarbten Nasen und ihren Lederjacken mit Stacheln. Via Gärtnerstraße gehst du die Modersohnstraße hinauf und über die nach diesem Sohn des malerischen Moors benannte Brücke, unter der die Züge nach dem Osten rollen, und während der Tennisclub den dich immer beschwichtigenden Klang aufspringender Tennisbälle vermissen läßt, kotzt nebenan auf dem Rudolfplatz ein mongolischer Vater sich die Seele aus dem Leib. Besorgte deutsche Spielplatzmütter alarmieren die Rettungssanitäter, die auch bald erscheinen, sich jedoch sprachlich mit ihm nicht unterhalten können. Sie können kein Mongolisch und er kein Deutsch. Wie bei einem Säugling, der nicht sagen kann, wo's brennt, oder wie bei einem Hund, der nur stumm leiden kann, ohne dem Veterinär seine Schmerzen beschreiben zu können, bleibt nichts anderes übrig, als im Krankenhaus mit Hilfe der Apparate des leidenden Menschen Problem zum Sprechen zu bringen.
In der Zwinglikirche räumen nach ihrem Worship die herausgeputzten Musiker ihre Instrumente und Mikrophone zusammen, die Männer im Sonntagsstaat, die Frauen in bonbonpapierbunten Kleidern und mit Hüten in der Form von Orchideen-Blüten. Auf der längsten Sonnenbank weit und breit, am rechten Ufer der Spree zwischen Elsenbrücke und Oberbaumbrücke, am ehemaligen Osthafen, sitzen, liegen und spazieren derweil die Sonnenhungrigen und feiern auf ihre Art jenes himmlische Phänomen, dem sie ganz offensichtlich innig zugetan sind, und das sie mit Licht und Wärme speist. 6.11.2022
KREUZBERG Lastenrad Es ist ein trüber regnerischer Nachmittag im November, die gefallenen Blätter haben sich zu einem glitschigen Matsch vereinigt. Du gehst die Oranienstraße hinunter wie seit Jahren immer wieder und ziehst dich in die Jacke zurück, der Kälte zu entgehen, und denkst an Orange, ans Amphitheater mit den mächtigen Steinen, in dem du mit der Liebe, in der Hitze vergehend, vor dem inneren Auge die Schauspieler deklamieren hörst.
Dem Kunsthaus Bethanien gegenüber, wohin du das Kind zum Flötenunterricht bringst, reihen sich die Türken zu einem Hochzeitscorso auf, Limousine an Limousine, Hunderttausende Euro schwere Karossen, ganz vorne ein zitronengelber Lamborghini, die Männer in ihren sie einquetschenden Glanz-Anzügen stehen beieinander und stecken sich Zigarillos an, auf der Motorhaube ein üppiger weißer Blumenstrauß.
Manteuffelstraße, Pücklerstraße, untergegangene preußische Politiker- und Landschaftsarchitekten- Herrlichkeit, wann werden die Straßen umbenannt? Es ist nur eine Frage der Zeit, scheint es, wie überhaupt alles untergeht oder dem Willen der momentan herrschenden Bestimmer unterworfen ist. Dir schwindelt, fast fällst du hin, und du rettest dich in die Markthalle Neun und legst dich auf einer Bierbank schlafen, unweit des Meckatzer Tresens. Es ist mollig warm hier herdrinnen. Dänische Touristen und Männerpaare schlendern umher, und die Kaffeetüten verkaufende junge Frau steht ganz alleine, kundenlos, stoisch hinter ihrem Tresen. Vorbildlich steht sie in ihrer ganzen Grazilität da, eine lebende Pallas Athene.
Du ziehst weiter, ausgeruht, und vor dem Haus von Paula Wendt am Lausitzer Platz 10, der Gerechten unter den Völkern, die mit ihrer Schwester Ida und ihren Arbeitgebern, dem Ehepaar Wiegel, in der Nazi-Zeit Juden geholfen und sie in ihrer Einzimmerwohnung versteckt hat, probiert eine junge Mutter ein elektrisches Lastenrad aus, und ihr Mann und ihr Kind schauen von der Seite ihr dabei zu. Sie sagt aufgeregt: „Das ist echt gewöhnungsbedürftig“ und du hörst dieses bekräftigende Beiwort „echt“ und fragst dich, was für dich echt gewöhnungsbedürftig sei. Das Leben selbst? Das Sterben, das unmögliche, alltägliche? Immer geht im Leben etwas vorbei. Es sind die Tode im Leben, an die du dich gewöhnen mußt. Menschen sind Passagiere der Zeit. Sie passieren einander, du selbst bist ein Passant, und da ist die Passantin, die du wie in Baudelaires Straßenszene geliebt hättest. Das Vergängliche, das Unwiederbringliche, das Verlorene, die flüchtige Zeit, es ist, als könntest du diesen dich zeichnenden Erscheinungen und Lebenstatsachen niemals entrinnen. Möglich, weil du von Anfang an selber vergänglich, unwiederbringlich, verloren und flüchtig bist.
Kaputte, bettelnde Gestalten am Eingang zum Hochbahnhof Schlesisches Tor passierend, gehst du um 16.38 Uhr, wie die Bahnsteiguhr zeigt, Richtung Westen und siehst über den Gleisen einen Abendhimmel leuchten, als wäre er eine begehbare Lichtinstallation von James Turrell, eine Raum-in-Raum-Verblendung, ein Ganzfeld grenzenlos, und du gehst in ihn hinein und gehst und gehst immer weiter und findest dich am Ende selbstverloren nicht mehr wieder. 4.11.2022
TIERGARTEN Versunken im Großen Tiergarten, wo die Baumriesen ihre Garderobe in magnetischen Farben den angezogenen Augen präsentieren und wo abgestoßene Blätter in der Luft zerflattern, tauchst du wieder auf.
Wünschen die Waldschlackse insgeheim, daß Menschen ihr Farbenspiel bewundern und sich so um ihr Wohlergehen kümmern, und sei es allein, indem sie so, verhext von ihrer Schönheit, sie in Ruhe lassen?
Bussarde kreisen in der aufsteigenden Luft und verkünden mit ihren hohen Schreien das Evangelium der wärmenden Sonne. Kleinkinder sitzen unten spielend im Laub, und wenn sie die Blätter in die Luft werfen, schreien sie botschaftslos vor Freude.
Die Bänke im Rosengarten, schattenlos, sind belegt von jenen, die der Sonne sich ausliefern, ihrer Behandlung des Gesichts. Die Spuren der vergangenen Jahre, zu entziffern auf den fazialen Urkunden, sollen in der kosmischen Bestrahlung ohne Skalpell verblassen. Der Mensch strebt nach Alterslosigkeit.
Eine Libelle fliegt herbei und setzt sich auf den Handrücken, offenbar, um sich gleichfalls zu sonnen. Ein Gärtner harkt hinter der Hecke, und von der Straße des 17. Juni dringt der kaum aufhörliche Strom des Autoverkehrs. So hört die Zeit auf, zu fließen.
Erst als die Sonne sinkt und die Schatten wachsen, werden jene auf den Bänken an die Zeit erinnert, die durch sie selber fließt. Sie stehen auf und gehen, lassen die Leerstellen zurück, die Zeichen, die von ihnen erzählen.
Glänzen durch Abwesenheit, Gräber, Zeichen, Zeichen des Glanzes der so Anwesenden. 20.10.2022
LÜBARS Die Pferde adeln das Dorf. Ihr Wiehern soll den Zaun entriegeln, als wollten sie mit dir durchgehen, dich behutsam küssen, und schon siehst du dich, geschwind zu Pferde, mit ihnen über die Barnimer Dörfer fliegen.
Das nördliche Grenzdorf Berlins mit seinem Anger, der die Kirche umschließt, und dem Krug und dem Tanzsaal, ist das geographische Pendant zu Marienfelde ganz im Süden. Beide haben in der Nachbarschaft künstliche Hügel, heute geschützte Landschaften, früher Müllberge. Jenseits der wenigen eiszeitlichen Wellen der Landschaft sind das die Hügel hier: Trümmer, Abfall, Schutt, bewachsen.
Ein Findling liegt auf der Kirchwiese, auf dem Acker von Bauer Rosentreter 1956 geborgen. Wer wird dich einmal finden? Der Maulbeerbaum an der Südseite der Kirche wächst schon länger als zweihundert Jahre. Friedrich II. von Preußen hatte in wirtschaftlicher Rivalität mit China seinen Untertanen die Pflanzung und den Einsatz von Seidenspinnern befohlen, um von den Waren aus Fernost unabhängig zu sein. Die Maßnahme schlief dann wieder ein, weil die Bauern wenig Lust auf die aufwendige Haltung der Raupen verspürten; so stehts auf einer Tafel in der Kirche. Aber der Gedanke, den Staat unabhängig zu machen, von freiheitsfeindlichen niederhaltenden Knebelreichen, scheint prinzipiell klug zu sein, unabhängig davon, daß auch der Preußenfritz ein zynischer Soloherrscher war.
Es ist warm, sommerlich. Die Felder stehen im Glanz. Eine Reiterin prescht an der hügelan führenden Reihe uralter Eichen im Galopp vorbei, ein Mann rennt mit einem zweiten Pferd hinterher, er führt es am Seil und findet noch Zeit, Hallo zu sagen.
Vom Plateau der Lübarser Höhe, dem ehemaligen Abfallberg, 85,3 m über NHN, läßt sich im Süden der Fernsehturm, das Rote Rothaus, der Potsdamer Platz, und von einer Stelle weiter westlich aus, sogar das Schöneberger Rathaus und das skelettierte Hochhaus des Steglitzer Kreisels sehen, die infame Investorenruine. Wo früher die Bezirksverwaltung verwaltete und eine öffentliche Kantine unterm Dach die erschwinglichsten Tische und das schwelgerischste Panorama bot, sollen eines Tages Luxuswohnungen einziehen. Nach Nordosten blickend siehst du die höchste, mittlerweile begrünte Berliner Erhebung, die ehemalige Bauschuttdeponie der Arkenberge. Westen zu befindet sich ein großer Wiesenabhang in Richtung der wie eine Kreidefelsenküste schroff einsetzenden Großsiedlung des Märkischen Viertels mit seinen zehntausende Menschen beherbergenden Hochhäusern. Am Fuß des Hangs lassen Kinder und Erwachsene Drachen steigen, ein Mann läßt von der oberen Hangkante sein ferngesteuertes Modellflugzeug gegen die Wellen kämpfen. Der Wind wird stärker, das Laub der Laubwälder leuchtet suggestiv. Eine Eiche entläßt im Wind Eicheln und Blätter und bombardiert die Spaziergänger damit. Der Himmel am Horizont wird leicht schleierig, und so verschwimmt die Sonne in ihm. Zwei Gabelweihen stehen nördlich der Siedlung Rathenow hoch in der Luft. Die Blankenfelder Chaussee eine goldene Laubwand. Unter den Eichen sitzt eine junge Frau und liest. Die Osterquelle blitzt. Nach dem Hangmoor tauchen die Mähwiesen auf, Futterareale für die Störche im Juni. Und so verlierst du dich immer weiter gen Tegeler Fließ. 17.10.2022
SCHÖNEBERG Papyros Da bist du wieder, auf dem Insulaner, auf tausendjährigen Trümmern ausgebombter Häuser, liegst neben der Sternwarte in der unbewohnten Sonne, nah der alten Umgebung, fern vom neuen Ort, an dem du nicht heimisch geworden bist. Am alten fühlst du dich auch nicht mehr zuhause. Wohin jetzt mit dir? Es reihen sich goldene Oktobertage aneinander, wie sie goldener nicht sein könnten. In ihnen, ihrer Wärme, in den Sonnenballaden, dem klaren Licht und den fallenden Blättern fühlst du dich aufgehoben. Schwinden die Tage, orakelt eine Stimme in dir, wirst du selber fallen. Ein neuer, bezaubernder Einfall wird dich, so hoffst du, auflesen, wird dich aufheben, als wärst du ein kostbares Blatt, wert, in ein Buch gebettet zu werden, wo es unter seinesgleichen aufgehoben sein mag. Aber kann man dich lesen? Bist du ein beschriebenes Blatt? Mit den Jahren wird aus jedem unbeschriebenen ein beschriebenes. Und so, wie du dich dem Leben verschrieben hast, verschreibt sich auch das Leben dir, verschreibt sich dabei auch. Ins Buch der aufgelesenen Blätter kehrst du eines Tages heim. 12.10.2022
MARIENFELDE Als der letzte Gast am Nahmitzer Damm, auf Höhe der den Damm querenden Marienfelder Allee, deren Bäume hier abwesend glänzen, aus dem von Westen, von Nikolassee her gekommenen, noch im Stehen vom Dieselmotor rüttelnden Bus steigt, nachdem er zuvor vom Busfahrer ins Freie komplimentiert worden war, denn ihm war entgangen, das Ende des 112ers sei erreicht: „Mal herhörn, meene Ische, dit is Endhaltestelle, da müssen Se raushopsen. Oder wollnn der Herr wieder mit zurückejondeln? Kost aba zwee Mark extra, und ick weeß nich, ob Se die jerade beiham!“, da, in diesem Augenblick, umtost ihn der vorüber- und hindurchheulende Orkan, ihn in Gänze ergreifend, ein Krachgesamtwerk, hör-, sicht- wie riechbar: Alles kracht auf ihn nieder, kracht vorbei, schwebend, Autos, Laster, Menschen krachen allesamt, zerkrachen, als wären Menschen auch Laster, könnten es sein, belastender als die fahrenden, rollenden, Menschen, mit ihrem bloßen Aussehen, ihrer Anmutung, wie man sieht, spürt, wahrnimmt, die sie anderen zu verstehen geben, Krach schlagend, krachende, zerkrachte Existenzen, andere als die „üblichen“, sie erscheinen jeder für sich als ein Ausdruck von Krachsucht, versuchen auch, mehr oder weniger bewußt, die anderen mit ihrem Krach zu verkrachen. Als der gerade noch letzte Gast nun aber, gegenüber, einen von der Sonne beleuchteten Kiesweg, der in eine Kleingartenanlage führt, einschlägt - was verstünde man unter einer Großgartenanlage -, verläuft es, das Krachen, sich zügig, versickert, wird es still, Stille tritt auf, macht sich bemerkbar, stellt sich vor, sie stillt, beruhigt ihn, Menschen, von der Unruhe bewegt, gelangen, schlagen sie einen leeren Kiesweg ein, dorthin, wo die Unruhe in Ruhe umschlägt. Gehend, weiter gehend, eher ziellos, da ohne Karte und ohne Plan, allein die Wege führen, verführen ihn, leiten ihn auf ihren Wegen, gelangt er, Schritt für Schritt, in die Welt eines einst, heute nicht mehr, brandenburgischen Dorfangers. Es ist jener Teil, buchstäblich groß wirkendes Reich, das jetzt Alt-Marienfelde heißt, da in der Mitte des Dorfs, sofern anfänglich von Dorf zu reden ist, es war doch erst undörflich, vor achthundert Jahren, bauernhöflich wars, wo in der Mitte die Kirche ragt, gebaut aus rohen, sauber gemetzten Feldsteinen, seit dem Jahr 1220 oder 1240 nach der Zeitrechnung, das älteste erhaltene Gebäude der heutigen Stadt Berlin. Vor der Kirche ruht ein Teich, Löschwasser für die einstigen Anwohner, da ist die Kette aus Menschen, die notgedrungen darauf brennen, Eimer für Eimer vom Teich zum lichterloh brennenden Hof weiterzureichen, machtlos im Gefecht mit den wie immer unersättlich fressenden Flammen, Urbild der feuerspuckenden Drachen? Eine Frau steht am Kircheneingang, und sie ruft ihm zu, herzukommen. Sie führt ihn ins Innere, in eine weitere Stille, nicht nur weltabgeschieden, auch abgetrennt vom Dorf, es ist, als wanderte er in einer urzeitlichen Höhle mit dem Abbild Gottes an der Wand. 15.5.2022
HERMSDORF Vom Platz, nach Frau Dr. med. Ilse Kassel benannt, damit gleichzeitig, vermittelt, auch nach deren Tochter Edith, Frau Kassel lebte von 1902 bis 1943 und wählte auf der Flucht, dem buchstäblichen Wegrennen vor dem Verhaftungsversuch durch die Gestapomänner, den Freitod in der Netze, die Tochter lebte von 1937 bis 1944, sie überlebte in der Netze und kam, nach einjährigem Aufenthalt in Theresienstadt, am 25. Oktober 1944 nach Auschwitz, vom Platz führt eine lange Straße den Hang hinab, die Wickhofstraße; die hat einen Schwung und erinnert die Spaziergängerin an eine in die Länge gezogene Sprungschanze, die obschon abwärtsführend in ihren Augen ein sie erhebendes Gefühl auslöst, so, als würde sie in die Lüfte getragen, dabei bleibt sie auf dem Boden stehen; allerdings fühlt sie einen Schwindel, den der gleichzeitig erblickte Abgrund auslöst. Während der Platz in ihrem Rücken „liegt“ beziehungsweise „ruht“, merkt sie: nie habe sie ein solches Kindergeschrei vernommen; Kinderstimmen sind normalerweise beruhigendste Musik in ihren Ohren, doch empfindet sie dieses Zetern der Kinder hier als nachgerade obszön; es ist auch kein übliches Spielplatzkindergeräusch, sondern es ist so, daß die Kinder unentwegt brüllen, sie sprechen gar nicht normal miteinander, sie schreien einander aus vollem Halse an, es ist ihr unerklärlich, auch auf dem benachbarten Bolzplatz schreien die schon fast jugendlichen Kinder unausgesetzt, während sie dem Ball hinterherhetzen, es ist als gäbe es keine andere Form des Sprechens als die des Schreiens, und obschon sie so umtost von diesen sie rundheraus zum Davonrennen animierenden Mißklängen kaum stehen bleiben kann, bleibt sie doch stehen und wendet den Blick nach rechts und sieht das stattliche Gebäude, in dem auch Frau Kassel gewohnt hat und das jetzt in diesem weichen Nachmittagslicht und dem Anlanden der Sonnenstrahlen auf dem Dach und in den Bäumen und den Zweigen und im Garten auf dem junggrünen Rasen verträumt („verträumt“? unwirklich?) im aufbrechenden Frühling, an einem Tag im April des Jahres 2022, vor Anker zu liegen scheint; es scheint dies wenigstens dann zu sein, wenn man bereit ist, Häusern die Fähigkeit zuzusprechen, vor Anker zu liegen wie Schiffe; Häuser sind doch wesentlich auf dem Festland verankerte Schiffe, und Baracken im Osten sind Galeerenboote, längst vom Sturm der Zeiten hinweg in die Tiefe gerissen. Sie denkt daran, wie sie vorhin noch auf dem kleinen dreieckigen Platz an der Ecke von Heinsestraße und Backnanger Straße in der Sonne zum Stehen kam und sich dabei überlegt hat, auf der Terrasse der Café-Feinbäckerei Laufer eine Pause einzulegen, aber sie beim besten Willen nicht sagen konnte, wieso sie eine Pause einlegen sollte. Eine Pause von was? Vom Leben? Aber das Leben geht auch in den Pausen weiter, man kann im Leben nicht pausieren, auf eine Pausetaste drücken wie bei einem historischen Dokumentarfilm, den man im Rahmen einer Aufführung sich zuhause anschaut. Du kannst eine Pause machen, aber nicht vom Leben, auch in der Pause bist du am Leben, auch in der Pause ist Leben, und was für eines, die Pause ist mehr als ein Span des Lebens, und wer weiß, vielleicht ist das Leben gerade in der Pause so sehr am Leben wie es anderswann nicht am Leben ist, wenn die Geschichte tobt, die „Geschichte“. Aber wer sagt denn, daß du nur dann, wenn du keine Pause machst, erst richtig lebst, vielleicht ist es doch umgekehrt, erst in der Pause kommt dein Leben zu sich, erst in ihr kommt es sich selber zu Bewußtsein, wird es sich seines Lebens, seiner selbst bewußt. Und überhaupt ist das Leben eine Pause von der Ewigkeit. Und jetzt ist sie nach Durchlauf durch die Schloßstraße hier gestrandet und macht doch eine Art Pause, sie hält freilich eher inne, als daß sie eine Pause macht, und denkt an das so freundlich und geradezu normal begonnene Leben der Ärztin Frau Dr. Kassel und von deren Tochter Edith, welche nie auf einem solchen Spielplatz wie der, der jetzt nach ihrer Mutter und damit gleichzeitig, vermittelt, auch nach ihr benannt ist, spielen durfte. 11.4.2022
PRENZLAUER BERG An dem Café in der Greifenhagener Straße, unweit der nach der Straße benannten Brücke, mit dem Rücken zur Hauswand sitzend, entdeckt die Betrachterin jenseits all der Bäume mit ihren frischen Ästen mit einem Mal etwas, das sie in der Form, will ihr scheinen, noch nie gesehen hat: eine Kirche. Dabei hat sie die Kirche schon oft gesehen, ist x Mal an ihr vorübergetrödelt (es gibt auch einen Trödelladen nahebei), und immer war die Kirche da; aber erst jetzt hat sie das Gefühl, sie zum ersten Mal als sie selbst zu sehen, und das, obwohl sie inmitten des Pflanzenwerks nur zum Teil zu sehen ist. Die Außenwände blicken zwischen den Ästen mit ihren sich schnell bewegenden Blättern hervor, und wie sie das tun. Nämlich in einer Ruhe, die es in sich hat und die eben ganz in sich ruht. Aber gerade in dieser Ruhe gelingt es der Kirche, ihre Ruhe auf die Betrachterin zu übertragen. Es ist als beträte diese die Kirche, und das gewölbte Dach schlösse sich über ihr und begrübe sie unter sich, und sie versänke im Boden. 19.5.2022
STEGLITZ Als der Betrachter an einem der Maientage des Jahres Werweißes (jede Jahreszahl, freiheraus gewählt, wäre die richtige) des frühen Abends, es war Sonntag, von der Plantagenstraße in die Südendstraße eher beiläufig denn beabsichtigt einschwenkte, stand die Sonne noch hoch. Am Saum der Linden glitzerten die Spitzen mit ihren Blättern, ein fast unhörbares Rascheln. Der Betrachter blickte die Allee entlang, die in weiterer Entfernung abwärts führte und dort eine Stille zeigte, die ihm die Illusion von Frieden schenkte. Die Straße war schattig, und auf dem Gehsteig schwangen im Rhythmus die Schatten der Äste. Der Rhythmus in Verbindung mit dem Licht der Sonne auf den Feldsteinen, wo die Asphaltdecke weggebrochen war, hypnotisierte ihn, und für Sekunden ging er zu einem gemauerten, mit Blumen und Kräutern bepflanzten Rondell und setzte sich, um die Augen zu schließen. 15.5.2022
STADTRANDSIEDLUNG MALCHOW Im Ullerweg hört er, vorhin noch am Blankenburger Pflasterweg in den Anblick und, noch mehr, in den Anduft eines über und über blühenden Weißdorns versunken - die beiden haben beruhigenden Anklang gefunden - und anschließend in der Sonne nicht anders denn versonnen durch die Feldallee des Mörderberges vor und zurück und rechts und links im Tanz kaum von der Stelle kommend, hört er also wie aus dem Nichts das Rauschen einer Kiefer. Welch ein Rauschen? Ein wortgetreu unheimliches, das, von der Krone kommend, gleichzeitig ein heimliches ist. Unversehen, unverhört, vertrauenerweckend, in gleicher Weise berückend und entrückend, ein Tönen, das dem so Hörenden wie keines je, an das er sich erinnern könnte, den Grund seiner Innenwelt wegspült und ihn auf die Weise entrückt in ein von Grund auf anderes Land, wo ihn die Fremde, die Entfremdung von allem ihm je Vertrauten, erwachen und zu sich kommen läßt. 27.3.2022
MOABIT An der U-Bahn-Station Turmstraße weist vor dem Einsetzen der Rolltreppe an der Wand ein Schild in serifenloser Schrift den Passanten an: Handlasten und Tiere müssen getragen werden. Davon angesprochen, bleibt er stehen, während schon die nächste U-Bahn einfährt und ein Besen aus Laub und Staub den Bahnsteig fegt. Im Zeitungskiosk fällt Licht von der Decke, und der Verkäufer gähnt. Den Interpreten des Schildes beschleicht das Gefühl, als solle er sich selber tragen, und er kommt nicht vom Fleck. Während die Passanten sich entfernen, ist ihm zumute, als hätte jemand ihn in eine Zeit gezaubert, in der das Schild angeschraubt wurde und in der es vermeintlich Grund gab, die Anweisung zu machen. Welche Handlasten? Welche Tiere? Zeit, aufzuwachen und die Treppe zu nehmen, die stehende, auf der der Passant selber geht. Er sieht sich die Treppe hinaufgehen und nimmt zwei Stufen auf einmal, um sich einzuholen. 4.9.2019
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