DIE TERRASSEN DES PHILOSOPHISCHEN GARTENS
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TAGTRAUMPFADE DURCH DAS ARCHIPEL BERLIN

Skizzen

Auf der Suche nach Berlin kommt der Reisende durch alle siebenundneunzig Ortsteile der Stadt. Er tut dies in der Hoffnung, im Laufe der Reisen die Gesuchte zu finden. Jede Reise wird mit einer datierten Skizze dokumentiert, die Augenblicke, Aspekte, Begegnungen festhalten mag und als Überschrift den Namen des Ortsteils trägt. Es geht um Wahrnehmenswürdigkeiten. Eine Bedingung für jede Skizze ist, daß der Reisende sich innerhalb des jeweiligen Ortsteiles aufhalten muß und sie aus der Begegnung mit dem Ortsteil entsteht; wohin er im Ortsteil den Fuß setzt, bleibt dem Zufall überlassen, der Laune, der Neugier, der Erschöpfung. Es sind traumwandlerische Unternehmungen. In der Begegnung mit der Stadt kommt jeder mehr oder weniger zu sich, kann jeder sich mehr oder weniger verloren gehen oder sich finden. Es sind Traumpfade, die nirgends angeschrieben sind und die flüchtig verwehen wie Träume und doch sind sie wirklich. Sie sind gleich wirklich wie Tagträume. Der Tagträumer findet immer aufs neue einen Traumpfad. Tagträume und Traumpfade vereinigen sich zu Tagtraumpfaden. Die Tagtraumpfade führen durch das Stadtinselmeer Berlin. Matthias C. Müller


FRIEDENAU

Um 16 Uhr servierst du dir einen Espresso am Cafe

„Lehmbrucks“ am Saum des Südwestkorsos, Ecke Fehlerstraße.

Die Stühle sind noch naß und voll Spritzer vom Regen heute.

Die Sonne nimmt dich ins Visier, Haufenwolken glänzen ringsum,

die Stimmung löst sich im Photonenbad, verschwimmt in allgemeiner

Leichtigkeit. Zwei jugendliche Mädchen vertiefen sich ins Gespräch

über Beziehungen, drei junge Männer spielen Skat.

Ein älterer Herr unterhält sich mit dem „Tagesspiegel“.

Ein anderer ißt Kuchen und trinkt Kaffee. An anderen Tischen hüpfen

Spatzen in den stehengelassenen Tellern bereits ihrer Wege gezogener

Gäste und picken Krümel. Der Südwestkorso ist dir, von den

größeren Straßen Friedenaus, die eine angenehme. Auf den

Straßeninseln hohes Gestrüpp und wilde, junge Bäume. Eine Mutter

lehrt ihre beiden Zwillingsmädchen, drei Jahre alt, die Fehlerstraße

zu überqueren, fehlerfrei. Die Skatspieler reden ausschließlich

über ihr Skatspiel. Ein Elektrobus, Nummer 248, zum Breitenbachplatz,

rauscht vorüber. Die Passanten wirken durch die Bank,

als kämen sie von der Arbeit. Keine Spaziergänger.

Eine mittelalte Frau mit hennabraun gefärbtem, langem

Haar setzt sich an einen Tisch, legt ihre Siebziger-Jahre-

Schultasche ab und breitet die „Süddeutsche Zeitung“

vor sich aus. Ein Vater und eine Tochter kommen den Korso

herauf, beide tragen kurzärmelige Hemden, beide haben die Arme

verschränkt. Ein älterer Herr mit weißer Stoffjacke trägt an der

linken Hand eine Herrentasche. Ein 248er fährt Richtung

Alexanderplatz. Ein Elektroauto, „Renault Zoe“, kommt wiederholt

vorbei auf der Suche nach einem Parkplatz. Das Auto macht dabei

ein „komisches“ Geräusch, als hätte es in einer Komödie

einen Auftritt. Das Leben gleicht auch einer Komödie,

nicht selten einer unfreiwillig komischen. Die Komödie mag

in ihrem Ursprung göttlich sein, in ihrem Verlauf ist sie

menschlich komisch, unfreiwillig zunächst. Unzweifelhaft kann

sie auch freiwillig komisch sein, auch in der tragischen Wendung,

der sie am Ende nicht entkommt. Unfreiwillig-freiwillig

lebt der Mensch. Die Skatspieler erheben sich unfreiwillig-

freiwillig und ziehen von dannen (16.32 h). Ein Maler in Malershorts

mit einem Dosengetränk in der Hand geht nachhause.

Auch du gehst jetzt, gehst in die Fehlerstraße. Robinien

und gelb blühende Linden füllen den Blick. Vor Haus Nummer 8

ragt die Skulptur eines Frauentorsos empor. Du gehst außen

an der Mauer des Friedhofs Stubenrauchstraße entlang. Auf dem

Friedhof ragt eine riesige Hängebuche empor. Von Süden

zieht ein weiß-blaues Wolkengebirge auf. Nach dem Friedhof

gehen Jungs nach links auf einen Fußballplatz, du gehst nach

rechts in die Laubacher Straße. An der Ecke zur Varziner Straße

betrittst du den Gastgarten der Gaststätte „Straßenbahn“.

Du hast einen Sonnenplatz mit der schützenden Hauswand

im Rücken. Der Blick wandert auf die andere Straßenseite

zur „Theaterschule für Kinder und Jugendliche Goldoni“,

die in Wilmersdorf liegt. Als du zum Bestellen hineingehst,

siehst du auf den ersten Blick: Die „Straßenbahn“ ist eine ziemlich

weitläufige, hohe Decken aufweisende, gewissermaßen urgemütliche,

trotz seiner Düsternis sonnenlichttrunkene Altberliner Gaststätte aus

echtem Schrot und Korn. Ohne dich länger in ihren Anblick versenken

zu müssen, bist du gleich fast hin und weg, fast scheint es,

als wärst du nachhausegekommen. Die Menschen im Hauptraum

sind vom Mobiliar kaum zu unterscheiden, was ihre tägliche

Präsenz hier und ihre unumstößliche Solidität in Charakterbildung

angeht. In einem Nebenraum spielt eine Runde älterer Damen

Karten, von der durchs Fenster wie bei einem Filmdreh herein-

scheinenden Sonne in höheres Licht gehoben. Die Damen sind

ihres Lebens froh. Draußen auf dein aufgegebenes Bitburger Faßpils

mit 0,0% Alkohol wartend, saust nahebei auf dem Hochdamm die

Ring-S-Bahn 42 vorbei. Der Kellner, in Alltagskluft, Haarzöpfchen

am Hinterkopf, erscheint mit dem Getränk. Kurz darauf erscheint er

wieder und wischt mit dem Wasserabzieher den Tisch trocken: „Jetzt hat

die Sache Hand und Fuß.“ Auf deine Anmerkung, das Bier schmecke

ganz gut, antwortet er: „Ich finds auch gut, ganz ehrlich.“ Ganz ehrlich,

an der ehrlichen Mitteilung seiner Meinung über das Bier hattest du dem

in deinen Augen ohnehin glaubwürdigen Kellner zu zweifeln keinen

Anlaß gegeben, noch hattest du einen Anlaß gehabt, daran zu zweifeln.

Seine Bekräftigung mit dem „ganz ehrlich“ wäre also auf der inhaltlichen

Wahrheitsebene unnötig gewesen. Warum hat er diese Floskel

gleichwohl verwendet, fragst du dich, als er seines Weges zieht, fast

tänzelnd, um die anderen Gartentische zu trocknen. Handelt es sich hier

um etwas darüber hinaus gehendes, um einen adverbialen Sprechakt,

eine bestärkende Phrase, mit der allein er seine implizit authentische

Bewertung des Biers meinte explizit unterfüttern zu können?

Sobald die Sonne von einem Wölkchen ungehindert voll auf dich scheint,

atmest du auf. Angesichts der heute niedrigen Temperatur bist du zu

leicht angezogen. Wirbelwind von Süden. Neben dir zu deiner Linken

steht ein Hochbeet, Minze, Rosmarin, Salbei, Oregano. Eine violette

Clematis rankt sich am Holzspalier empor. Ein Mordsverkehr auf der

Straße, als wären alle noch schnell unterwegs irgendwohin, bevor die

Welt ihren Laden schließt. Der Doppeldecker 101 hält direkt an der

Straße, sein Ziel: U-Bahnstation Turmstaße. Der Bus in Gegenrichtung

hält, Ziel: Sachtlebenstraße Zehlendorf. Es ist, auch wenn um dich,

auf der Straße und auf dem Bahndamm, der Transferverkehr fährt,

wenn diese Formulierung durchgewunken werden darf,

ein stiller Moment Sonne in Friedenau. Oder so gesagt: Obwohl es hier

laut ist, ist es doch still. Bei allen Lautheiten hier, ist doch stille Einkehr,

wenigstens für dich. Zwei Gäste, Mutter und Tochter, blond, eher schick

gekleidet, die im Garten des Lokals gesessen hatten, freilich im

schattigen Teil zur Varziner Straße hin, stehen jetzt an der Haltestelle

und halten, Wange an Wange, das Gesicht in die Sonne. Zeit auch

für dich, zu gehen. Das Friedenauer Sportcasino an der Ecke zur

Fehlerstraße ist zugewuchert. Hier ist auch die Geschäftsstelle /

Abteilung Fußball des Friedenauer TSC 1886. Du gehst hinein

zum Fußballplatz, kunstrasenbelegt. Die F-Jugend trainiert,

zwei Teams, ohne Tor. Ziel ist das Ballhalten des jeweiligen

ballbesitzenden Teams, und zwar durch schnelle Pässe. Du bekommst

den Ball, und spätestens die zweite Berührung muß der Paß

zum nächsten Mitspieler sein. Grundlagentraining. Ihr habt das

früher auch gemacht, allerdings mit Tennisbällen. Du gehst weiter

wieder entlang der Friedhofsmauer, wilder Wein wuchert über sie.

Du betrittst den Friedhof, um einmal endlich das Grab deines Bekannten

zu finden, der laut „Tagesspiegel“ hier seine letzte Ruhe gefunden hat.

Wieder und wieder bist du in den letzten Jahren die Gräber

abgegangen, hast aber immer noch nicht das gesuchte Grab gefunden.

Sonderbar, ein junger Mann repariert unweit von Marlene Dietrichs

Grab sein Fahrrad. Er hat es auf den Kopf gestellt, auf Sattel und

Lenker, und fummelt jetzt am Vorderrad herum. Mutmaßlich macht

er es genau dort, weil ebenda die Sonne gerade wärmend und

wie bei einem Brennglas sachlich hinscheint. Irgendwo muß

der Mensch sein Fahrrad reparieren. Der Mensch ist nur da ganz

Mensch, wo er repariert. Die „Wegwerfgesellschaft“ ist unmenschlich.

Du suchst Grab um Grab und findest es wieder nicht.

Aber auf einem Grabstein liest du die These: „Das Geheimnis der Liebe

ist größer als das Geheimnis des Todes“. Und auf einem anderen liest

du: „Am Ende wird alles gut“. Das Grab ist mit Lavendel, der bereits

zu blühen beginnt, bedeckt. Du zupfst etwas Lavendel ab,

zerreibst ihn zwischen den Fingern, nimmst seinen Duft auf

und ziehst deines Wegs, ins Unbekannte, Offene.

28.5.2024


BRITZ

Der Eindeckerbus Nummer 170 faucht auf der nach dem Flugpionier

Hans Grade benannten, immer wieder asphaltturbulenten,

die Fahrgäste durch harte Stöße erschreckenden Gradestraße

grade Richtung Britz. Er fliegt durch die blühenden Wolken

des Kleingartenvereins „Sorgenfrei“ und saust am BSR-Wertstoffhof

mit zig geparkten Kehrmaschinen und Müllwagen und am

verwaisten BVG-Betriebshof vorbei und taucht, jenseits des

Britzer Damms, in die Blaschkoallee hinein.

Während jeder Sitz im Bus belegt ist und weitere Gäste nur

im Stehen sich an den Stangen festhaltend Platz finden, erscheint

links ein 2013 dem „Gott“ Sri Mayurapathy Murugan geweihter

Hindutempel srilankanischer Tamilen. Kurz darauf zieht das ehemalige

Krankenhaus Britz den Blick auf sich, ein roter Klinkerbacksteinbau,

der, von der Straße und dem Eingangstor zurückgesetzt, mit seinem

zentralen Erkerturm und den Seitenflügeln, wie ein Schloß anmutet.

Heute beherbergt es eines der Bürgerämter von Neukölln, darunter

auch das Standesamt. Und tatsächlich steht gerade eine heitere

Hochzeitgesellschaft am Tor beisammen - die Braut in einem

goldseidenen Kleid, einen Blumenstrauß in der Hand.

Sie wirkt gelöst und erleichtert. Nur wen hat sie geheiratet?

Den Bräutigam kannst du auf die schnelle nicht entdecken.

An der Haltestelle Blaschkoallee springst du hinaus, froh, der

zusammengedrängten Völkerversammlung zu entkommen.

Den Park „Akazienwäldchen“ betrittst du und grüßt den hohen

wilden Weizen und die knorrigen Akazien, wenn auch diese

Robinien zum Verwechseln ähnlich sehen. Du gehst durch

die Fritz-Reuter-Allee Richtung Hufeisensiedlung.

Zur Linken salutieren Holunderblütenschirme, ihren

inkommensurablen Duft verströmend. Kornblumen, Margariten

und orangefarbene Mohnblumen zittern am Wegesrand.

Der Blick reist zur Linken in das kurvige, leicht abfallende Sträßlein

„Hanne Nüte“, in dem putzige Reihenhäuschen niedliche niederdeutsche

Geborgenheit suggerieren. Du gehst weiter und kommst zur Rechten

auf den Vorplatz und zum breiten, offenen Zugang zur Anlage des

Hufeisenhauses. In der Mitte befindet sich eine nach unten führende

Freitreppe, womit du nicht gerechnet hast. Der Anblick empfängt dich

so ähnlich, wie du vom Olympiastadion empfangen wirst, du blickst hinab

in das große, zentrale Rund, es geht dir durchs Herz. In der Senke liegt

ein eiszeitlicher Teich. Um ihn dreht sich eine oval angelegte Wiese,

frisch gemäht, um die Wiese wandert ein öffentlicher Weg,

oberhalb des Weges, hinter einer Hainbuchenhecke, liegen die weiter

zum Haus hin ansteigenden Terrassen der privaten Gärten der

Anwohner. Welch ein Anblick, überraschend. Langsam gehst du die

Treppe hinab. Stille und Ruhe kehren ein. Auf der Wiese döst ein

Bernhardiner. Die Weiden am Ufer flüstern im Wind. Ein Schild erinnert

an den ersten Verwalter des Hauses, Erich Grashoff, der, von den Nazis

vertrieben, nach dem Krieg erneut Verwalter geworden sei und anderen

Verfolgten des „NS“-Regimes und Kriegsheimkehrern bei der Zuweisung

von Wohnraum geholfen habe. Auftauchend aus dem Anblick,

gehst du die Treppe wieder hinauf. Auf der Terrasse des an der

Treppe angesiedelten Restaurants „Zum Hufeisen“ sitzen, an

getrennten Tischen, zwei alte Paare, schweigend, eines von ihnen

speist. Eine Katze, graugetigert mit weißen Pfoten, sitzt auf dem Boden,

springt dann auf einen freien Stuhl, mutmaßlich zum Schlafen.

Ein Mann irrt vorbei, eine FFP2-Maske tragend und irgendeinen

Maskennotstand proklamierend. Die „Anwohnerinitiative Hufeisern gegen

Rechts“ plakatiert an einer Litfaßsäule Informationen zur Siedlung und

gibt Hinweise auf Veranstaltungen. Im Cafe der „Info Station“ des

Welterbes Hufeisensiedlung sitzen relativ schick angezogene, betagte

Eheleute bei Kaffee und Kuchen. Obwohl es sommerlich warm ist,

sitzen sie nicht draußen, es ist ihnen zu windig, in der Tat wirbelt

Kiesstaub immer wieder durch die Lüfte. Du setzt dich trotzdem

hinaus mit einem Espresso. Die verantwortliche Laden-Lady kommt

in ihrem grünen Sommerkleid heraus, setzt sich zu dir, schenkt dir

Schokoladenkekse, und während sie erzählend die Siedlung

dir auseinandersetzt, läßt sie die Gäste im Cafe-Innenraum sitzen.

Cumuluswolken ziehen. Ein kleines Mädchen mit langen Haaren

geht auf dem Gehweg der „Hanne Nüte“, geht irgendwohin,

sein Gehen hat die Anmutung eines ewigen Erscheinens,

als würde ein solches Gehen sich ewig in der Zeit wiederholen,

als wäre es Teil einer ewigen Musik, die von selbst aus dem Nichts

ertönt und niemals verstummen kann. Auf der anderen

Straßenseite steht ein Briefkasten, hinter ihm ragt ein

gewaltiger blühender Holunderbusch empor.

Im Cafe befand sich einst ein Kolonialwarengeschäft, und die es

betreibende Familie wohnte eine Vierteltreppe höher hinter dem Laden.

Du kannst die Wohnung besichtigen, sie war, im Vergleich mit den

damaligen sonstigen Arbeiterbleiben in den dunklen Hinterhöfen,

ein luxuriöser Traum, das Bad mit Wanne, die Küche mit Tisch,

zum Plaudern groß genug, ein kleiner Balkon mit Zugang zum Garten,

die Wände in kräftigen Farben gestrichen. Und so ziehst du weiter,

wieder zum Hufeisenteich, an dessen Ufer gelbe Lilien blühen.

In einem der Gärten auf der Nordseite blüht wieder ein Holunder.

Am Teich sitzt ein älteres Paar in heller Kleidung im Gras,

mit dabei zwei Möpse. Auf der anderen Uferseite sitzen

zwei junge Leute im Schatten und hören aus dem Telephon Musik.

Am westlichen Wiesenabhang spielen drei Kinder im Schatten eines

großen Baumes Ball. Eine mittelalte Frau umrundet unten am Ufer

mit ihrem lütten Pudel langsam den Teich. Im westlichen Hausdurchgang

zum Lowise-Reuter-Ring fegt der Wind wie ein Wüstensturm.

Der nordwestliche Durchgang hat unterschiedlich

gesetzte Klinkersteine. Vor der Miningstraße 35 steht ein über

und über blühender rosa Rosenstrauch. Die Vorgärten sind hier

in der Regel in Autostellplätze umgewandelt worden. Nicht aber

in der Onkel-Bräsig-Straße. Zwischen den Häuserzeilen

mit ihren nach hinten hinaus gehenden schmalen

Kinderspielparadiesgärtchen führen Fußweggängchen entlang,

es findet sich da auch ein abschließbarer, nur den Anwohnern

zustehender Trockenplatz zum Aufhängen der Wäsche.

Im Hüsung gehen die Häuserzeilen rhombenähnlich auseinander

und machen so in der Mitte Platz für einen Platz, eine Art Dorfanger.

Eine Rundbank umrundet einen Kugelahorn, auf der du dich niederläßt.

Kinder spielen Verstecken. Eine englischsprachige Nachbarin spricht

den Vater der Kinder an, der gerade sein Auto belädt. Eine Schlanke

unterhält sich mit wirbelnden Armen mit zwei Siebzigjährigen.

Vor einem Hauseingang stehen zwei jugendliche Schüler, Mädchen

und Junge, es wirkt, als wären sie frisch verliebt. Plötzlich verschwinden

sie im Haus. Eine junge Mutter trägt ihr neugeborenes Kind in einer

Brustschlaufe. Es ist still. Du gehst die Paster-Behrens-Straße hinunter,

ein Schildchen über dem Schild sagt: „bis 1933: Moses-Löwenthal-

Straße“. Es zieht zu. Im Westen rauscht eine riesige

Buche. Eine Schülerin mit Lutscher im Mund geht Richtung

Parchimer Allee. Ein voluminöser Range Rover parkt vor einer

Haustür, ein Fahrzeug, das nicht zu diesen schmalen Häuschen

passen will. Ein Vater und seine Tochter unterhalten sich mit einer

Mutter und ihrem Sohn. Der ist etwa 13 Jahre alt und trägt das neue,

pinkfarbene Trikot der Fußballnationalmannschaft, auf dem Rücken

stehen der Name Wirtz und die Nummer 17. An der Parchimer Allee

hängen an jedem Laternenpfahl Wahlplakate, eines der SPD zeigt

den Kanzler Olaf Scholz und die Brüsseler Politikerin Katarina Barley:

„Deutschlands stärkste Stimmen für Europa“ liest du. Aber was soll

das heißen? Vor dem Mehrzweckladen „Sun Box“ sitzen vier

polnische Handwerker und trinken Augustiner-Flaschenbier.

Überall blühende Gärten, Rhododendren, Mohnblumen,

jetzt rote. Die Hufeisen-Apotheke ist klein und süß, die kleinste und

süßeste Apotheke der Welt, scheint dir. Die Straße Dörchläuchting.

„Seniorenfreizeitstätte Bruno Taut“ an der Ecke zur Fritz-Reuter-Allee.

Die Bäckerei Hufeisen hat seit 15 Uhr geschlossen. Auf dem Vorplatz

unterhalten sich zwei Männer über ein neues Motorrad der Marke

Kawasaki, der eine hat lange, graue Haare und führt seinen

struppigen Hund aus, der jetzt auf dem Kies liegt und hechelnd ausruht,

der Kawasakifahrer hat eine Denkerstirn. Gegenüber kommst du am

Friseur „Sabine Glaubitz“ vorbei. Wimpernfärben ist für 11 Euro zu

haben. Neben dem Hufeisen-Cafe befindet sich „Nicole's Beauty &

Wellness Ecke“, die dir vorhin entgangen ist. Du geht in die „Hanne

Nüte“ und siehst am Eck zur Havermannstraße unter einem Baum elf

Bienenkästen stehen. Über den Krugpfuhl kommst du wieder zur

Fritz-Reuter-Allee. Am Hufeisen-Restaurant setzt du dich ganz außen,

am letzten Tisch, auf Höhe der Treppe, in die Sonne. Der Laden macht

auf dich einen eher ausladenden Eindruck, keinen einem

UNESCO-Welterbe angemessenen. Aus einem Abluftrohr bläst ein

Luftgemisch, das aus ranzigem Bratfett zu bestehen scheint, und

dem Glas des kleinen „Berliner Kindls“, das der Kellner dir höflich

kredenzt, „Zum Wohlsein, mein Herr“, entweicht ein Aroma wie von

brackig-moderigem Spülwasser. Du versenkst dich in den Ausblick

über den Hufeisen-Teich hinweg in die ferne Ferne des Westens

mitsamt der dort zwischen einzelnen Schicht- und Haufenwolken

jetzt gleißenden Sonne. Die wohl zum Restaurant gehörende

Katze legt sich zu dir. Als es ihr in der Sonne zu heiß wird,

zieht sie auf den freien Stuhl um, vom Tisch beschattet.

Winde schraffieren die Teichoberfläche, Teile des Spiegels sind

glatt, andere werden südostwärts gebürstet, andere gen Norden.

Es ist, als verpaßten die Winde dem Teich eine postmoderne,

sich stets nach wenigen Augenblicken wieder verändernde Frisur.

Der Motorradfahrer wird von einem Motorradfahrerfreund

abgeholt, und die beiden brausen davon, indes der Langhaarige

mit seinem Hund Richtung Teich wandert. Der Laden hier wirbt

im Untertitel für sich mit dem Ausdruck „Spezialitäten-Restaurant“;

seine Gerichte wären also auf eine irgendwie besondere Art zubereitet

und hätten eine irgendwie besondere Geschmacksnote. Auf eine

weitergehende Degustation verzichtest du. Du zahlst, ohne

auszutrinken, und nimmst Reißaus. Über den südlichen Durchgang

des Hufeisenhauses gehst du noch einmal durch die

Dörchläuchtingstraße und liest auf dem Denkmal für den einst

hier in der Straße wohnhaften Erich Mühsam, er sei ein

„Dichter für Freiheit und Menschlichkeit“ gewesen.

Vor der „Sun Box“ sitzen immer noch die vier Polen mit ihren

Bieren. Daneben haben jetzt zwei jugendliche Mädchen Platz

genommen, die in ihrem Telephonspiegel ihr Aussehen begutachten.

Das Britzer Night-Life hebt an. Weiter gehst du, westwärts, zum

Gutspark. Der ist schön. Hier kannst du wieder aufatmen.

Vor dem ehemaligen Ochsenstall, jetzt ein Veranstaltungssaal,

sagt eine Schiefertafel: „Herzlich Willkommen zur Hochzeit

von Lara und Wiebke“. Vielleicht sind das die von der Trauung,

an der du vorhin vorbeigefahren bist, ohne den Bräutigam

entdeckt zu haben. Der Schloßgarten liegt fein säuberlich

akkurat verlassen da. Das Schloß, ein ehemaliges Herrenhaus.

Neben der Dorfkirche schläft der Kirchteich verträumt im Abendlicht.

Ein Banner am Zaun der Kirche sagt: „Du bist nicht allein.“

Zurück im Gutspark, setzt du dich in den Garten des Restaurants

Buchholz, das nach eigener Angabe eine „legere Landhausküche“

anbietet. Die Spargelcremesuppe schmeckt. Vom „Hauswein“,

der angeboten wird, kann dir die Kellnerin nicht sagen, was für einer

der sei, sie wisse nur, daß er rumänisch sei und sehr gut munde.

Du läßt dich darauf ein, und in der Tat, der Wein mundet nicht schlecht.

Sapperlot!, würde Eugen Rapp jetzt sagen. Auf dem Weg durch Alt-Britz

Richtung Blaschkoallee kommst du an der International Christian

Church vorbei, vor der Tür steht ein Diplomatenauto, es wird gerade

ein Gottesdienst zelebriert, der Prediger hat einen amerikanischen

Südstaatenslang und bringt die Menge regelmäßig zum Schreien,

wie du draußen auf der Straße hörst. Es ist, als träten die Gottesanrufer

auf exzentrisch unmittelbare Weise in Verbindung mit ihrem „Gott“.

Der jetzt fast leere Bus 170 hält vor dem Bürgeramt und trägt dich wieder

zurück, wieder am BVG-Betriebshof vorbei, auf dem nun zig Busse

akkurat nebeneinander geparkt stehen, bereit für die Nachtruhe.

Im Westen geht über den Kleingärten die Sonne unter.

17.5.2024


ZEHLENDORF

Die orangefarbene, gemütliche Bummelbahn, die U 3,

in Dahlem-Dorf bestiegen, rollt Richtung „Krumme Lanke“,

oberirdisch, in einem eingeschnittenen Tal, und nach kurzer Fahrt,

mit nur wenigen Gästen im Abteil, kommt sie, es ist halb drei Uhr,

an der Haltestelle „Onkel Toms Hütte“, inmitten einer stillen

Ladenpassage, vor Regen geschützt durch ein spitzes Glasdach,

zum Stehen. Du steigst aus und drehst eine Runde. In der

Ladenstraße Süd schlurft ein jugendlicher Schüler an dir vorbei

die Rampe herauf, so wie nur jugendliche Schüler schlurfen können.

Grundschüler neigen eher dazu, zu hüpfen, was sie heute freilich,

ihrer schweren Schulranzen wegen, kaum mehr tun. Die Jeans Corner

wartet auf Kunden. Bei Bäcker Wiedemann nimmt jemand die Backware

entgegen. Die Zehlendorf Schneiderei ist gut sortiert, an der Wand

sind alle möglichen Nähutensilien mit einer bis ins einzelne gehenden

Sorgfalt angebracht. Ob ein Vorfahr von Schuhmode Schmiedling

ein Schmied war? Der Huf eines Huftiers ist ein schuhartiger Überzug

aus Horn am Zehenende, und Schuhe sind gewissermaßen menschliche

Hufen; bei Stepptänzern auch mit Steppeisen beschlagen.

In der Buchhandlung Born fragst du die Buchhändlerin Frau Kaiser,

ob sie das Buch „Gute Nachbarn. Gedichte, Briefe, Texte

und Bilder“ von René Char und Peter Handke, herausgegeben von

Katharina Pektor, zufällig vorrätig hätte, womit du kaum rechnest,

denn welcher Dahergelaufene würde ausgerechnet hier in der

Ladenpassage ein solches eher Spezialisten und Tagträumer

ansprechende Buch kaufen? Und so bist du überrascht, als sie es,

ohne mit der Wimper zu zucken, sogleich vom Büchertisch nimmt

und dir überreicht. Jetzt mußt du es fast auch kaufen, wenn dich

die aufgerufenen 28 Euro auch innehalten lassen, im übrigen ist es

ziemlich schwer - warum es mit sich herumschleppen? Doch seis drum.

An der Kasse springt dir noch das von Architekt Winfried Brenne

für den Deutschen Werkbund Berlin verfaßte Buch über Bruno Tauts

Berliner Bauten ins Auge, und weil hier, außerhalb der Passage, die

„Waldsiedlung Onkel Toms Hütte“ sich befindet, dem nicht zuletzt

von Bruno Taut, dem „Meister des farbigen Bauens“, wie es auf dem

Titelblatt heißt, maßgeblich entworfenen Beispiel für „Neues Bauen“

im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, nimmst du es mit in Kauf und mit

auf den Weg. Beim Hundefriseur „Die schicke Käthe und der flotte Bolle“

wird gerade ein sandblonder Pudel gestutzt. Er sitzt dabei nicht

in einem Frisierstuhl und trägt schon gar nicht einen Frisierumhang,

wie er Menschen in solchen Fällen umgelegt wird, um die Kleidung

vor dem vom Kopf herabfallenden Haar zu schützen, da bei ihm

schließlich der ganze Körper voller Fell ist und ein Frisierumhang

nur hinderlich wäre, sondern er steht auf einem Frisiertisch und wird

von seiner menschlichen WG-Partnerin streichelnd beruhigt, während

die Stylistin an seiner Rückseite herumschneidet und -zupft.

Oben im Eingangsbereich der Bahnhofshalle an der Onkel-Tom-Straße

hat das „Reformhaus“ geöffnet, seine Idee entstammt, wie die Idee

der architektonischen Moderne aus dem Geist der

im 19. Jahrhundert als Antwort auf die Industrialisierung

entstandenen Lebensreformbewegungen. In „Toms Kaffeerösterei“

in der Ladenstraße Nord trinkst du einen Espresso, Mischung

„Toms Extra-Stark“, kräftiger als der von dir in der Filiale in der

Nonnendammallee in Siemensstadt genossene.

Die Barista sagt: „Alexa, ein wenig lauter“, und du denkst, sie meint

die Mitarbeiterin, die wie eine Alexa aussieht. Weil Alexa aber offenbar

nicht lauter stellt, wiederholt sie es, dieses Mal lauter und auch leicht

ungehalten, und nun endlich wird die Musik ein wenig lauter. Als sie

dann sagt: „Alexa, spiel Tausendmal berührt“ und Alexa den Titel

mit einer Computerstimme ansagt, merkst du, Alexa ist nicht die

Mitarbeiterin, sondern ein Musikabspielgerät. Nach dem Lied sagt sie:

„Alexa, spiel Ohne dich schlaf' ich heut Nacht nicht ein“, und das Lied

der Band „Münchener Freiheit“ aus den Achtzigern wird gespielt.

Anschließend sagt sie: „Alexa, wiederhol das Lied“ - und sie singt mit:

„... das was ich will bist du“. Vor dem Cafe, am Abhang der Rampe hinab

zum Bahnsteig, stehen die Sitzgelegenheiten schräg, und die Gäste

sitzen auch schräg. Über der Eingangstür hängt ein Photo, das in der

Bildmitte den derzeitigen deutschen Bundespräsidenten nebst Gattin

lächelnd hier im Cafe zeigt, umringt von Tom und seinen Mitarbeitern,

es scheint, als würde bei der staatsoberhäuptlichen Morgentoilette gerne

Toms Sud hinter die Binde gekippt, und der Präsident wollte es sich nicht

nehmen lassen, hier vor Ort einmal dem Röster persönlich die

Aufwartung zu machen und ihm dankbar die Hand zu schütteln. Du

gehst weiter, hinaus zur Argentinischen Allee, und besichtigst en passant

die Wohnkunstwerke von Bruno Taut. Es ist wahrlich, als gingest du

inmitten eines über Waldflächen verteilten Skulpturen-Kunstwerks. Die

Autofahrer durchfahren das Kunstwerk, so ähnlich, wie die U-Bahn durch

das zum Denkmal erhobene Einkaufszentrum fährt. Eine der knorrigen,

am Wegrand stehenden Kiefern tätschelst du im Vorbeigehen.

An der Ecke zur Riemeisterstraße steht auf einem Stein-Denkmal:

„Architektur ist die Kunst der Proportion. Bruno Taut 1880 - 1938“.

„Das Haus - Birke, Kiefer, Blumen und Wiese gehören dazu.“

An der Ecke Riemeisterstraße und Wilskistraße steht an einem

Eckhaus das Wort FRISIERKUNST, rote Buchstaben mit weißen

Neonröhren darauf, ein Wortkunstwerk, Teil einer „Farblichtmusik“

(um das Wort von Alexander Laszlo aufzugreifen) wie überhaupt die

ganze Siedlung einer symphonischen Aufführung eines von Menschen

bewohnten Farblichtmusikwerks gleichkommt. Birken und Kiefern und

sonstige Auswüchse in der Tat überall, und auf den Dächern der

Autos klopfen immer wieder Kiefernzapfen einen heimlichen Rhythmus.

In der Wilskistraße knorrt eine besonders alte Kiefer empor.

„Im Waldhüterpfad“, „Im Gestell“ blühen weiße und rote

Rhododendren und weiße und violette Flieder. Die Sonne kommt leicht

durch, 15.55 h. „Im Fischtal 84“ steht ein haydngelbes Haus, vor dem

ein weißblühender Kastanienbaum aufragt, weiße Rhododendren und

lila Flieder blühen. Vor der Sporthalle in der Onkel-Tom-Straße türmt

eine Eiche. In der Zufahrt zur Straße „Im Kieferngrund“ landet

ein Eichelhäher auf dem Zaun und beobachtet dich. Ein Tief hat kalte

Luftmassen herangesaugt, die Finger sind klamm. Links die Kirche

der Evangelischen Emmaus-Gemeinde. „Alles, was ihr tut, geschehe in

Liebe.“ (1. Korinther 16,14) liest du. Die Gemeinde hieß „früher:

Ev. Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde“, wie in kleinen Buchstaben unter dem

Gemeindenamen steht, aber erläutert wird nicht, wann und warum die

Umbenennung erfolgte. Auf einem Baumstumpf neben der Kirche

blühen Vergißmeinnicht. In dem „Begegnungs-, Beratungs- und

Freizeitzentrum für ältere Bürger“ namens Hertha-Müller-Haus

neben der Argentinischen Allee üben sich ältere Damen in „kreativem

Gestalten“. Du kommst zur „Waldsiedlung Krumme Lanke“, früher eine

„SS-Kameradschaftssiedlung“, wie ein städtisches Schild am

Straßenrand sagt. Am Selmaplatz 5 ist eine Gedenktafel

für den Historiker Gerhard Schoenberner angebracht, der sich für die

kritische Aufarbeitung der „NS“-Unzeit mehrfach erfolgreich einsetzte.

Du spazierst durch die ehemalige „SS“-Siedlung und fragst dich,

wie es sich heute wohl in einem solchen „SS“-Reihenhäuschen lebt?

Zwischen den Häuserzeilen befinden sich kleine, offene

Kiefernwaldplätze. Aus einem Reihenhausfenster weht die Deutschland-

Flagge, warum? Im „Himmelsteig“ ist an einer Laterne ein Schild

angebracht, auf dem folgendes steht: „Neighborhood Watch / Program in

Force / We immediately report / all SUSPICIOUS PERSONS and /

activities to our Sheriff's Dept.“ Und darunter: „Copyright: 1982 The Sign

Center, Inc. PO Box 4097 San Diego, Ca 92104“. Ist das Schild noch

von den Amis? Oder hat hier ein Anwohner sich einen womöglich

nützlichen Scherz erlaubt? „Im Kinderland“. An der Ecke Quermatenweg

und Ithweg kommst du am Ort der Entführung des CDU-Politikers Peter

Lorenz vorbei, wie wieder ein städtisches Schild informiert. In diesem

Fall erreichten die Mordterroristen der „Rote Armee Fraktion“ ihr Ziel und

preßten im Gefängnis einsitzende „RAF“-Mitglieder frei; später ließ die

Bundesregierung sich hierauf nicht mehr ein, mit fataler Folge für den

entführten Hanns Martin Schleyer. Im Ithweg 1 erblüht Goldregen, im

Ithweg 6 blühen an der Hauswand Glycinien. In der Eschershauser

Straße Ecke Süntelsteig steht ein Briefkasten, tägliche Leerung 17 Uhr,

samstags um 14.15 Uhr. Wieder eine große weißblühende Kastanie

am Wegrand. Aus den Gärten überquellende Flieder. Eine Jugendliche

mit Pferdezopf führt ihr Pferd über den Pferdeplatz an der Onkel-Tom-

Straße. Du gehst oberhalb der Pferdeanlage an Koppeln und

Pferdeställen vorbei, im Wald hinab Richtung Riemeisterfenn und

Krumme Lanke. Vögelsingen im Wald. Am Ufer der Krummen Lanke

kommt um 17.45 Uhr die Sonne heraus, wenn auch matt.

Goldglanz auf dem windgeriffelten Spiegel. Von der Avus das

gleichmäßige Dröhnen der Autos. Vögel singen variantenreich.

Enten jagen einander. Ein Graureiher fliegt erhaben über den See,

landet am gegenüberliegenden Uferröhricht. Ein Güterzug fährt neben

der Avus. Eine Blonde mit grauen Haarsträhnen entkleidet sich und

geht langsam ins Wasser; schwimmt. Die „SS“-Reihenhäuschen, sie

erscheinen dir wie für Zwerge gebaut? Am Wasserkäfersteig Ecke

Täubchenstraße wieder ein Briefkasten, tägliche Leerung um 17 Uhr,

samstags um zwei. Du kommst noch mal durch die ehemalige

„SS“-Siedlung, es sind überwiegend hübsch hergerichtete Häuschen

mit blühenden Rhododendren etc. Kinderwagen, Spielzeug, bei Familien

offenbar beliebt, kein Durchgangsverkehr, der Wald, der See, so nah,

für Kinder ein Traum. Für dich wäre es ein Alptraum. Es nieselt. Adieu.

16.4.2024


SCHLACHTENSEE

Um halb zwei Uhr am Mittag willst du in der Buchhandlung

am S-Bahnhof Schlachtensee das Buch „Wozu? Eine Philosophie

der Zwecklosigkeit“ aus der Werkstatt von Michael Hampe

kaufen, um es am Ufer des Sees zu lesen. Du erhoffst dir

von ihm einen neuen Aufschluß über den Sinn des Lebens.

Die Buchhändlerin sagt freilich, es sei, nach einer lobenden

Besprechung in einer Zeitung, derzeit nicht lieferbar.

Das ist für den Autor erfreulich, und so miterfreut,

wenn auch buchlos, machst du auf der Stelle kehrt.

Nach einem in der Sonne langsam hinuntergeschütteten Espresso

am gegenüberliegenden, frisch renovierten Cafe „Nah am Wasser“

gehst du ans Seeufer und wanderst gegen den Uhrzeigersinn.

Heute ist Frühlingsanfang, und du meinst, Mörike besinge

in seinem Gedicht „Er ist's“ nicht zuletzt den Vorfrühling, jene

verheißungsreiche Zeit zwischen Winter und Frühling, in der die

bald kommende Blütezeit ihren Boten erst noch voraussendet

in Form eines Windes, des „Flatterns“ eines „blauen Bandes“,

einer plötzlich helleren Stimmung, die den Wanderer

auf freier Flur des „streifenden“ Frühlings baldige Ankunft

„ahnungsvoll“ erkennen und durch die Art hören läßt, wie der Wind

in den noch blätterlosen, freilich schon knospenden Bäumen saust, als

erschallte „von fern ein leiser Harfenton“. Der Frühling ist noch nicht da,

aber mithilfe des blauen Telephons, des luftigen Telephonkabels

läßt er sich „vernehmen“ und teilt mit, er „wolle bald kommen“

und mit ihm auch die noch „träumenden Veilchen“.

Denn an einem Tag wie heute sind die Veilchen längst da,

und es fehlt auch nicht an Blüten im Revier, Forsythien, Weißdorne,

Mandelbäume, Buschwindröschen, japanische Kirschen,

Osterglocken blühen voll, der Frühling kündet sein Kommen

nicht erst noch an, er ist da. Die Luft ist wärmer als in den

vergangenen Tagen, die Menschen sitzen jackenlos im Freien.

Vögeltirilitirila. Ein Mann badet, immer wieder untertauchend.

Wozu? Eine junge dreiköpfige Familie sitzt am Ufer. Wozu?

Ein jugendliches Paar, beide mit ausgezogenen Schuhen,

hält am Ufer Händchen. Wozu? Eine Läuferin läuft. Wozu?

Mutter und Tochter unterhalten sich im Gehen. Wozu?

Die Läuferin, die gerade dich überholte, umarmt am Ufer jetzt

eine Eiche. Wozu? Zwei Sechzigjährige unterhalten sich,

er sagt: „Und sie arbeitet in einem Verlag?“ und fährt mit

senkrechten Handflächen durch die Luft nach unten;

wahrscheinlich hat die Frau eine in einem Verlag arbeitende

Tochter, die beiden befinden sich wohl in einem frühen Stadium

ihrer noch offenen Bekanntschaft. Ein siebzigjähriger Elektroradler rast

in Vollmontur und verbissen vorüber, als fürchtete er, zu spät

zu seiner Beerdigung zu kommen. Eine Frau in mittleren Jahren

liebt ihr Rad und schiebt. Paare schlendern am Ufer entlang. Zwei

junge Frauen haben nach dem Baden ihre Handtücher zum Trocknen

auf einem am Boden liegenden Stamm in der Sonne ausgebreitet.

Wegrandbüsche haben frisches, weiches Blättergrün.

Der Weg macht eine Biegung nach links, und Sitzbänke liegen

in der Sonne, du nimmst die Einladung einer Bank an

und prüfst den Ausblick von ihr. Der Blick wandert über das

gold getäfelte Seewasser. Die blinkenden Sonnensterne

auf dem Spiegel schweben zeitlos. Es ist 14.22 h.

Das Schilfrohr raschelt im warmen, leichten Wind.

Zwei miteinander befreundete Frauen unterhalten sich

auf der Nachbarbank in einem leisen, einschläfernden

Parlando. „Nein, diese Woche bin ich krank, nächste Woche

habe ich Urlaub.“ Zwei jugendliche Mädchen führen ihr Parfum

und einen wackeligen Hund spazieren. Mutter und Tochter,

beide schon weißhaarig, gehen Hand in Hand vorbei.

Ein lauter Passagierjet erscheint, du kannst ihn aber nicht

sehen. Vom Avus-Wald her dröhnt ein langer Güterzug.

Zwei Radler mit einem mit ihnen mitspringenden weißblonden

Familienhund. Eine Läuferin mit Gewichtsweste und neongelben

Strümpfen. Auf der anderen Nachbarbank döst eine fünfzigjährige

Raucherin. Die goldene Täfelung auf dem Wasser zieht sich

wegen eines durch die Sonne ziehenden Kondensstreifens in

die Ferne zurück. Wie der Kondensstreifen sich auflöst, kommt

die Täfelung zurück. Ein großer Flieger zieht exakt über den See,

14.53 h. Ein Schrei einer Jugendlichen aus dem kahlen Wald.

Ein grimmig dreinblickender Sechzigjähriger rast wütend vorbei.

Ein Bläßhuhn trompetet. Eine junge Mutter schiebt ihr Kind

im Sportwagen. Ein Hubschrauber überquert von links den

See, hinter ihm fliegt eine Piper. Hohe Wellen am Himmel. Ein

siebzigjähriges Ehepaar setzt sich auf eine freigewordene Bank,

die Frau sagt „wie schön!“, und er trägt Funktionskleidung, aber wozu?

Sieben Kondensstreifen kreuzen sich, recht schnell zerfallend.

Ein vorbeihechelnder Läufer mit Hinterkopfzopf starrt dich an,

als wärst du eine fragwürdige Erscheinung. Ein Deutscher und

eine Philippina unterhalten sich auf Englisch über China und

die Bedrohung der Philippinen durch das Rote Reich.

Eine hübsche Radlerin setzt sich auf eine freie Bank.

Kirchenglocken läuten, von der Johanneskirche in der

Matterhornstraße? 14.55 h. Von fern, von der anderen

Seeseite, ein leiser Laubbläserton - wozu? Zwei Frauen

bequemen sich zu dir, eine alte und eine junge, die junge,

neben dir, trägt „Converse“-Turnschuhe, schwarze Leggings

und einen offenen weißen Winteranorak. Die Radlerin telephoniert

zu laut; sie gehört zu jenen, die intuitiv glauben, man müsse

in das Telephon hineinrufen, damit es auf der anderen

Waldseite vernehmbar wieder herausschalle.

Die junge Frau macht darauf aufmerksam, daß in der Ferne,

am Horizont des Sees, sich etwas bewege. Es ist kaum

erkennbar. Dann kristallisiert die Kontur eines Stehpaddlers.

Er nähert sich langsam, fast zeitlos. Immer wieder klatschen

die Flügel der Bläßhühner auf den Spiegel. Schäfchenwolken

verdichten sich, die Sonne kommt nur mehr matt hindurch,

der See wird mattgolden, 15.11 h. Die gegenüberliegenden

Uferwaldhänge erscheinen luftig leer. Ein alter Mann, Typ

Dirk Roßmann, trägt rote „Walbusch“-Cordhosen, die Uniform

des sozialdemokratischen, gutbürgerlichen Freizeitmannes.

Ein Schwarm Mückchen überfällt dich von hinten, als regneten

gewichtslose Sternchen auf dich herab. Wozu? Wozu nur wollen so

viele das Buch „Wozu?“ lesen oder doch wenigstens kaufen?

Der Zweck ist die Zwecklosigkeit. Die Hoffnung, den zwecklosen

Zustand zu erreichen? Zwecklos. Ein älterer vorbeigehender Mann

trägt Barbourjacke und einen pinken Pullover. Ein Radler erscheint,

bei dem alles grün, aber nicht einheitlich grün, ist, vom Rad

bis zur Kleidung. Ach, ist das der Ranger? Eine in unterschiedliche

lila Töne gekleidete Dicke taucht auf. Eine Wolke wirft einen Schatten

auf den See, 15.24 h. Die Läuferin mit der Gewichtsweste kommt

wieder vorbei. Um 15.29 h scheint die Sonne wieder ein wenig hervor.

Die Zwecklosigkeit kann man nicht erobern. Ein Kampf zweier

Bläßhühner, aus Liebe? Manche Menschen gehen vorbei und

kommen nach einer Zeit wieder zurück. Andere gehen vorbei

und kommen nicht wieder. Welchen Zweck erfüllt eine

Philosophie der Zwecklosigkeit? Wenn sie einen Zweck hat,

dann ist sie nicht zwecklos. Aber verfehlt sie dann nicht auch ihr

Ziel, die Zwecklosigkeit, und ist gerade deshalb doch zwecklos?

Wenn sie hingegen von Anfang an zwecklos ist, hat sie dann

ihren Zweck erreicht? Am Horizont türmen Wolken auf,

als braute ein Gewitter sich zusammen. Ein Mann schwimmt vom

linken Ufer in den See hinaus. Hinter ihm öffnet sich ein Schleier

aus Wellen. Ohne Sonne wirds ein wenig kühl. Die Gewichtsläuferin

erscheint wieder, ihre 3. Runde, 15.58 h. Du stehst auf und bewegst

dich Richtung Fischerhütte. Wozu? Vor dem Terrasseneingang wartet

ein Tisch mit weißem, gestärktem Tuch, du setzt dich auf die Bank

mit dem Rücken an der Wand. Vor dir ragt die Jahrhunderte alte

Eiche empor. In den nächsten Wochen wird sie sich neu einkleiden.

Wozu? Die Frage stellst du dir wohl nicht, du Eiche der Zwecklosigkeit!

20.3.2024


SIEMENSSTADT

Der zwölf Meter lange Eindeckerbus 139 röhrt weiter über die

Rohrdammbrücke, rohrdammwärts, über die Spree, an deren

Ufer Schilfrohrspeere aus dem Wasser schießen oder doch, in

deinen Augen, zu schießen scheinen. War es heute vormittag

neblig-klamm und frostig, strahlen jetzt, am Nachmittag, 14:53 h,

Himmel und Sonne blau und golden. An der Haltestelle des

Verteilerzentrums der Deutschen Post und der DHL steigt ein

DHLer ein, pflanzt sich hinter dich und nebelt dich mit seiner Fahne

ein. Der Bus durchfliegt den Wohlrabedamm. Unter dem aufgelassenen

Siemensbahnviadukt hindurch. Über den Siemensdamm. Wieder unter

dem Viadukt hindurch. Einkaufszentrum billig. Edeka Urbschat.

„Berliner Rouladenhaus zur Quelle“. Das Restaurant „Yogi Haus“.

Nonnendammallee Ecke Rohrdamm, die Siemensverwaltung.

Am Schaltwerk entlang. Von links tauchen die Kraftwerke Reuter

und Reuter-West auf, nach Ernst Reuter benannt, hoch jagt

in den Himmel blütenweißer Rauch. An der Haltestelle

Paulsternstraße verläßt du den Bus. Sie ist voll Kies, im Winter

gestreut, damit niemand ausrutscht, und doch rutschst du gerade

deswegen fast aus. Du bist dankbar, daß es an der keines Wegs

lauschigen oder klösterlichen Nonnendammallee eine Ampel gibt;

denn angesichts der bereiften, nach Spandau bretternden Lawinen

beziehungsweise der von dort her in die Stadt hineinstaubenden

Gegenlawinen käme es einem Kamikaze-Unterfangen gleich, in sie

sich zu stürzen in der Hoffnung, auf der anderen Seite ungerupft

wieder herauszukommen. Du rufst durch Bedienen der Taste das

Fußgängersignal. Hunderte von Autos, Hunderttausende von Kilogramm

an kinetischer Energie werden deinetwegen zum Stillstand gebracht.

Deine kinetische Energie ist mit jener der Autos nicht zu vergleichen.

Noch stehend verbrennen die meisten von ihnen vergleichsweise viel

Energie. Wieviel Raum diese Rollmöbel einnehmen. In vielen sitzt ein

Mensch, dessen Körperbreite durchschnittlich vierzig Zentimeter,

dessen Körpertiefe dreißig Zentimeter und dessen Körperhöhe

im Sitzen einhundertvierzig Zentimeter mißt. Und welche Maße,

und Ausmaße, haben diese tonnenschweren Rollstühle? Manche

von ihnen haben ein erhöhtes Gestell, und ihre meterhohen

fletschenden Kühlergrille wirken auf den Fußgänger zeitweilig

bedrohlich, unmenschlich, als zeigte ein neuzeitlicher Tyrannosaurus

rex seine Fangzähne, als würde er nur auf das grüne Autosignal

warten, um dich mit gelassen sadistischem Wohlwollen zu zermalmen

oder dich mit hupendem, röhrendem Gebrüll von der Fahrbahn

zu jagen. Wieviel Energie verbrauchst du, wenn du zu Fuß die Straße

überquerst, wieviel Feinstaub wirbelt durch den Abrieb deiner

Sohlen auf? Und ein Elektroauto, ist das ähnlich „schmutzig“ wie ein

Verbrennerauto, zumindest dann, wenn der Strom und die Batterie

nicht aus „sauberer“ Energie erzeugt und hergestellt werden?

Was nützen die in der Regel aus der orwellschen und genozidalen

„Diktatur der Mitte“ eingeschifften Solarpaneele, um „sauberen“

Strom für die Elektroautos zu gewinnen, wenn sie dort mit Kohlestrom

fabriziert werden? So erreichst du das andere Ufer. Wohin des

Wegs nun gehen? Die weiße Rauchsäule lockt dich an, und auf der

Karte siehst du eine Straße zur Alten Spree. Nichts wie hin! Du

gehst in die Otternbuchtstraße, der Name an eine Zeit erinnernd, zu

der in der Spree an einer sich öffnenden Bucht Ottern schwammen,

nimmst du an. Über die Boltonstraße gelangst du zur Ecke Großer

Spreering. In einem eingezäunten, graslosen Stück Land bauen

zwei Männer an einer Bude, deren Zweck du nicht erraten kannst.

Ein Würstelstand für die Kraftwerksarbeiter, die nach Dienstschluß

Lust auf eine Bratwurst mit Senf und Schrippe haben? Auf dem Hof

der Firma Gerken stehen Miet-Arbeitsbühnen, schon erreichst du

den Parkplatz des Kraftwerks. Von rechts kommt ein Wachmann mit

Hund an der Leine, der mutmaßlich einmal mußte. Er teilt dir im

Vorbeigehen mit, du könnest hier nicht weitergehen. Du blickst

hinauf zum fast senkrecht über dir aus dem Kamin rasenden Rauch

und bist immer noch erstaunt über dessen hohe Geschwindigkeit.

Weiter oben verwandelt er sich in eine blütenweiße Cumuluswolke,

langsam ostwärts ziehend. Du liest am Eingang ein Schild:

„Betriebsausweis unaufgefordert vorzeigen“, das in fünf Sprachen

übersetzt wird. Ein Pförtner, vom Hundeausführer unterrichtet,

kommt heraus und sagt, im Netz könnest du unter „Vattenfall

Punkt d e Schrägstrich irgendwat“ eine Führung buchen, zum

Beispiel für eine Schulklasse, und so womöglich bis zur Alten Spree

vordringen. Du dankst ihm für seine Auskunft und siehst dich

eine Schulklasse auftreiben, während er zurück in seine Kabine

kehrt. Jenseits der Pforte hängt eine Regenbogenfahne, so gut

sichtbar, als wäre sie die Firmenfahne. Sie steht, jenseits dessen,

was alles sie bedeuten kann, hier „für Toleranz und Vielfalt“,

dem derzeitigen „westlichen“ Zeitgeistschrei entsprechend,

in der Sprache des Unternehmens: „Vattenfall Diverse Energy“,

wenn auch hier fast allein Steinkohle verfeuert wird. Unter dieser

Überschrift nahm das Unternehmen am Berliner Christopher Street

Day 2023 mit einem eigenen Wagen teil. Ob das Unternehmen

dieses „Bekenntnis“ ernst meint oder nicht, es verleiht sich damit

einen „fortschrittlichen“, „modernen“ Anstrich, ganz egal, welche

Gedanken die „Heizer“ sich darüber machen, wenn sie an den

glühenden Öfen die Steinkohle den Flammen übergeben.

„Over the rainbow“ siehst du wieder diese blütenweiße Flugasche

nach oben in den Himmel rasen, diese „unterirdischen“ Farnwälder

eines fernen Landes einer fernen Zeit, nach hunderte Millionen Jahre

langem, sedimentierendem Schlaf binnen eines Wimpernschlags

verbrannt. Asche zu Asche, Staub zu Staub, das Leben ist der

Augenblick dazwischen. Du gehst zurück, an den Handwerkern des

möglichen Wurstschuppens vorbei, und weiter die Otternbuchtstraße

hinab, unter den Förderbandbrücken hindurch. Auf einem verblichenen

Schild steht „Braunkohlesilos / Kohlenlager / Verteiler A und B“.

Links sitzt das schmuckdosenhafte Bürogebäude der Firma „Wörpel

Bau“. Zwei Heizer mit aufgerüsteten Helmen mit roten und

grünen Lichtknöpfen, Lampen und Funkantennen begegnen dir.

Sie sagen, dort vorn sei nur das Werkstor und links eine

Kleingartenkolonie, ich käme da zur Spree nicht durch.

Dessen ungeachtet gehst du weiter und winkst an der Pforte

dem Pförtner zu, der auch gleich heraustritt. Er trägt ein

kurzärmeliges Hemd, damit die Mitwelt seine Tätowierungen

besichtigen kann. Tatuierungen haben in den letzten dreißig

Jahren, über ein anfangs möglicherweise vorüber gehendes

Modephänomen hinaus, epidemisch sich ausgebreitet, und ein

Ende dieser deines Wissens nach weder soziologisch noch

phänomenologisch noch demopsychoanalytisch verstandenen

Volkshautbehandlungen scheint nicht absehbar. Wann fühlt das

Volk sich wohl in seiner Haut? Die Epidermis eine Projektionsfläche,

eine Gewebeleinwand auf Knochenrahmen für Pieks-Picassos,

die mit eingeritzten Farben sich verewigen? Tätowierungen als

Volkskunst des 21. Jahrhunderts? Jeder tatuierte Mensch sei,

wenn schon kein Künstler, so doch ein Kunstwerk, zu Markte

getragen, um Aufmerksamkeit zu erregen und Anerkennung

zu finden? Oder um sich als Teil eines sich neu erfindenden Volkes

zu erfahren, des Stammes der Tätowierten? Spricht hieraus gar die

Sehnsucht, nach dem selbstverschuldeten Zweiten Weltkrieg und

dem Holocaust „einfach“ wieder frei zu einem Volk ja sagen zu können,

ohne schlechtes Gefühl, anders als in der ersten Nachkriegszeit, in

der die in ihr Geborenen erfahren mußten, in ein Mördervolk geboren

und Teil desselben zu sein? Verwandeln sich die später Geborenen,

oder doch ein nicht unerheblicher Teil derselben, eben in ein

„jungfräuliches Volk“, das Hautzeichen tragende, über die gesamte

Körperhaut geritzt und auf die Weise das an der Stirn geschriebene

Kainsmal unsichtbar machend? Mit diesen, dir selbst durchaus nicht

unnärrisch erscheinenden, flüchtigen, von keiner dir bekannten

wissenschaftlichen Empirie gestützten Schwungübungen hängst du

dem Pförtner und seinen Hautbemalungen nach, als ließe er dich an

seinen Armen im Kreise wirbeln, während du die rund vierhundert Meter

der monotonen Straße bis zum Eingang der Kolonie Spreewiesen hinter

dich bringst, obendrein in dem Bewußtsein, daß diese Peckerln auch bei

anderen Völkern sich ausbreiten und manche Menschen sie womöglich

„schlicht“ schön finden. Aus den Augenwinkeln siehst du an der

Fabrikwand noch die Spuren des Schriftzugs „Bewag“, der Name

des Unternehmens, bevor es von den Schweden verschlungen wurde.

So ratlos du dem Phänomen der Tintennadeleien gegenüberstehst, so

ratlos stehst du dem der Gartenkolonien gegenüber. Zwei, drei Autos

parken außerhalb. In dem winterlich verwaisten Gelände begegnet dir

eine rotblond wuschlige Perserkatze, die vom Weg aus mit einem Satz

auf das Törchen eines Gartens springt und von dort weiter seines

Spazierwegs zieht. Ein Flieger im Landeanflug auf Schönefeld; er wird

eine Rechtskurve beschreiben und dann von Osten her landen.

Plötzlich steht neben dir eine ältere Frau, und obwohl du selbst

erschrocken bist, fragst du sie nach dem Weg, damit auch sie

von ihrem Schreck sich erholen kann. Ob der Weg am anderen Ende

aus der Anlage wieder hinaus führe? Nein, du kämst am Osttor nicht

hinaus und müssest den gleichen Weg zurückgehen, antwortet sie,

während sie das Schloß an ihrem anthrazitkohlegrauen

240-Liter-Müllbehälter der Marke Sulo mit einem Schlüssel aufschließt.

Eine abschließbare Mülltonne hast du noch nicht gesehen, abgesehen

davon, daß sie jetzt in diesem Gebiet ohnehin kaum von Unbefugten

mißbraucht werden dürfte, denkst du, während im Hintergrund weiter

der weiße Kraftwerksrauch in die Höhe schießt und die daraus

entstehenden Wolken über euch hinwegziehen. Du siehst zu deiner

Rechten ein Gewässer, schon Teil der Faulen Spree? Enten dümpeln

darauf. Es erscheint noch ein Flieger, 15:42 h. Weiter ostwärts ein

Wäldchen, leise fauchend. Am nordöstlichen Ende gehst du am Zaun

der Steinkohlehalde entlang. Ein blauer Schaufelradbagger mit langem

Arm und Förderband steht still, zwei Heizer scheinen etwas zu

reparieren. Ein Gänseschwarm-V taucht auf. Am Osttor teilt ein etwa

siebzig Jahre altes Schild in dich ergreifender taubenblauer Farbe

in kaum mehr lesbarer weißer Schrift mit: „Hier gilt die StVO“.

Das verschlossene Tor überklettern? Aber wohin führt der

dahinterliegende Weg? Sicher bist du dir nicht, du läßt es bleiben

und kehrst um. Zurück in der Kolonie, niest irgendwo ein Mann in

einem Garten. Als du an der Pforte wieder vorüberkommst,

unterhält sich der Pförtner mit dem Fahrer eines Wagens der

Firma Halter: „Sprengung Abbruch Kampfmittelräumung“.

Ein von Schönefeld startender Flieger dröhnt Richtung Nord-West,

16:05 h. An der Ecke zur Motardstraße steht ein doppelstöckiger

Autotransporter aus Litauen bei laufendem Dieselmotor. Der obere Stock

ist vollgeparkt, der Fahrer spaziert über den Gebrauchtwagenparkplatz

und sucht nach weiteren beschädigten Autos für das Baltikum.

Nah dem Werk „Osram“ parkt ein alter, schwarzer Mercedes 250

Automatic, ein elegantes Auto. Funkmast Motardstraße.

Das Siemens-Werk in der Nummer 54 nennt sich „Siemens Energy AG /

Mixed Reality Development & Experience Center / Technology

Education and Competency Center, Gas Turbine Berlin“. Welche

Realitäten hier entwickelt werden, du hast spontan keinen Schimmer.

Gegenüber, bei den Wasserbetrieben, sagt ein großes Schild, die

Kantine sei „Montag bis Freitag von 06:00 - 12:00 Uhr“ geöffnet.

In der Ferne glüht der backsteinerne Siemensturm. Am Rohrdamm öffnet

sich die Tür der „Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung /

Deutsche Rentenversicherung“, und zehn Studenten verlassen das

Gebäude, 16:30 h. Nebenan verkündet „Meen Friseur“ auf einem

handgeschriebenen Schild, man könne auch ohne Termin einen Termin

bekommen. Drinnen sitzen die beschäftigungslosen Friseurinnen.

Wärst du nicht gerade erst beim Friseur gewesen, wäre das jetzt die

Gelegenheit. Das Geschäft „Backusilius. Pfiffiges zum Backen und

Verschenken. Cakies & Coffee“ hat sich allein auf Backutensilien

spezialisiert. Aber wer verläuft sich und wer fährt extra deshalb hierher?

Freilich, laut dem Zettel an der Tür dürfen ohnehin maximal drei

Personen im Laden sich aufhalten. Es scheint, als gälten hier die längst

aufgehobenen behördlichen Pandemie-Einschränkungen weiterhin.

An der Ecke Rohrdamm und Nonnendammallee wartet Siemens'

„Stammhaus“-Restaurant mit Kegelbahn auf seine Kunden. Vor dem

Siemens-Verwaltungssitz listet ein Kriegsdenkmal die den „Heldentod“

gestorbenen Mitarbeiter des Ersten Weltkriegs namentlich und

alphabetisch geordnet auf. Der Toten des Zweiten Weltkriegs

wird lediglich mit namenlosen Jahreszahl-Steinblöcken gedacht.

Daneben erhebt sich eine „Wing“ genannte Installation des Architekten

Daniel Libeskind, ein von in deinen Augen kunstanalphabetischen

Siemens-Kultursponsoren bestellter, sich höher gebender, banaler

Blödsinn - man kauft einen bekannten Namen ein und meint, womöglich,

die Firmensitze damit „schmücken“ oder aufwerten zu können.

Der Vorgang zeigt, auch hier, daß die Kunst, obwohl bekanntlich auf den

Hund gekommen, sich doch dazu noch verwenden läßt, zu behaupten,

man verleihe der nicht entblödeten Wirklichkeit den Anschein einer

höheren, fast transzendenten Aura oder Weihe. In diesem Fall gilt:

ars ancilla pecuniae, die Kunst ist die Magd des Geldes. Dagegen

hast du nichts einzuwenden, schließlich muß jeder, auch die

Künstler, sofern sie keine Bohemiens sind, Miete zahlen, man soll

diese prostituierte Gebrauchskunst nur nicht höher hängen als ihr

Materialwert es verdient. Mit solchen Gedanken wartest du an der

Ampel und überquerst den Rohrdamm nach Osten, Richtung

Nonnendammallee, deren nördliche Seite von der Sonne

angeleuchtet wird. Links verkauft der „Baumpflegershop Climbtools“

Kletterausrüstung, und vor dir geht ein fünfzigjähriges Paar, er in

Handwerkerkleidung, sie mit knöchellangem Winteranorak, Hand in

Hand, ein Restaurant suchend, das Steakhaus zur Linken hat sie

nicht überzeugt, der „Hühnerwald“ auf der anderen Seite scheint sie

gleichfalls nicht zu verlocken, sie überqueren die Wattstraße und

suchen, ohne zu finden, bis sie finden, was sie nicht suchen.

Das Haus Nonnendammallee 97 hat dich anregende weiße,

halbrunde Holzbalkone. Der Abschleppdienst Potsdam kommt

angefahren mit einem liegengebliebenen Bus der BVG im Schlepptau,

dahinter folgt die Polizei-Eskorte mit Blaulicht. Die Grammestraße hieß

bis 1938 Hertzstraße, ehe sie umbenannt wurde, informiert das

Straßenschild. An der Centralapotheke zeigt das Außenthermometer

6 Grad Celsius. In „Toms Kaffeerösterei“ steht ein Gast am Fenster,

du gehst auf einen Espresso hinein, und der Gast entpuppt sich als

der Barista, ein freundlicher Geselle, Mitte fünfzig. Der Espresso

tut dir gut, auch nach der langen Latscherei, und der Barista,

Ralle genannt, erzählt, daß er den in deinen Augen luftigen Laden

mit Tom und dem Gerhard Ridder seit letzten Mai betreibe. Man kann

einen Jakob-Kaiser-Platz-Becher kaufen. Die Siemensdamm- und

Nonnendamm-Becher seien bereits ausverkauft. Vor dem Fenster

rast ein Krankenwagen mit Tatü vorbei. Du kommst zwar hinfort

wahrscheinlich nicht wieder in diese Gegend, wegen des Espressos

allerdings würde die Fahrt sich lohnen. Nördlich der U-Bahnstation

Siemensdamm stehen alte Eichen. Sie sind Teil der „Ringsiedlung“

oder Großsiedlung Siemensstadt, die links vom Jungfernheideweg in

Siemensstadt und rechts davon in Charlottenburg-Nord liegt und

seit 2008 zum UNESCO-Welterbe zählt. Von der gelben Currywurstbude

nach Norden gehend, erblickst du links ein Wohnungsbauwerk

von Hans Scharoun, das mit seinen „Brücken“, Relings und zum

Teil bullaugenartig kleinen Fenstern manche Betrachter an ein

Kreuzfahrtschiff erinnern könnte, aber kaum doch an einen

„Panzerkreuzer“, unter welchem Beinamen es allerdings bekannt wurde.

Zur Rechten erscheint ein schräg trichterförmig zur Straße heran und

zum Brückendurchlaß der Siemensbahn verlaufendes weiteres Bauwerk

von Scharoun, in dem dieser selbst dreißig Jahre von 1930 an

gelebt hat. Jenseits des Siemensbahndamms erscheinen die Zeilen des

Bauhaus-Gründers Walter Gropius, zur Linken hat ein florierender

Waschsalon der Firma „Gehwaschen“ im Stile des Bauhauses geöffnet.

Links daneben in der Goebelstraße befindet sich „Akmans Kiosk &

Backshop“. Eine alte Frau sitzt davor auf einem Plastikstuhl und raucht

eine Zigarette, die Einkaufstüte neben sich. Hier, in dieser Siedlung,

kannst du, zum Teil, verstehen, warum das, was mit Bauhaus,

Lebensreform, Neue Sachlichkeit und so weiter im ersten Drittel des

20. Jahrhunderts nicht zuletzt auch von deutschen Landen ausging,

einen Freund in Dessau einmal zu dieser Aussage hinriß: „Deutschland

war einmal richtig toll“ - Freiheit, Modernität, Weltläufigkeit, der Zukunft

freundlich neugierig zugewandt, mit dem Wunsch, es gut zu machen,

das Leben gut zu gestalten, und zwar für alle - ein demokratischer

Kreativismus, der Freude und Lebenslust bereiten oder doch

wenigstens nicht behindern oder durchkreuzen sollte.

28.2.2024


NIKOLASSEE

Keine Glocken läuten um zwölf Uhr von irgendeiner

Kirche bis hierher auf den Bahnsteig des S-Bahnhofs,

keines der Polizeiautos vor der gegenüber liegenden

Polizeiwache prescht los und hängt sich quietschend

in die Kurve von Alemannen- und Normannenstraße

auf dem Weg zum Unglücksort. Ein, zwei Passanten

verlieren sich, und die Bahn fährt weiter nach Wannsee.

Es ist verschlafen still. Die Sonne bringt sich inmitten

dünner, ziehender Wolken in Erinnerung, eine rettende

Boje in den schaukelnden, sie immer wieder dem Blick

entziehenden Wellen des Meeres. In der federballspielfeld-

großen Bahnhofshalle grüßt ein Kiosk, hinter dessen

Tresen ein jugendlich aussehender, junger Mann mit nach

vorn gekämmten Haaren Zeitschriften, Glückslose und Bier

verkauft. Auf der anderen Seite warten Blumen und Obst

auf ihre Käufer, in der Bäckerei schielt die Verkäuferin

über den Tresen, während du ihr die Münzen für die

ausgehändigte Backware hinüberreichst. Ein leerer

Verkaufsraum ist zu mieten, hier könntest du eine Galerie

eröffnen. Du würdest unbemalte, signierte Leinwände

rahmen und die „Gemälde“ in dieser Form dem Publikum,

sofern es geneigt wäre, präsentieren. Die Signatur wäre

der Nachweis für ein Original aus der Hand des Künstlers,

kein Werk aus dessen Werkstatt. Die Kunst, nicht selten

auf den Hund gekommen, wiederholt Spekulationsobjekt

von Superreichen, in der Regel: Superkleptokraten,

oder Spielwiese von Künstlerunternehmern, deren

Geschäftsmodell, nicht so deklariert, im Abschöpfen von

Fördertöpfen und Absahnen von Stiftungspreisen besteht,

wohingegen du freilich nichts einzuwenden hast,

habe nur mehr eine Chance, sich der „Vernutzung“

auf dem Kunstmarkt zu entziehen, indem sie sich der

Sichtbarkeit und ihrer Verwertbarkeit entzöge und nur

mehr in den Köpfen ihrer Betrachter erschiene.

Die Kunst des „Gemäldes“ entstünde in des jeweiligen

Betrachters Phantasie. In dessen Einbildung würde sie

aus dem Feuern seiner Neuronen neu geboren:

Phoenicia wäre auch der Titel jedes Werks - Phoenicia I

bis Phoenicia endlos. Sollen die Galeriebesucher sich doch

vor den Leinwänden über das, was sie sehen oder nicht

erkennen, miteinander austauschen! Du besuchst in der

benachbarten Ladenzeile den Bücherladen „Lesezeichen“

von Ilona Lang, einer eleganten, silberhaarigen Frau,

und fragst nach einem gewissen Stadtplan von Berlin,

den sie aber nicht kennt und auch nicht hat. Schade!

Du greifst nach dem neben dir im Regal stehenden

neuen Buch von Rüdiger Safranski, über „Kafka“, und

bist überrascht, daß es doch recht dünn ist, was freilich

nichts über sein Gewicht aussagt, und meinst, der

Verfasser gehöre wohl zu jenen, die an den Jahrestagen

von Berühmtheiten entlang schrieben und so einen

Verkaufserfolg nach dem anderen wahrscheinlicher

machten. Heuer gedenkt man des 100. Todestages

des Prager Versicherungsangestellten, und man wäre als

auf den Lebensunterhalt achten müssender freier Autor

mit dem Klemmbeutel gepudert, nützte man diese Tatsache

nicht aus, um sein jahrestägliches Scherflein vom

zahlenden Publikum sich entrichten zu lassen.

„Aber er ist kein Schwätzer“, sagt die höfliche Bücherfrau,

wobei du mit deiner Beobachtung dessen mutmaßliches

Erfolgskonzept keineswegs hattest beanstanden wollen.

Doch mußt du lächeln über ihre als verteidigendes Lob

gedachte Charakterisierung. Kein Schwätzer zu sein,

ist tatsächlich viel. Unter den in der Öffentlichkeit

reüssierenden, bisweilen mit den unentrinnbaren

öffentlich-rechtlichen Gebühren für ihre Einlassungen

märchenhaft entschädigten Intellektuellen sind schließlich

doch manche, denen das Verdikt, Schwätzer zu sein,

kaum vorzuenthalten wäre. Du fragst sie nach ihrem

Urteil über die Romane von Lutz Seiler, dem jüngst mit

dem Georg-Büchner-Preis geadelten Lyriker, und sie meint,

sie habe von seinem sie beeindruckenden „Wenderoman“

„Stern 111“ viel gelernt, und auf deine ihr wohl verdächtig

erscheinenden, allzu kriminalistischen Nachfragen hin entfährt

ihr die erschrockene Frage: „Sie sind der Autor?!“ Fast

hättest du geantwortet: „Um Himmels willen!“, beläßt es

aber bei einem schlichten „nein“ und erwirbst, von der

Wendung des Gesprächs entzaubert, nur noch das jüngste

Jahrbuch Zehlendorf 2024 und machst dich vom Acker.

Der 112er Bus Richtung Nahmitzer Damm in Marienfelde

schaukelt gerade übers Pflaster heran, du springst hinein und

läßt dich, eine Station weit nur, zur Rehwiese bringen,

der streckenweise trockengelegten, einst nebelsumpfigen,

langen Bodensenke, Glied der Kette der Grunewaldseen,

den Schlachtensee mit dem Nikolassee verbindend, von dem

aus das Wasser weiter zum Wannsee sprudelte, bevor das

Wasserwerk Beelitzhof das Grundwasser abpumpte.

Gleich vor dir fängt eine gewaltige Eiche deinen Blick.

Tausende Äste ragen nach oben, kein einziges Blättlein

ist noch zu sehen. Sie sei etwa 300 Jahre alt, einer der

ältesten Bäume Berlins. Du grüßt sie und dankst ihr für ihre

Existenz. Ob sie es versteht? Du schlägst den Kragen hoch

und gehst durchs beschauliche Wonnegauviertel zum

Waldfriedhof Zehlendorf, um nach den Schneeglöckchen

und Krokussen zu sehen. Die Rehwiese mit ihren tollenden

Hunden und den ihren Hunden Bälle zum Holen werfenden

Hundehaltern läßt du Rehwiese sein, zumal du den Weg hinab

zum Nikolassee als einen nicht beschaulichen, düsteren

in Erinnerung hast, er führt unter der sich hier schlängelnden

Autobahn 115, kurz bevor sie zur schnurgeraden Avus wird,

hindurch, einem schattigen, verwaisten, lärmnebeligen Ort.

Unterführungen sind, unabhängig ob an ihrem Ende ein Licht

oder ein See, noch dazu ein schwanenbewehrter, erscheint,

mit der Unterwelt, dem Tod, verknüpft, und du möchtest lieber

oben bleiben, wobei ein Friedhof, trotz Totenversammlung,

doch oft einen lebendigen, fröhlichen Eindruck machen kann.

An der Ecke Wasgensteig und Potsdamer Chaussee,

Bundesstraße 1, öffnest du ein quietschendes Tor und

betrittst den luftigen, hellen, von Kiefern und Buchen

bevölkerten Totenwald. Er steigt nach Süden hin zunächst an,

der Sonne entgegen. Du gelangst an die Rückseite des

Gebiets des Italienischen Militärfriedhofs, den du über einen

Trampelpfad betrittst. Ein hohes, aus weißem Muschelkalk

gefertigtes Kreuz ragt auf. Die Kiefern schaukeln im Wind.

Krokusse blühen. Die Inschrift vor dem Kreuz besagt:

„L'ITALIA / AI SUOI / CADUTI / - / GUERRA 1940 - 45“

Aus der Ferne hörst du einen Zug - die Stadtbahn wohl,

Schwellengesang. Vor dem Namen der Gefallenen steht

Soldato oder Lav. Civ., Zivilmitarbeiter, Zivilisten können

also Gefallene sein, obwohl sie nicht kämpften.

Während du über die Mittelachse des Militärfriedhofs

zu seinem Eingang gehst, von der Sonne bestrahlt,

fühlst du dich glücklich, es ist dies die Folge von

Vogelgesang, Sonnenstrahlen, Wärme.

Ein durcheinander stiebender Schwarm Gänse taucht

auf, mit größter Geschwindigkeit flattern sie,

was ist nur in die gefahren? Von Westen heran jagen

niedrige Wolkenfetzen. Unweit von Willy Brandt schimmert

eine violette Krokuswiese. „The love was there when it began“,

liest du auf der Rückseite von Hildegard Knefs Grabstein,

eine unvermutete Entdeckung, du hattest nicht vor,

den Stein auch von hinten anzuschauen, sondern wolltest

nur wissen, ob auch hier die Rückseite des Grabsteins

einer Art Besenkammer gleicht. Dies ist tatsächlich der Fall:

Dunkelgrüne Plastiksteckblumenvasen, eine hellgrüne,

an zwei Stellen gebrochene Plastikgießkanne, wie sie

in jedem Garten zu finden ist, und zwei umgedrehte

Steinblumentöpfe befinden sich da. Da taucht ein Schwarm

Kraniche auf mit ihren hohen, durch Mark und Bein gehenden

Schreien. Ein Friedhofsmitarbeiter fährt mit seinem

Schaufeltraktor rückwärts den Hang hinab, in der

Schaufel liegen abgesägte Baumstämme. Rhododendren

knospen an den Gräbern von Brandt und Reuter,

die ehemaligen Stadtoberhäupter liegen Kopf an Kopf.

Der Friedhofsmitarbeiter kommt zurück, mit leerer Schaufel,

und nickt dir zu. Ein Mann hält ihn auf und fragt, wo Willy Brandt

liege, und er zeigt in deine Richtung: „Hinter dem Herrn.“

Du kommst am Grab einer gewissen Sigrid Kressmann-Zschach-Losito

vorüber; die ist wohl wenigstens zwei Ehen eingegangen.

Bei den Gräbern unweit des südlicheren Wasgensteig-Eingangs

blühen ganze Blickfelder vor Krokussen, Zehntausenden,

auch gelbe und weiße neben den überwiegenden violetten,

mit wie Schnäbel weit aufgesperrten Blütenkelchen, und da

siehst du schon ein Bienchen sich einer Blüte nähern.

Schneeglöckchen gibt es nicht viele. Es ist dies Teil der

„Langgraswiese“, wie auf einem Schild zu lesen ist, zur

Förderung der Biodiversität. Zufällig trittst du ans Grab

von Jakob Kaiser, geboren 1888, gestorben 1961, dessen Stein

eine Skulptur mit Jesus und den ängstlichen Jüngern im Boot

auf dem sturmgepeitschten See Genezareth zeigt:

„Was seid ihr verzagt ihr Kleingläubigen“, wird Jesus aus

Matthäus 8,26 zitiert. Recht frech, diese Aussage.

Denn daß der Sturm sich auf Geheiß von Jesus legt, glaubt

doch kein Mensch. Es sei denn, er zielte mit seiner Aussage

auf eine Wandlung der inneren Einstellung: Mag der Sturm

noch so sehr das Boot an den Rand des Kenterns bringen,

wenn ihr ihm keine Macht über eure Angst einräumt, wenn ihr,

statt kleingläubig, großgläubig seid, dann werdet ihr frei und

ganz ruhig: Windstille tritt ein. Jesus wäre dann weniger

der Messias als ein Vertreter des Stoizismus.

Du gehst über Moos und sinkst federnd tief ein.

Noch an etlichen Ehrengräbern kommst du zufällig vorbei

beziehungsweise nolens volens, denn es sind ihrer so viele,

daß man zwangsläufig an welchen vorüberlatscht.

Es ist immerhin überraschend, wenn man sieht, wo einige

der Personen liegen, nach denen Plätze, Straßen, Alleen, Häuser

und Siedlungen benannt sind, bei welchen Plätzen, Straßen, Alleen,

Häuser und Siedlungen der Name so sehr mit ihnen verwachsen ist,

daß man gar nicht mehr daran denkt, daß damit auch ein Mensch

aus Fleisch und Knochen, beziehungsweise jetzt nur noch Knochen,

verbunden ist, wie eben bei Jakob Kaiser und dem in Berlin

sagenhaften Jakob-Kaiser-Platz, einst beliebt bei Beobachtern

der im nahen Tegel landenden und bereits mit ausgefahrenem

Fahrwerk niedrig fliegenden Flugzeuge, und einst fast verhaßt

bei denen, die auf dem Weg nach Tegel hier, an dem häßlichen Platz,

von der U-Bahn in den Bus umsteigen mußten.

Du verläßt den Totenwald an der B 1 und gehst Richtung Wannsee,

passierst dabei ein an der Straße liegendes Neubaugebiet, das sich

nicht unzynisch rêverie, Träumerei, nennt, als würde irgendjemand

bei Verstand davon träumen, hier an der täglich von zig Tausenden

von Autos und LKW befahrenen Chaussee, zudem nur wenige

Schritte von der Autobahn entfernt, seine Zelte aufzuschlagen.

Freilich kann rêverie auch Hirngespinst oder Fantasterei bedeuten,

so gesehen ergibt es eher Sinn. Die schöne Villa Waldhaus

der Seelengenesungsklinik schaut herüber. Auch grüßt das

ehemalige, von Hermann Muthesius gebaute Haus Freudenberg.

Du gehst, weil es nicht anders geht, den Tunnel hinab, der unter

der B 1-Autobahn-Abzweigung hindurchführt, ein Schild warnt Radler

vor einer „Längskante“ zwischen Fahrrad- und Fußgängerbereich.

Und es prescht im Tunnel ein elektrischer Überlandradler hart an dir

vorüber. Nach dem Tunnel, wieder oben auf Höhe der B 1, bemerkst

du die unscheinbare „Gedenkstätte 17. Juni 1953“, ein Holzkreuz auf

einer schmalen Insel zwischen den Fahrspuren. In einem

günstigen Moment gehst du hinüber und betrachtest das von

„aktiven Kämpfern des Volksaufstands 1953“ errichtete Denkmal.

Auf der Gedenkschleife steht unter anderem: „Euer Mut -

Unser Auftrag“. Am anderen Ende der Insel steht ein Stein,

gewidmet „Den russischen Offizieren und Soldaten, die sterben

mußten, weil sie sich weigerten, auf Freiheitskämpfer des

17. Juni 1953 zu schießen“. Davon hast du noch nie gehört.

Stimmt das denn? Laut einem Artikel des „Tagesspiegels“, der

sich auf zwei Historiker beruft, handelt es sich hierbei um eine

Legende. Warum aber steht der Stein dann noch da? Du läßt

dies auf sich beruhen, nicht ohne zu wünschen, die heutigen

rußländischen Soldaten würfen ihre Flinten ins ukrainische Korn.

Während du weitergehst, kommt der ehemalige erdbeerrote,

geradezu ikonische „Kontrollpunkt Dreilinden“ in den Blick,

von den U.S.-Amerikanern „Checkpoint Bravo“ genannt.

Du empfindest unmittelbar Freude bei seinem Anblick. Aber warum?

Wahrscheinlich, weil sein einstiger Zweck Geschichte ist.

Du biegst endlich in die Nibelungenstraße ein, eingepackte

Boote parken neben den Gleisen des Bahnhofs Wannsee.

Das „Haus Nibelungen“ ist ein Mehrparteienhaus. Ob wohl

Nibelungen darin wohnen? In der Tristanstraße 8-10 wohnte

Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, am 10. August 1944

in Plötzensee als „Mitverschwörer“ ermordet; sein Bruder Claus

wohnte seit Herbst 1943 bei ihm, bis zum Morgen des 20. Juli 1944,

als er die Wohnung das letzte Mal verließ, in der Hoffnung, die

Tötung des Tyrannen und die „Operation Walküre“, der Staatsstreich,

gelinge. Im Versuch, das Land aus den Fängen der dem nebel-

verhangenen Sumpf entstiegenen Lemuren zu befreien, endeten sie

als Leichen, als verstreute Aschen auf Rieselfeldern.

Die Menschheit freilich, so emphatisch darfst du es sagen,

denkt an sie und an alle, die im Widerstand ihr Leben für

eine humane Politik aufs Spiel setzten, mit Respekt und Dank.

Nach 16 Uhr gehen Schüler nachhause mit ihren schweren

Schulrucksäcken. Die Sonne verschwimmt im nebeligen Gewölk.

21.2.2024


CHARLOTTENBURG-NORD

Noch auf der Promenade widerstrebt es dir,

überhaupt dorthin zu gehen. Du bist dem Bus 123

entstiegen, Haltestelle „Gedenkstätte Plötzensee“,

und bleibst erst einmal am Saatwinkler Damm

stehen. Die vor Verkehr tosende Straße führt am

Hohenzollernkanal entlang. Auf dem fährt jetzt kein

Schiff. In der Nähe, auf der anderen Kanalseite,

erschoß sich der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf.

Auf der anderen Straßenseite öffnen sich Kleingärten,

und es ragt das Bürogebäude auf, in dem die Fluglinie

Air Berlin ihren Sitz hatte, ehe sie aus dem Himmel

verschwand. Im Leben ist alles in dieser Bewegung:

erscheinen, dasein und wieder verschwinden.

So, wie ein Flugzeug am Himmel scheinbar aus dem

Nichts erscheint, so erscheint auch der Mensch scheinbar

aus dem Nichts. Das Flugzeug verschwindet wieder

scheinbar in dem Nichts. Ob aber der Mensch auch

scheinbar in dem Nichts verschwindet? Bis Ende 2020

fuhren die Flughafenbusse hier entlang und karrten

Abertausende von Reisenden zum Tegeler Flughafen,

benannt nach Otto Lilienthal, und von diesem in die Stadt.

Sie kamen dabei, wohl oft, ohne es zu wissen, einen

Steinwurf nur entfernt, an der Gedenkstätte Plötzensee

vorbei. Du querst die Straße zwischen Autos und

Lastkraftwagen. Über den Emmy-Zehden-Weg und den

Hüttigpfad erreichst du den Eingang zur Gedenkstätte.

Der wirkt auf dich martialisch. Keine Seele weit und breit.

Keine Schulklasse, kein Tourist, nichts. Die ganze Zeit schon

siehst du ein Halo am schleierwolkigen Himmel,

ein Stück Regenbogen, sowie ein grelles,

regenbogenfarbiges Trapez. Es weht ein kühler Wind.

Du gehst auf die zwanzig Meter lange und sechs Meter hohe

Gedenkmauer aus Tuffsteinquadern zu, auf der die Worte

stehen: „Den Opfern / der Hitlerdiktatur / der Jahre 1933 - 1945“.

Mußte man den Namen des Unholds hier verewigen?

Es herrscht vom Eingang an eine belastende Stimmung.

Das liegt auch an den Stacheldrahthaufen, die sich auf den

ringsum verlaufenden, hohen Mauern der Justizvollzugsanstalt

Plötzensee befinden. Es ist, als wärst du selber in einen

Gefängnishof geraten; historisch gesehen, ist es auch so.

Du hörst immer wieder Schreie von Insassen; du kannst nicht

ausmachen, ob es einfach irgendwelche Laute sind, die sie

äußern, oder ob sie einander, von Gefängnisblock zu

Gefängnisblock, durch die Fenster etwas zurufen.

Diese Schreie ertönen regelmäßig.

Am Saum des Gedenkhofes steht eine mehr als hüfthohe

Muschelkalkurne, die „Den Opfern der Konzentrationslager

in ehrendem Andenken gewidmet" ist, eine Bodenplatte

erläutert weiter: „Die Urne enthält Erde aus deutschen

Konzentrationslagern.“ Das heißt wohl, mit den Erden wollte

man symbolische Erdstückchen weiterer Staatsverbrechensorte,

die jeweils für die ganzen Orte stehen sollen, in diese

Gedenkstätte einfügen und damit nicht allein der hier

Ermordeten gedenken, sondern auch jener in den Lagern.

Aus welchen Lagern die Erde wohl stammt? Wer fuhr dort

hin, und wie lief das Einsammeln der Erde ab?

Aus einem im Eck der Ummauerung befindlichen gläsernen

Informationskubus tritt ein Mann und macht sich auf den Weg

zu der am Eingang der Gedenkstätte befindlichen Toilette,

er grüßt dich, und du erwiderst seinen Gruß. Unmittelbar hinter

der Gedenkmauer befindet sich der ehemalige „Hinrichtungsraum“,

früher Teil eines Schuppens. Du siehst, was du auf Photographien

schon gesehen hast, die - heute fünf - Haken, an denen die Opfer

der damaligen Unjustiz erhängt wurden. Am Boden des

„Hinrichtungsraums“ liegen neunzehn Rosensträuße, vielleicht

von Schülern, auf der Schlaufe des dahinter liegenden

Blumengestecks steht „Theodor-Haubach-Schule in

Berlin-Lichtenrade“, „In ehrendem Gedenken“. Ein anderes

Gesteck wurde im Andenken an Nikolaus Groß abgelegt.

„Bleibender Zeuge / KAB BERLIN“. Die Katholische

Arbeiternehmerbewegung hat es gestern für den

„am 23.1.1945 hier ermordeten“ „Zeugen“ niedergelegt.

An der hinteren Wand lehnt ein Kranz der Stadt Berlin.

Mutmaßlich Angehörige haben an der Wand und am Fenster

vier Photos ihrer Vorfahren angebracht. Links an der Wand

sind noch gelbliche Kacheln zu sehen. Du hörst einen Schwarm

Gänse fliegen. Neben dem ehemaligen Hinrichtungsraum ist

in einem gleich großen Raum eine Ausstellung eingerichtet.

Auf einem Bauplan sieht man den Abfluß im Boden neben

dem „Richtgerät“ für die zu Enthauptenden eingezeichnet.

In einem ausgestellten Schreiben geht es um die „Übersendung

der Aschen der am 8. September 1944 in Plötzensee Erhängten

an das Reichsjustizministerium“, das betrifft einen Karton,

der ungetrennt Aschereste der nach der Erhängung Verbrannten

der sogenannten zivilen Köpfe des Umsturzversuchs vom

20. Juli 1944 enthielt, Carl Friedrich Goerdeler, Wilhelm Leuschner,

Josef Wirmer, Ulrich von Hassell und Paul Lejeune-Jung.

Der hintere Teil des Ausstellungsraums war damals laut

Plan der „Sargabstell- und Aufenthaltsraum für Beamte

während der Hinrichtung“. Die schwere Metalltür zwischen

den beiden Bereichen ist noch da. Du gehst hinaus und betrachtest

die hölzernen Flügeltüren mit den darüber angebrachten, barock

geschwungenen Ziffern 1 und 2 - fast geht von ihnen so etwas

wie Schönheit aus. In die Ausstellung willst du nicht mehr hinein.

Damit er nicht so alleine sei, schaust du noch bei dem

mittlerweile zurückgekehrten Gedenkstättenhüter vorbei,

der taglang in seinem Glaskubus sitzt. Er überreicht dir

unterschiedliche Prospekte und Informationsblätter.

Er hat es sehr warm hier drin, du bist ganz verfroren.

Freundlich wünscht ihr einander noch einen schönen Tag,

und du verläßt die „Hinrichtungsstätte“. Außen gehst du an

der hohen Gefängnismauer entlang und folgst einem

„Pfad der Erinnerung“, wie er auf einem der ausgehändigten

Prospekte beschrieben wird. Du bist froh, als dich der Weg

weg vom Gefängnis führt, durch die Kleingartenanlage, wenn

auch die gespenstisch leer und verwaist ist.

Ein Grasweg nach dem anderen ohne eine Menschenseele.

Mit der Sonne sinkt auch das Regenbogentrapez.

An den Rändern des Heckerdamms liegt immer wieder

wilder Müll, Laubsäcke, Fernseher, Kühlschränke,

Autoreifen, gerade auch am Fuße etlicher Schilder, die

das Ablagern von Müll bei Strafe verbieten. Die Müllhalden

sind ein höhnisches Ignorieren des Verbots, Zeichen einer

gewissen Form von Anarchie, von scheiterndem Staat.

Wer auch immer hier sein Zeug ablegt, dem mag der Staat

in die Tasche steigen. Wo heute beidseits des Heckerdamms

die Gärten sich ins Unübersehbare ergießen, erinnert

an der Ecke zu Thaters Privatweg ein Schild an ein

Zwangsarbeiterlager, das hier in der „NS“-Unzeit

errichtet war. Du erreichst nach Stunden, obwohl das

nicht sein kann, in denen du dieses Ufer des Unverstandes

durchwatest, wieder die Zivilisation, die Paul-Hertz-Siedlung.

Fast alle Straßen, Plätze, Brücken und Schulen

sind nach Gegnern des „Nationalsozialismus“ und

Widerstandskämpfern jener zwölf Unjahre benannt.

Du begrüßt den abzweigenden Reichweindamm.

Die Benennung wird am Straßenschild so erläutert:

„Prof. Dr. phil. Adolf Reichwein, Reformpädagoge,

Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime 1898 - 1944“,

erhängt eben in dem Plötzenseer „Hinrichtungsraum“.

Du gehst weiter zur evangelischen Gedenkkirche,

erbaut von 1968 - 1970. Die Außenwand scheint über die Jahre

eingedunkelt, wenig einladend. Im quadratischen Kirchenraum

steht der Altar in der Mitte. Auch befindet sich der für die

Kirche geschaffene „Plötzenseer Totentanz“ des Bildhauers

Alfred Hrdlicka hier, wie du liest. Die Kirchenpforten sind zu.

Gegenüber befindet sich eine Art Ladenzentrum mit

Supermarkt, Poststelle und der Raucherkneipe „Brinks Treff“,

offenbar Anlaufstelle für die Nachbarn, die ihre Zigarette

lieber am Tresen in Gesellschaft rauchen als alleine daheim.

Vier etwa zwölfjährige Kinder hängen an den Fahrradständern ab,

es ist dies hier wohl die Mitte ihres Lebens an einem öden

Nachmittag. Weitergehend siehst du schon den Glockenturm

der katholischen Gedenkkirche Maria Regina Martyrum

„für die Blutzeugen der Jahre 1933 bis 1945“.

Die Kirche, geweiht 1963, schlägt dich in ihren Bann.

Die tief stehende Sonne bringt die vergoldete Bronzeskulptur

der „apokalyptischen Frau“ an der Außenwand der Kirche

oberhalb des Portals zum Strahlen. Du betrittst den vor der

Kirche liegenden großen Feierhof von links aus, am Zugang

neben dem beleuchteten Klosterladen, in dem eine Schwester

des Klosters der Unbeschuhten Karmelitinnen auf Besucher

wartet, es ist ein mit schwarzgrauen Basaltkieselplatten

ummauerter Platz, der zum Portal hin sanft terrassenförmig

abfällt. Der Platz nimmt dich sofort auf, als hätte

er auf dich gewartet. An der östlichen Wand befindet sich ein

Kreuzweg von Otto Herbert Hajek, dessen Figuren so dicht

ineinander und zum Teil abstrakt gebildet sind, daß es

schwerfällt, sie zu entziffern. Im hinteren Teil des Feierhofs,

jenseits des Freialtars, stößt du auf Hajeks Skulptur

der Heiligen Familie auf der Flucht nach Ägypten,

die Juwelen von Jesus' Juwelenkrone sind herausgebrochen.

Auch innen berührt die Kirche dich. Im Halbdunkeln

der Unterkirche begibst du dich auf den Weg

zur Gedenkkrypta, entzündest eine Kerze. Am Sockel

der Pieta steht eine Widmung: „Allen Blutzeugen, denen

das Grab verweigert wurde - allen Blutzeugen, deren Gräber

unbekannt sind“, deren Aschen auf den Rieselfeldern Berlins

verstreut wurden, wie es in einem Faltblatt heißt. Neben

der Krypta befindet sich die „Unterkirche“, eine Kapelle

für die Werktagsgottesdienste der Gemeinde und für das

Chorgebet der Schwestern. Dann gehst du die durchgehende

Treppe zur Oberkirche hinauf und wirst von der Taufkapelle

mit ihrem sanften Goldlicht empfangen. Du drehst dich nach

rechts und wirst von dem sehr hohen Raum mit Holzdecke und

seitlichen Wänden in Sichtbeton überrascht. Gleichzeitig überrascht

dich noch mehr der vor Tausenden von Glühlichtern leuchtende

Christbaum, der groß und schön im Chorraum steht und jetzt in dem

bereits leicht dämmerigen Kirchenlicht Freude ausstrahlt.

Der Altarraum wird von einem wandgroßen Gemälde nach Osten hin

abgegrenzt. Außenlicht kommt nur indirekt seitlich des Gemäldes

über nicht sichtbare Fenster herein. Du setzt dich in die erste Reihe

vor den leuchtenden Weihnachtsbaum. Du läßt den Glanz der Lichter

in dich rieseln. Auch hier ist kein Mensch da, doch hier macht es dir

nichts aus. Es ist, als hätte der Raum einen beruhigenden Zauber.

Du wanderst weiter durch den Raum. Am hinteren Ende

befindet sich ein gut gefüllter Fürbittenkorb, in den Gläubige ihre

auf einen Zettel notierte Fürbitten gelegt haben. Die Zettel,

so steht da, werden in der Osternacht verbrannt.

Unter der Orgelempore liegt die Beichtkapelle; in ihr befindet sich

derzeit das Grab des „seligen“ Bernhard Lichtenberg, hier findet

er vorübergehend seine ewige Ruhe, solange in Mitte die

St. Hedwigskathedrale saniert wird, in deren Unterkirche er

bislang ruhte. Auch die Siedlung westlich des Kurt-Schumacher-

Damms, den die Weltlinger Brücke überquert, ist nach „NS“-Gegnern

benannt, die Grundschule etwa nach Erwin von Witzleben. Hier steht

im Halemweg auch die evangelische Sühne-Christi-Kirche, die

mit ihrer „Gedenkmauer“ zum „Pfad der Erinnerung“ und des

Gedenkens zählt. Der Vorraum der Kirche ist geöffnet,

Kerzen brennen, an der Mauer hängt eine Gedenktafel

für zwei in Auschwitz ermordete, jüdische Geschwisterpaare,

Marion und Ellen, Heinz und Anita, Photographien zeigen sie

in der blutjungen Blüte ihres Erscheinens.

29.1.2024


DAHLEM

An einem kalten, sonnigen Sonntag,

am Rande der Äcker und Felder der Domäne Dahlem,

nahe einer Pferdekoppel und einem Schweinepferch,

zwischen einem Kirschbaum und einem Apfelbaum,

hat eine Bank dich eingeladen, auf ihr Platz zu nehmen.

Der Himmel ist makellos blau. Leichter Wind von Nordost

streicht dir durch die Haare. Ohne Sonne würdest du jetzt

frieren. Die Domäne ist Ziel des promenierenden Volks.

Familien halten gern bei den Hühnern und Schweinen

sich auf, ein Automat gibt den Kindern gegen Geld Futter,

das sie durch den Zaun zu den Hühnern werfen.

Weiter vorn bei den Stallungen reitet ein Mädchen auf

einem Pferd im Kreis. Ein Hubschrauber läßt sich

irgendwo nieder und verschwindet dann bald wieder.

Das Licht scheint dir dieser Tage mit einem Mal heller

geworden zu sein, als hätte es, fünf Wochen nach

der Sonnwende, seine finstere Anmutung verloren, als

befände es sich, andauernder Kälte ungeachtet,

schon in einer sich voraus Richtung Frühling

richtenden Wandlung. Die Tage sind unmerklich

länger geworden. Wieder taucht ein Hubschrauber auf,

gleich einer Libelle aus der Tiefe des Raumes. Er kreist

lange, als suchte er etwas. Fünf Kraniche fliegen in

niedriger Höhe über die Domäne nordwärts. Der Sperberhahn

kräht, 14.23 Uhr. Die in deinem Rücken in einer Senke

immer wieder leise vorbeifahrende U 3 ändert nichts daran, daß du

hier wie auf dem Lande bist, oder tatsächlich auf dem Lande.

Pferde liegen auf der Koppel und sonnen sich.

Ein Falke landet auf dem Apfelbaum und betrachtet dich.

Zwei jugendliche Läufer laufen durchs spazierende Volk.

Zwischen Grashalmen sind Spinnfäden gespannt.

Eine einzelne schleierdünne „Grätenwolke“ fliegt südwärts.

Kinder rennen, wie ziellos, nein, nicht „wie“, sondern tatsächlich

ziellos, aus Freude. Das gleichmäßige Stimmenparlando, das

vom Weg herüberweht, und die Sonne üben auf dich eine

einschläfernde Wirkung aus. Und tatsächlich, wie du nachher

merkst, bist du, für eine unbestimmte Zeit, unbemerkt in das

Jenseits des Lebens hinübergetreten. Aus diesem Jenseits

kommst du ein Leben lang regelmäßig zurück, bis zum Schluß.

Zwei Jets zeichnen ihre Kondensationsstreifen an den Himmel.

Zwei weitere kommen, sie alle kreuzen sich, und eine geometrische

Figur, langsam nur verblassend, bleibt zurück. Eine junge Frau

legt einem stehenden Pferd ein Seil um und legt sich dann zu

ihm auf die Wiese, unterhalb seines Mauls. So dösen beide

in der Sonne. Zwei Mädchen mit langen, offenen, blonden

Haaren rennen, und da beim Rennen wie ein Pferdchen

im Galopp die Haare sich bauschen, leuchtet von

hinten die Sonne durch sie. Von Westen kommt eine

Passagiermaschine im niedrigen Landeanflug Richtung

Schönefeld, sie wird über dem Müggelsee eine Rechtskurve

machen und dann von Osten her die Piste ansteuern

und sanft aufsetzen. Die in einem Bogen gespannte

Gewächshausfolie gleißt am höchsten Punkt. Ein Kind

möchte, daß der Hahn kräht, und hilft ihm auf die Sprünge

und kikerikiet selber. Eine auf dem Franz-Grothe-Weg

radelnde Frau singt vor der sie durchströmenden Begeisterung

über die Sonne die ersten dreizehn Verse von Goethes

„Osterspaziergang“, im übrigen unvollständig und neun Wochen

vor dem Anlaß, freilich kann man die Verse auch

ohne Anlaß sprechen und singen, in ihnen geht

jederzeit die Sonne auf, die den Menschen wärmen kann.

Ein Motorsegler fliegt schnurrend nach Westen.

Eine Frau mit wallendem Lockenhaar gesellt sich

zu dir, neben dir die Sonne zu empfangen, als wäre

sie eine Hostie, die man bei geschlossenen Augen

über die Haut empfängt. Als sie später weiterzieht,

sagt sie, vor Freude strahlend, „Danke fürs Schweigen“

und wünscht dir noch einen schönen Sonntag.

Ein Kind lernt radeln, der Vater rennt hinterher.

Gegen 16 Uhr wirds langsam kalt, und um dich

aufzuwärmen, wanderst du vor zum Landgasthof

und holst eine Tasse Kaffee. Inmitten der Menge

sitzt ein älterer Herr im Rollstuhl, auf niemanden

wartend, mit verhärmtem Gesicht. Du hast ihn schon

einmal gesehen, in einem Bus der Linie X83, es scheint,

als wäre er jeden Tag hier, als wäre das hier seine gute Stube.

Bevor es dunkel wird, gehst du noch hinüber zum Kirchhof

der St. Annen-Kirche, und als du die Kirche langsam

umschreitest, im Dämmerlicht die Grabsteine lesend,

stößt du überrascht auf das Grab von Rudi Dutschke,

diesem charismatisch-verbissenen, fast schon

messianischen Propheten des „wahren Sozialismus“,

diesem wühlend ernsten, manichäischen Feind des falschen

Kapitalismus. Aus dem Kommunismus der Toten ragt er

mit dem ihm zugesprochenen Ehrengrab hervor.

Das Abendorange leuchtet zwischen den Bäumen,

darüber ein zartes Lichtblau.

28.1.2024


SCHMARGENDORF

Übernacht sind sie schneeweiß,

Reif hat sich über die Bäume gebreitet.

Du erblickst in der Natur kristallisierte Ikonen,

in denen zeitlose Zeit erscheint.

In ihr scheinst du aufgehoben, dem Alltag entflohen.

Vor dir aber in der Beletage

des Doppeldeckerbusses Nummer 186,

Richtung Roseneck unterwegs, in der ersten Reihe links,

sitzt ein hochgewachsener, schlanker Mann mit einem

Martin-Luther-Barett auf dem Haupt. An der Zoppoter Straße,

an der Grenze zu Schmargendorf, steht er plötzlich auf,

gleitet die Treppe hinab und steigt aus dem Bus.

Vor dir ists jetzt frei, du hast ungehinderte Sicht.

Freilich entsteigst du gleich selber dem Kutter, der schaukelnd

an der Bucht Breite Straße festmacht, und gehst langsam,

vorsichtig, über den glitschigen Grund hinüber zur alten Dorfkirche,

dem kleinsten noch erhaltenen Kirchenschifflein im Berliner Sand.

Aus Feldsteinen steht sie fest gemauert. Du klopfst

an ihre Wand, um so mit ihr Tuchfühlung zu halten.

Hinein kommst du nicht, hier ist niemand drin,

der dir auftun würde. Auf dem angrenzenden, den Hang

hinaufgleitenden Kirchhof liegt in einem Ehrengrab

Melli Beese, die erste deutsche Fliegerin. Die hatte Ärger, nicht nur,

weil ihre männlichen Kollegen ihr Steine in den Pilotenlizenzweg

legten, sondern auch, weil sie einen französischen Piloten ehelichte

und so später im Ersten Weltkrieg, als Paßfranzösin, ihrer Passion

nicht mehr folgen durfte. In Wittstock an der Dosse stand sie

unter Hausarrest und sah wohl allein über dem Haus die Kraniche

südwärts zum Rhinower Ländchen fliegen, wo diese landen und sich

für weiteren Flug in wärmere Gefilde sammeln, nördlich des

Gollenbergs, an dessen Nordhang Otto Lilienthal mit seinem

Flugapparat abstürzte, rund zwanzig Jahre vorher, und daran

starb, begraben nicht weit von hier, auf dem Totenacker in

Lankwitz, und so ziehst du weiter, die Breite Straße hinauf.

Halb rechts in die Berkaer Straße weitergehend kommst du zum

Rathaus und betrittst die im Souterrain eingerichtete

Adolf-Reichwein-Bibliothek. Du bist zunächst der einzige

Besucher, und die Bibliothekarin reicht dir den „Tagesspiegel“,

die einzige Tageszeitung, die es hier gibt. Adolf Reichwein

war ein innovativer Pädagoge, doch die Zeitläufte brachten ihn

in Berührung mit dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten,

gegen „Adolf Nazi“, wie Kanzler Helmut Schmidt zu sagen pflegte.

Im Zuge dessen fiel Reichwein einer Denunziation

zum Opfer und wurde 1944 in Plötzensee ermordet.

Die Benennung der Bibliothek nach ihm ehrt nicht allein

ihn, sie beweist nebenbei, daß der Name Adolf auch

heute noch einen guten Klang haben kann.

Erst jetzt fällt dir auf, über Reichwein lesend,

den „Tagesspiegel“ hast du beiseite gelegt,

daß du weißt, wer seine Tochter ist,

letzten Sommer hast du dich mit ihr, unbekannterweise,

auf der Ostseeinsel Hiddensee über Literatur unterhalten,

sie besitzt dort das Hexenhaus, ein sommerliches Domizil,

in dem auch ihr Vater von unbeschwerten Tagen

sich verführen ließ. Die Auguste-Victoria-Straße

hinaufgehend, kommst du an der Botschaft des

Staates Israel vorbei. Anders als früher, sind die

angrenzenden Straßen jetzt mit sogenannten

Hamburger Gittern verzäunt, als sollten sie illustrieren,

was das Judentum im wesentlichen ausmache:

das eingezäunte Volk zu sein. Die insgesamt sechs

Objektschutzpolizisten frieren sich die Beine in den Bauch,

während ein Junge mit Tennistasche die Straße quert auf

dem Weg zur Traglufthalle des angrenzenden Tennisklubs.

Weiter oben, in der Caspar-Theyß-Straße, dem

Martin-Luther-Krankenhaus gegenüber, befindet sich ein

von außen fast schon heruntergekommenes Mehrparteienhaus,

in dem angeblich der abgewählte Altkanzler Helmut Kohl

eine Wohnung hatte. Von den sechs Klingelschildern

hat eines keinen Namen - seine Wohnung unter dem Dach?

Von hier war es nicht weit zu seinen bevorzugten italienischen

Lokalen, wie dem von dir bereits bestolperten „Capriccio“ in

Grunewald. Nicht mal fünf Minuten im chauffierten Auto.

Warum wohnte er sonst hier? Wegen des Krankenhauses? Wegen

der womöglich splendiden Aussicht vom dritten OG? Wegen des

Elefantenaufzugs? Keine zehn Pferde brächten dich in dieses

düstere Gemäuer. Die Dämmerung fällt, und ein Passant

nach dem anderen rutscht auf den mittlerweile eisglatten

Gehwegen aus, wenigstens ist das Krankenhaus gleich da.

Dir gelingt es, gerade noch bis zur Ecke Paulsborner Straße

zu schlittern, als ein Bus Richtung Breite Straße Ecke

Warnemünder Straße naht. Nichts wie hinein. Du hättest zwar

gute Lust, weiter durch Schmargendorf zu trittbrettreisen.

Doch ohne festen Tritt auf den Wegen hat es keinen Sinn.

Du wartest in der Breiten Straße auf den 186er Bus und hütest

mit den Augen eine alte Frau mit Rollator, die langsam wie

eine Schnecke den abschüssigen Weg beschreitet, bereit,

einzugreifen. Als sie am Schuhladen Tivola außen ausgestellte

Schuhe in die Hand nimmt und sie begutachtet, hast du das Gefühl,

sie sei in Sicherheit, und du nimmst den jetzt kommenden Bus.

Wieder sitzt du oben links in der zweiten Reihe, als gäbe es eine

natürliche Tendenz, wo auch immer gleich wie gewohnt Platz

zu nehmen und sich soweit möglich wohnlich einzurichten.

In der Zoppoter Straße steigt der hochgewachsene Mann

mit dem Barett von heute mittag wieder zu und setzt sich,

natürlich, in Reihe eins direkt vor dich. Es ist dies ein Zufall,

der nichts zu bedeuten hat, auch wenn es unwahrscheinlich

war, daß zwei Fremde sich unabgesprochen

in einer quasi identischen Situation wiederfinden.

Was er wohl in Schmargendorf zu suchen hatte?

Es ist dies der Schlußpunkt zu einem Aufenthalt,

bei dem du noch nicht zu dir gefunden hast,

es ist, als bliebe die Sehnsucht zurück.

11.1.2024


WILMERSDORF

Der in backsteinrotem Backstein aufragenden evangelischen

Auenkirche in der Dorfaue von Alt-Wilmersdorf strebst du

entgegen: Es übt das Portal am Fuß ihrer Wand auf dich

eine magnetooptische Beschleunigung aus. Obwohl es

Sonntag mittag schlägt, findest du die Tür verschlossen,

verriegelt. Du klopfst an, schlafwandlerisch beinahe,

spürst die abweisende, widerhallende Oberfläche

an den Knöcheln. Türen laden ein, an sie zu klopfen,

solange es keine Klingeln gibt. Sie sind der Teil einer Mauer,

der sich gewaltlos öffnen, schließen und abschließen läßt.

Der Türhüter hat Einfluß und zeigt es von oben lachend auch,

egal, ob vor dem Klub oder „Vor dem Gesetz“ bei Franz Kafka.

Wenn du wo eintreten möchtest, stellt sich die Frage,

ob die Tür unbewacht und zugänglich ist, ob es Regeln gibt, die

den Zugang ordnen, und ob einer sie hütet und den scheinbar

nicht Befugten von der Schwelle heischt. Es regt sich nichts.

Nur Stille. Zwei Frauen kommen des Wegs, von der Straße her,

sie studieren den Aushang, wie es ihnen angelegen sein mag.

Du gehst weiter. Doch plötzlich ruft eine von ihnen dir nach.

Soeben wird von innen die Tür aufgeschlossen, und ein Mann

erscheint, ein bibelfester: „Klopfet an, so wird euch aufgetan.“

Der Küster, als ein solcher erscheint er dir, läßt euch eintreten.

Schlichte Fenster mit Farbeinlagen oberhalb des Chorraums

filtern das von Süden, vom Volkspark Wilmersdorf her,

herein und hernieder strömende, dich blendende Sonnenlicht.

Als du dich vorn am Altar umkehrst, dem Gleißen zu entgehen,

wirst du der Schönheit gewahr, die den Kirchenraum jetzt erfüllt.

Du siehst, wie der Raum in den Farben der Fenster grün, blau

und rot erstrahlt. Im Mittelgang stehen der Küster und

die beiden Frauen und tauschen sich über die ästhetischen

Qualitäten gebrochenen Lichtes aus. Wir könnten

um 17 Uhr das totensonntägliche Konzert mit der neu

gerichteten Orgel, der zweitgrößten der Stadt, nach der

im Dom am Lustgarten, besuchen, sagt der fröhliche Mann.

Ihr vier verlaßt gemeinsam die Kirche wieder, und er schließt

zu und schwingt sich auf seinen Drahtesel. „Bis nachher!“,

ruft er noch. Du ziehst weiter und kommst in der Wilhelmsaue 112

an die Kirche der, wie das Schriftband oberhalb der Arkaden

besagt, „Erste Kirche Christi, Wissenschafter“. Sie ist ebenfalls

verschlossen, aber auch hier wird dir aufgetan.

Ein „Wissenschafter“, der in dem Gebäude, wie er dir erzählt,

praktisch aufgewachsen sei, führt dich umher.

Du bewunderst das Mobiliar von 1957, als wäre die Zeit

stehen geblieben. Der Bartningsche Vorgängerbau von 1937,

der einzige, den er für eine nicht-evangelische Gemeinde

errichtet habe, sei, nachdem das Gebäude im Krieg durch einen

Brandbombentreffer in Mitleidenschaft gezogen war,

weitgehend originalgetreu 1957 wiedereröffnet worden.

Ihr steht am oberen Ende des riesigen, nach unten sanft

hinab sich schwingenden Saales, der oben nur von einem

Holzdach abgeschlossen wird. Vom Volkspark her gleißt

auch hier das Licht durch die Fenster. Vor dem Krieg gab es

über tausend Sitzplätze, und die hätte man auch gebraucht,

sagt dein Führer, jetzt seien es nur mehr sechshundert,

und die benötige man nicht wirklich mehr, es fehlen auch hier

Nachwuchs-„Wissenschafter“. 1941 hätten die Nazis sie

verboten, und die SS mißbrauchte den Saal als Lager, später

angeblich als Kino. Der noch im Haus wohnende Hausmeister

hätte nach dem Bombentreffer löschen wollen, doch hätten sie ihn

daran gehindert, und so fraß das Feuer alles, was es in seinen

Schlund schlingen konnte. Hausfremde kämen hierher nur am Tag

des Offenen Denkmals, da sei die Hemmschwelle niedriger, aber du

könntest jederzeit wiederkommen, sogar an einem Gottesdienst

teilnehmen: „Wir beißen nicht.“ Du dankst ihm für seine Zeit und

bist froh, ohne Bißspuren weiter deines Weges zu ziehen.

An der Blissestraße blickst du nach rechts und bewunderst

eine Straßenbiegung nach links, durch die ein einladender Raum

entsteht. Du solltest selber auch in Kurven gehen.

Du schreitest durch die Stadt und es ist, als schreibst du

auf dem Blatt. Aus dem Schreiten wird ein Schreiben.

Die Stadt ist das Blatt, auf dem schreiten und schreiben

in eins gehen. Die fremde Stadt ist ein unbeschriebenes Blatt.

Schreitest du in ihr, ist sie nach und nach kein

unbeschriebenes mehr. Schreite und schreibe.

Und so überquerst du die Straße, im Augenwinkel

siehst du links die Eva-Lichtspiele, wie sie im Lichtspiel der

Sonne dich „anspielen“; geradeaus kommst du vorbei an der dich

ansprechenden „Buchbinderei LWerk“, von der du einmal

ein zu bindendes Buch dir aufbinden lassen möchtest.

Rechts abbiegend, schreitest du in der Mannheimer

Straße vor dem Haus Nummer 27 über eine in den Boden

eingelassene Erinnerung daran, es sei dies hier der

„letzte Zufluchtsort der deutschen Revolutionäre

Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht“ gewesen,

„vor ihrer Ermordung durch marodierende

Reichswehrtruppen am 15.1.1919“.

Nahebei an der Berliner Straße Ecke Barstraße

hat Blumen Riegel Adventsgestecke ausgelegt.

Beim Betreten des Friedhofs, gegenüber der Wilmersdorfer

Moschee, grüßt dich ein justament niesender, seine laufende

Nase mit einem Tüchlein abtupfender Mann in Uniform

mit dem Wort „Mahlzeit“, um noch darauf hinzuweisen,

er sei vom Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge;

offensichtlich bietet er nicht allein Broschüren feil, sondern hält

auch zwei Spendendosen vor; wie er bei Frostgraden

die Stellung zu halten, müßte allein schon

belohnt werden, und du nimmst eine Münze,

wie der Priester die „Oblate“, und schiebst sie

in den Dosenschlitz. Der Friedhof ist heute,

am Totensonntag, gut besucht. Vor dem Ehrengrab

der Familie Blisse machen Radler in Radlermontur

Selbstportraits. Der Friedhof fällt ab, der Sonne entgegen.

Du passierst das Grab einer gewissen Hannelore

Mohamed (1942 bis 2013), schräg gegenüber

liegt das Grab einer gewissen Beatrice Pfeil,

geborene Mohammed; beide in Sichtweite

der Moschee mit ihren Minaretten. Das Wasser im

Gieskannenbrunnen ist gefroren. Im Volkspark glüht

oberhalb des Sees eine Rotbuche mit ihren kupfernen

Blättern im Gegenlicht. An der Hauptkapelle liest

du die Worte: „Vigilitate quia nescitis diem neque horam“.

Darum wachet; denn ihr wisset weder Tag noch Stunde.

Du gehst weiter und kommst zur Russischen Orthodoxen Kirche

„Christi-Auferstehungs-Kathedrale“ am Hoffmann-von-Fallersleben-Platz.

Ein Mercedes-Van mit ukrainischem Kennzeichen steht

vor dem Eingang. Ein junger Mann mit unter dem Anorak

hervorspielendem, bis zu den Knöcheln reichendem Schal

geht die Treppe hinauf und betritt das Gotteshaus durch die

unscheinbare Seitentür, du folgst ihm. Kaum bist du drin,

umfängt dich eine warme, dich beseelende, begütigende

Atmosphäre, eine der Stille, der Ruhe, des Friedens.

Im Hauptschiff findet gerade eine Taufe statt, der spindeldürre

Erzpriester liest in monotonem Kirchenslawisch aus dem

Heiligen Buch, er tuts halblaut, so daß ihn fast nur die in seiner

Nähe stehende, festlich gewandete Familie hören kann.

Du wirst angezogen von dem Anblick, doch faucht eine Frau

von rechts dich an und gibt dir zu verstehen, du sollest deine

Mütze abnehmen, sie ordnet an ihrem Kerzen- und

Broschürenkiosk ihre Auslegewaren und zählt, wie es aussieht,

ihr Geld. Sie beachtet dich nicht weiter, auch als du selber

eine Kerze kaufst und die Münze vor ihr ablegst. Vor den Ikonen im

südlichen Seitenschiff betet ein mittelalter Mann, auch der junge

von vorhin betet mit dem Gesicht dicht an den „Bildern“, als würde er

sie betend gleichzeitig küssen, oder sie so berühren, wie Pferde

mit ihren weichen Lippen das Gras streicheln, ehe sie es förmlich

abgrasen, und so wechselt er nach jedem Gebet von Ikone zu Ikone,

als wäre das ganze eine sakrale Wanderung, die er im goldenen

Schein der Ikonen unternimmt. Du steckst an einem der Kerzenständer

deine Kerze an und steckst sie fest. Ohne zu beten oder dir dabei

etwas zu denken, erfreust du dich allein am Kerze-Anstecken-und-

sie-Dazustecken. Dein Blick wandert wieder Richtung Hauptschiff.

Die Frauen haben dünne, durchsichtige Schleier halb über ihr Haupt

gelegt, es scheint dies eine Geste des Respekts zu sein, die Geste

allein genüge, das Haupt, das Haar, muß nicht wirklich verhüllt und

zum Verschwinden gebracht sein. Es sind junge, in sich ruhende,

einen beseelten Geist ausstrahlende Frauen. Die eine, mit dem Säugling

auf dem Arm, tanzt unmerklich auf der Stelle, das Kind beruhigend,

während der Priester weiter aus dem von ihm wie ein Schmetterling

mit halb geöffneten Flügeln gehaltenen Buch rezitiert.

Einmal geht er zur Ikonostase, der Ikonenwand, und öffnet

die südliche Tür, es ist, als müßte er im jenseitigen Teil

etwas suchen. Währenddem liest er weiter aus dem Buch,

schließlich kommt er zurück und schließt wieder die Tür

hinter sich. An der rückwärtigen Wand des Hauptschiffs sind

ein paar wenige Gartenstühle aufgestellt, auf die sich die

setzen dürfen, deren Alter es ihnen nicht leicht macht,

gegen die Schwerkraft zu kämpfen. Du gehst wieder hinaus,

und als hinter dir ein Ehepaar die Kirche verläßt, fragst du,

ob hier Russen und Ukrainer gemeinsam feierten, er blickt dich

mißtrauisch an und gibt nur barsch zu verstehen, dem sei so.

Danach kommt der junge Mann von vorhin, und dieser erzählt,

er komme aus Rußland, sei aber in einer ukrainischen Familie

aufgewachsen, und er grüßt dich freundlich, seines Weges ziehend.

Das tust du auch und kommst in der Brienner Straße am

Eingangsgartentörchen der Moschee vorbei. Es ist abgeschlossen,

du siehst aber vor dem Eingang vier Paar Badelatschen und

ein Paar Turnschuhe stehen, nebst einem blauen Klappstuhl.

Erbaut wurde das Gebetshaus von 1924 bis 1928.

„Ahmadija Andjuman Ischaat el-Islam Lahore, Pakistan“,

liest du auf einem Schild; die wollen also ihre Sicht des Islams

verbreiten; es scheint dies allgemein ein Kennzeichen von Gruppen

oder Einrichtungen zu sein: ihre Sicht der Dinge andern nahebringen

zu wollen. Gegenüber, in Haus Nummer 11, befindet sich

das Institut für Rechenschwäche-Therapie, das dir nicht nur zu denken,

sondern im stillen auch zu lachen gibt. Hat nicht jeder Mensch die eine

oder andere Form von Rechenschwäche? Wie oft rechnen Menschen

sich dies und jenes aus und verrechnen sich doch immer wieder;

manche bedürfen anschließend der Therapie. Auch Religionen, könnte

einer sagen, sind Institute für Rechenschwäche-Therapie, und solltest du

einmal einer Religion dich anschließen, dann doch der „Religion

für Rechenschwäche-Therapie“. Nebenan, die Straße weiter

hinunter, kommst du zur „Christianskirken / Den danske Menighed i

Berlin / Dänische Gemeinde in Berlin“. Im freistehenden hölzernen

Glockenstuhl hängt eine Glocke. Glocken sind die akustischen

Locken der Kirche; ihre Klänge wehen frei im Wind.

In der Brienner Straße Nummer 16 findet wilder Wein sich

am Gebäude der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen

und Wohnen fassadenhoch, noch halb brennend, halb erloschen.

Vor dem Bürgeramt gegenüber weht die ukrainische Flagge im Wind.

Der nahe Preußenpark am Fehrbelliner Platz glänzt spätherbstlich leer.

Kein Thaimarkt in den kalten Monaten. Zwölf Nebelkrähen hüpfen

über die Wiese. Du ziehst weiter über den Hohenzollerndamm

in die Günzelstraße und biegst launisch in die Trautenaustraße ein.

Am Haus Nummer 12 blickt eine Berliner Gedenktafel für den

einstigen Bewohner George Grosz dich an. An Nummer 9 haben

mutmaßlich Hausbewohner ein privates Schild angebracht:

„In diesem Haus wohnte 1922 die russische Dichterin Marina

Zwetajewa (1892 - 1941)“. Welchen Sinn haben all diese

Tafeln? Erinnerung, Gedächtnis. Der zeitgenössische Raum wird

um eine historische Dimension erweitert. Zu den Himmelsrichtungen

des Raumes gehört auch die Zeit. Am nahen Nikolsburger Platz

tragen die Platanen und die Eichen noch ihr kupferorangenes

Blätterkleid. Die burgtrutzige Cecilien-Grundschule liegt still.

In der evangelischen Kirche am Hohenzollernplatz feiert

seit 14 Uhr die Chinesische Christliche Gemeinde Berlin e.V.

ihren Gottesdienst; jetzt ist es 15.20 Uhr. Betend, halten

die Gläubigen die Köpfe synchron nach unten geneigt.

Zurück Richtung Nikolsburger Platz, liest du am Zaun des

Spielplatzes „Zirkus Aladin“ ein Schild: Auf dem Gelände des

Spielplatzes haben Schüler, Lehrer und Eltern der

Cecilien-Schule elf sogenannte Stolpersteine „versteckt“,

die Kinder werden wie bei einem Spiel dazu aufgefordert:

„Findet die Steine!“ Ist dies, fragst du im Weitergehen,

nicht eine fragwürdige, das Andenken der Opfer gewissermaßen

zum Spielstein machende Form einer deplazierten Einführung

in Auschwitz-Kunde? Hoch über dem Gänselieselbrunnen von

Cuno von Uechtritz fliegt ein Schwarm Kraniche, 15.31 Uhr.

Der Himmel glänzt licht-weiß-blau; lockere Wolkenstreifen,

sonnenbeleuchtet, ziehen südwärts. An der Bundesallee befindet sich

die „Botschaft des Königreichs Saudi Arabien / Kulturbüro“,

du gehst schnell über die Straße, vorbei an der Stelle, an der

bis vor wenigen Jahren die Imbißbude stand, an der eine Szene

von Wim Wenders' „Der Himmel über Berlin“ mit Peter Falk gedreht

wurde; ziehst zum Prager Platz und umrundest das Rilke-Denkmal:

„‚Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft / werden

weniger ... überzähliges Dasein / entspringt mir im Herzen.' (Rainer

Maria Rilke) Geschenk der Stadt Prag und der europäischen

Rilke-Stiftung“. Das Hotel Hyperion hat eine Kästner-Bar, benannt nach

Erich, der in der Prager Straße Nummer 12 seine Schreib-Cocktails

gemixt hat; das Haus ging im Bombenkrieg verloren. Vor dem Haus 2A

erinnert ein privates Denkmal an 1992 hier im einstigen Restaurant

„Mykonos“ ermordete kurdisch-iranische Politiker. In den Räumen

befindet sich jetzt ein Kindergarten: „Mini Aventura / Centro infantil /

Aleman Espanol“. Vor dem Haus befindet sich ein überdachter

Kinderwagenabstellplatz; das Dach bauchnabelhoch. Der Nürnberger

Platz ist trostlos, beleuchtet allein von dem libanesischen Restaurant

„Byblos“ und der Berliner Bier-Akademie gegenüber.

Ein Vogelschwarm-V erscheint am Himmel über

dem Friedrich-Hollaender-Platz, nach Norden ziehend, in die falsche

Richtung, wie dir scheint. Via Fasanenplatz machst du dich auf

Richtung Ludwigkirchplatz. In der Ludwigkirche findet gerade

eine gemeinschaftliche Chorandacht der Chöre an St. Ludwig statt.

Im Informationskasten im Eingangsbereich der Kirche hängt

ein Zettel: „Taschendiebe sind leider überall / Achten Sie bitte

auch hier auf Ihr Eigentum“. Vivaldis „Gloria“, Hans Kriegs

„Sim shalom“, Martons „Passacaglia“ und Vaughan-Willims'

„5 mystical songs“ bilden die freilich inbrünstige Andacht.

Beim „Gloria“ singen Sopran Alessia Schumacher und

Alt Roksolana Chraniuk innig und doch expressiv; an der Orgel

zieht die Ukrainerin Svitlana Pozduysheva alle ihre Register.

Über dem Altar strahlt das die Augen berührende goldene Kreuz,

in seinen gerundeten Enden wie in der Mitte leuchten rote Steine.

Nach dem „Gloria“ spricht Pfarreirätin Frau Monika Grütters,

Abgeordnete des deutschen Bundestages und laut Programmzettel

auch „Professor“, einen Psalm, der dir zum einen Ohr hinein und

zum anderen hinaus geht, ohne daß du auch nur ein Wort verstanden

hättest. Aber Hans Kriegs „Sim Shalon“ verstehst du, das danach

eindringlich aufwühlend von Bariton Georg Streuber vertont wird.

Derart aufgewühlt, gehst du wieder, stößt aber im Eingangsbereich noch

auf ein Plakat der Initiative „1000 gute Gründe“, „um zu glauben“

oder sich christlich einzumischen; Grund Nummer 60:

„Alle, die auf den Herrn vertrauen, bekommen immer wieder

neue Kraft, es wachsen ihnen Flügel wie dem Adler.

Sie gehen und werden nicht müde, sie laufen und brechen

nicht zusammen.“ Aber wenn ihnen Flügel wie dem

Adler wachsen, sollten sie dann nicht fliegen anstatt zu gehen

oder zu laufen? Sollten sie vom Hangwind nicht sich

tragen lassen? In der Thermik kreisen und steigen und

die Sonne an den Flügelspitzen spüren? Draußen vor der Kirche

schwebt hoch in dünnem Schleier der volle Mond,

widerglänzend der Sonne Strahlen. Du gehst durch die

Pariser Straße und findest vor Haus Nummer 11 sage und

schreibe neunundzwanzig „Stolpersteine“ in den Boden

eingelassen. In der vollen U-Bahn Nummer 9 in der Spichernstraße

schläft ein junger Mann auf der langen Sitzbank, schläft offenbar

sehr tief. Du rüttelst und schüttelst ihn, ohne daß er sich

rührte. Du rüttelst und schüttelst weiter, weil du wissen willst,

was mit ihm es auf sich hat. Die anderen Fahrgäste schauen

dir dabei zu. Es dauert ewig. Doch schließlich, wie aus dem Nichts,

beginnen seine Wimpern zu zittern: Er wacht auf. Ein Glück,

am Totensonntag ein endlich Lebender, der die Augentüren öffnet.

26.11.2023


LICHTENRADE

Kurz vor zwölf Uhr am Mittag

ist der Horizont gelb-gold verwolkt,

Lichtinseln himmlischen Blaus darin,

auch zimtfarbene Wolkengebirge

rücken ins Blickfeld.

Die Fassade der Polizeistation am

Lichtenrader Damm ist bald zugewachsen

vor wildem karmesinroten Wein.

Der Bus X83 entläßt dich um 12 Uhr in der

Nahariyastraße, benannt nach der

Stadt in Israel. Die Sonne kommt schräg

hinter einer Wolke hervor, das Zwölf-Uhr-Läuten

der Kirche taucht aus der Ferne auf,

ein Flieger startet von Schönefeld nach Westen.

Im Siekeweg nimmt dich eine gelbe Birkenallee

auf, und im Süden startet wieder ein Flugzeug,

12.09 h. Sieke war der Name eines alten

Lichtenrader Bauerngeschlechtes, steht auf

dem Straßenschild, eine Wendung, so noch

nicht gehört. Über die Würzburger Straße

gelangst du auf den einstigen Grenzstreifen,

welcher die DDR von West-Berlin abschnitt.

Heute ist da ein Grenzwald, vierunddreißig

Jahre alt. Hier führt für Wanderer der Mauerweg

entlang. Der Wald selbst bildet eine

Mauer, eine durchlässige, angenehme, anmutige,

ungefährliche, rauschende, geschneiter

Blätter voll. Du stehst am Saum eines Kraut-und-Rüben-

Feldes und blickst ins Land Brandenburg hinein.

Im Wald geht auf dem Lebensstreifen

ein Alter mit seinem Dackel, jenseits des Felds,

Großziehten zu, zieht ein Mittelalter mit einem

größeren Hund über einen Trampelpfad,

im Wald keucht ein Läufer, ehe ein altes Paar

auf dem Rad vorwärtsquietscht. Ein in wärmere

Gefilde ziehender Schwarm großer Vögel taucht auf,

Gänse? oder doch Kraniche? Ein großer Flieger hebt ab,

12.18 h, ganz niedrig, kaum Höhe gewinnend.

Hier, am vor Blätter leise rauschenden Saum,

fühlt du die Weite der Welt, eine Weite, die dich weiter

atmen, und aufatmen, läßt. 12.20 h, der nächste,

große, schwere Flieger hebt ab, verschwindet bald

in den tief schleichenden, anthrazitblauen Sprühwolken,

während sein infernalisches Getöse weiter aus

dem lichten Gebirge der Hochwolken wie aus einem

uneinsehbaren Schlund über die Landschaft

herunterfährt. Ein Hagenbuttenbusch voller Hagebutten am Rand

des BMX-Geländefahrradgeländes tröstet deine Augen,

deinen Blick. Die niedrig, geräuschlos schwimmenden

Wolkenpakete, absender- und adressatenlos. Aus der Ferne

in der Siedlung irgendwo dringt jetzt das Dröhnen eines

ewigen Laubbläsers zu dir. In der Wittelsbacherstraße Ecke

Pechsteinstraße, benannt nach Max, dem Maler, nicht nach

Claudia, der Eisschnelläuferin, der ewigen, steht ein Briefkasten.

Tagesleerung um 16.15 Uhr. Der Briefträger radelt mit seinem

Elektrozustellfahrrad auf dem Gehsteig. „Mahlzeit!“, ruft er

einer Passantin zu. Wiederholt kann er die Briefe, ohne

abzusteigen, im Vorbeiradeln in den am Grundstückssaum

angebrachten Briefkasten routiniert einkasteln.

Mit zwei jungen Müttern hält er an einer Straßenecke

einen Plausch. Das eine Kind sitzt auf dem Boden,

während das andere alleine weitergeht.

Die Mütter scheinen den Briefträger als Plaudertasche

gern zu haben. Plötzlich rumpelt ein riesiger Lastwagen

mit einer leeren, kettenklirrenden Baggerladefläche vorbei,

und du siehst, wie die eine Mutter jetzt in die Richtung rennt,

in der ihr Kind gegangen, das nicht mehr zu sehen ist.

Du gehst an einem Fließgraben entlang, während ein

Hubschrauber quer über die Stadt hubschraubt. In der Bornhagen-

straße liest du auf einem Findling „Parksiedlung Alt-Lichtenrade /

erbaut vom / Petrus-Werk / 1966 - 1970“. Daneben befindet

sich ein Denkmal mit zwei schräg aufragenden Eisenbahnschienen.

In einen Granitblock wurde eine gekippte weiße Marmortafel

eingelassen mit der Aufschrift: „ERINNERN UND NICHT

VERGESSEN / Zum Gedenken an / die Opfer des /

nationalsozialistischen / Terrors, die hier /

zwischen 1943 und 1945 / im ehemaligen Außenlager

des Konzentrationslagers / Sachsenhausen /

inhaftiert waren.“ Auf einer Schiene steht „Bochum 1941“

und davor finden sich Buchstaben, schwer zu entziffern,

B V C? oder G? vielleicht, die könnten für „Bochumer Verein

für Bergbau und Gußstahlproduktion“ stehen, der 1936

die Glocke für die Olympischen Spiele gegossen hat, auf

der die Aufschrift angebracht war: „Ich rufe die Jugend der Welt“,

ehe nicht viel später die Jugend, und nicht nur die,

Millionen Menschen jedes Alters, zum Sterben gerufen, gebrüllt,

gebombt wurden durch den von den Mörderbanden vom Grenzzaun

gebrochenen Krieg. Die Schienen hier wurden womöglich

selber von Zwangsarbeitern hergestellt, deren es in Bochums

Hütten und Werken etliche gab. An der Stelle, an der einst

das Außenlager war, befindet sich nun das Parkhaus

der Parksiedlung. Eine halbe Zimtschnecke liegt

auf der linken Steinhälfte. Du gehst hinunter zum Dorfteich, der

jetzt im Sonnenschein liegt und an dessen Saum die Dorfkirche

aufragt. Enten schnattern. Auf den Sitzbänken sitzen

Menschen. Eine Mutter wünscht dem DHL-Paketboten

noch einen guten Tag und geht hinüber zur Tanzschule,

wo ihre Tochter tanzt. Aus der Kneipe „Alte Feuerwache“

kommt ein Gast und sagt zur Wirtin: „Machs jut!“

Im Hintergrund leuchten zwei Geldspielautomaten.

Die Ungleichzeitigkeit gewisser, aus

Dörfern hervorgegangenen Großstädte:

Sie bleiben diesseits ihres weitläufigen,

vierspurigen und hochhäuslichen Gepräges

doch immer noch dörflich, sofern sie die alten

Dorfansichten nicht durch Überbauung auslöschen.

Du fährst ein Stück mit dem Bus X76 den Lichtenrader

Damm hinunter, eine blonde Mutter mit Säugling im Wickeltuch

hält in der schräg hereinscheinenden Sonne ihre Augen

geschlossen. Im Hotel Obergfell wolltest du essen,

aber sie halten außer süß glasierte Kuchen keine Speisen

bereit. Du ziehst wieder den Damm hinauf, den ewigen,

vom Verkehr überrollten, den ein Wassergraben unterquert.

Am „Curry-Point“ an der umtosten Kreuzung Lichtenrader

Damm Ecke Barnetstraße hält eine alte Frau im Elektrorollstuhl

mit Kaffee und Kippe in der Hand einen Schnack mit dem

Currywurstbudenbetreiber über Weltpolitik.

In der Bahnhofstraße ist das Bäckerei-Cafe Junge

gut besucht, Lichtenrader Volk versammelt sich hier,

in der Mehrheit Vertreter reiferer Semester, manche mit

verrauchtem Lachen, drei Rollatoren sind geparkt.

Durch große Glasfenster wandert der Blick gen Süden

in den blau-weißen Himmel, den startende Flugzeuge

durchqueren. Zwei junge Mädchen tauchen auf,

Schwestern offensichtlich, die jüngere trägt das Tablett mit

schäumenden Gläsern Schokolade und Plunderteiggebäcken,

mit Kakaocreme gefüllt, vorsichtig zu ihrem Platz,

so vorsichtig, wie nur ein Kind vorsichtig gehen kann.

Du gehst hinüber zur katholischen Salvatorkirche,

große, mächtige Eingangstür mit einem Fischtürgriff

aus Messing. Der Vorraum ist geöffnet, an der Decke

ein Lichtkreis, rechts steht eine Schutzmantel-

madonna, vor der Kerzen entzündet sind. Der Kirchenraum

wirkt klar und doch auch barock, dabei wurde sie erst Anfang

der dreißiger Jahre errichtet. Du gehst die Bahnhofstraße

hinunter und betrittst den evangelischen Friedhof.

„Denn bei Dir ist die Quelle des Lebens und in deinem Lichte

sehen wir das Licht.“, begrüßt dich am Weg der Psalm

36,10 und du fragst dich, inwiefern die Quelle und das Licht

zusammengehören. Das Leben quillt, wie das Wasser

aus der Dunkelheit des Erdreichs, aus dem Dunkel

des Nichts in die Existenz, und erst hier, am Tage,

kannst du den Tag sehen, nur im Licht das Licht.

„Gott ist meine starke Burg und macht meinen Weg eben

und frei.“ (2. Samuel 22, 23), grüßt dich eine an der

nächsten Wegkreuzung angebrachte weitere

Zitation, es ist dies augenscheinlich ein Friedhof

biblischer Belegstellen. Paradox mutet dir hier

die statische Burg an, unbeweglich für jeden Weg, die

aber doch deinen Weg erst ermöglicht. Es ist hier offenbar

eine unsichtbare, überdimensionale, ja weltüberspannende

Burg gemeint, die es dir erst ermöglicht, unbeschwerte,

also ebene und freie Wege zu gehen. Egal, wo du stehst

und gehst, die Burg bürgt für deine freie Sicherheit.

Der Bürger geht geborgen. Und weiter gehst du und

geht es an der nächsten Wegkreuzung:

„Ich gehe oder liege, so bist Du um mich

und siehst alle meine Wege.“ (Psalm 139,3)

Ja, du kommst nicht umhin, hier nicht nur an

das Auge Gottes, das alles sieht, zu denken,

sondern auch an das Auge des Gesetzes

und überhaupt an alle Überwachungskameras

allüberall zu jeder Zeit auf dieser Welt, und du

wünschst dir eine Burg, frei von jeder beschattenden

Linse, ob menschlich oder künstlich.

An einem Ehrenmal liest du: „Den im Weltkriege

gefallenen Lichtenrader Bürgern“. Du gehst

über ein Gräberfeld für im letzten Bombenkrieg

gestorbenen Lichtenradern, etliche hat es noch

in den letzten Kriegstagen erwischt. Dann ein

jaulender, markerschütternder Schrei. Noch ein

Schrei. Und du siehst in der Nähe eine kleine Gruppe

Menschen stehen, sechs Personen, und meinst,

jemand sei ins offene Grab gefallen, aber dann siehst

du zwischen den Beinen der anderen einen Mann

am Boden liegen, eine Atemmaske trägt er wohl,

drei Gärtner assistieren den beiden Sanitätern und

eine Frau hält einen Kasten in der Hand, eine

Sauerstoffpumpe vielleicht, von der ein Schlauch

zur Maske des Mannes führt, die Frau

wird die Tochter des Alten sein, beide am Grab

der Mutter beziehungsweise der Frau, glaubst du.

Offenbar hat der Alte starke Schmerzen,

wenn man ihn anzuheben versucht.

Man hat eine Plane unter ihn geschoben.

Die Dämmerung fällt. Es hilft nichts, er muß

auf die bereitgelegte Liege, um ihn für den Weg

ins Krankenhaus transportabel zu machen.

Sie heben ihn so vorsichtig hoch, wie es geht,

und vor Erschöpfung jault er nicht mehr.

Es gelingt. Im Weitergehen siehst du das

elektrische Gärtnerlastwägelchen und die

Schubkarren und Schaufeln auf den Wegen

stehen und liegen gelassen, wo sie eben waren,

als sie den Notfall bemerkten. Als du in der

Bahnhofstraße den Bus zurück ins Innere der

Stadt besteigst, siehst du die „Goethe-Apotheke“

und meinst, Goethes Werk sei selber auch eine

Apotheke, in der du immer die Medizin bekommst,

die deinem Seelenheil bekommt und die dich ermuntert,

auf verwegenen Wegen weiter zu vergehen.

16.11.2023


GRUNEWALD

Eben noch schwebtest du halb versunken im Obergeschoß

des brandneuen, aus an der Decke befindlichen Schlitzen

ständig hoffentlich sauberen Äther in die Fahrgaststube blasenden

und deine Haare verwirbelnden Omnibusses Nummer 186

vom Roseneck zum S-Bahnhof Grunewald am Saum des bebauten

Teils von Grunewald, vorbei an Nagomis „Dog Styling“-Frisierstube

in der Hagenstraße und an dem ukrainischen Restaurant

„Fayna Ukraina“ in der Menzelstraße, schon steigt dir,

nach der Landung, in der Bahnhofshalle vor dem Eingang

zum gewölbten Tunnel zu den Gleisen und zum Grunewald

selber, welcher, jenseits der brausenden AVUS, in öden

Endlosigkeiten hinab zum sandigen Ufer der in der Ecke breiten

Havel zieht, der warme Duft frisch aus dem Ofen gezogener Brotlaibe

aus der Backstube Steinecke behaglich in die Nase.

Doch das große, von der Tunneldecke hängende Schild

mit der Aufschrift „Gleis 17“ sticht dir ins Auge, deine

Aufmerksamkeit auf sich ziehend. Zwei Männer,

um die fünfunddreißig, Touristen wohl, schießen Photos,

wie einer der beiden die Treppe herunterkommt,

an deren oberem Ende ein Mahnmal an während

der Nazi-Zeit von hier deportierte Berliner Juden

erinnert. Der Knipserei ungeachtet, gehst du die Treppe

hinauf. Vielleicht wird deine Rückenansicht jetzt Teil

eines privaten Photoalbums oder Teil eines im Netz

veröffentlichten Photoromans, du nimmst es hin,

wenn auch nicht gern. Im Zeitalter der Allgegenwart

von Telephonkameras ist es unmöglich, bewegst du

dich im Freien, nicht irgendwo von irgendwem in die bildliche

Existenz gezwungen zu werden. Diesen Menschen hat es einmal

gegeben. Im Bett von Gleis 17, dem Mahnmal, sind Bäume gewachsen,

Ahorne und silbergraue Birken. Gelbe Blätter fallen.

Anscheinend sind die Bäume Teil der Installation und sollen

zu verstehen geben, liest du, daß von hier keine Züge je

wieder fahren werden. Ein fast rührendes, fast kindisches

symbolisches „Nie wieder!“, scheint dir. Fast rührend scheint es,

weil die Urheber dieses Gedankens offenbar an das Gute

im (herrschenden) Menschen glauben, trotz des von Historie belehrten

und von Gegenwart belehrenden besseren Wissens,

und fast kindisch scheint es, weil kein Böser, kein böser Staat und

keine Bande von Bösen von ein paar Bäumen von Untaten

sich aufhalten lassen würden und dementsprechend auch

nicht sich aufhalten lassen. Die böse Tat benötigt kein Gleis,

um ins Unwerk gesetzt zu werden. An der schrägen

Zufahrtsstraße sind Halteverbotsschilder für den 9.11.2023

aufgestellt. Die Sonne blendet dich, und du betrittst

das am Bahnhofsvorplatz befindliche Restaurant Floh.

Ein mit Kreide beschriebenes Schild preist „Möhreneintopf

mit Schweinefleisch“ an. Der vordere Gastraum

wird von der Sonne in Licht getaucht, es

ist weich wie zerlassene Butter, das Licht läßt sich

auf die Gäste nieder. Die hier als Bedienung arbeitende Frau

präsentiert sich in deinen Augen in offener, liebenswerter

Freundlichkeit. Sie trägt eine neue Blue Jeans und ein

einfaches schwarzes Hemd. Die langen Haare trägt sie offen.

Sie zählt ein paar Semester und hat doch das Flair einer jungen Frau,

als wäre sie einem Mythos entsprungen und damit alterslos.

„Wir kennen uns, du warst schon einmal hier, oder?“, fragt sie dich.

Du kennst sie nicht, aber hältst es für plausibel, daß eine zeitlose Frau

dich von irgendwannher kennt. Die Gäste spachteln fleischhaltig,

während jetzt ein sanddornorangenes Licht hereinfließt.

Über der Tür hängt ein Gemälde des Alten Fritz.

Das Dudelradio läuft, es ist ziemlich laut, zwei „Denon“-Lautsprecher

stehen am Tresenrand übereinander, und dir gelingt es nicht,

zu lesen. Ein Herr kommt herein und fragt nach einem hier

für ihn abgegebenen Paket. „Zweiffel? Mit zwei f?“ „Ja.“

„Ist das nicht von nebenan? Was sind Sie?“ „Raumausstattung.“

Die Radionachrichten kommen. Danach verraten Meldungen,

wo gerade Klimakleber festkleben und Stau auslösen.

„Torstraße / Rosenthaler Platz Richtung Friedrichstraße“ zum Beispiel.

Zwei alte Männer sitzen an dem Fenstertisch, grauweißhaarig beide,

aus dem Radio läuft „Do you really want to live forever ... forever

young?“ Der eine betastet das Handgelenkgerät des anderen,

das dessen Blutdruck und Puls mißt, es ist ein Moment von Innigkeit,

scheint dir. Die Bedienung will hinausgehen, als ein Stammgast

ihr entgegen kommt, ein runder, alter Mann mit kleiner, ovaler Brille,

silbernem Schnurrbart und Sean-Connery-Mütze, dazu benutzt er

einen auf dem Boden klackenden Gehstock.

„Mario, Hallöchen!“ „Ick will wat essen!“ „Wat willste denn?

Wat kräftiges? Königsberger Klopse?“ Ein vierzigjähriger Mann

kommt herein, setzt sich und bestellt ein König Pilsner.

Die Bedienung singt bisweilen die Radiolieder fröhlich mit,

jeder Song „ein Lieblingshit der 80er Jahre“. Ein Pärchen bestellt

bei der Bedienung einen Schnaps. Der ist ihr unbekannt: „Den muß

ick och gleich probieren, sonst kenn ick den ja nicht!“ Vom hinteren

Raum kommt ein Vater mit seinem zwölfjährigen Sohn zum Zahlen

an den Tresen. Die Bedienung fragt den Sohn: „Willste noch 'nen

Lolly?“ Der Junge will und greift in die ihm hingehaltene Glaskaraffe.

Der Raum wird videoüberwacht, zumindest entdeckst du jetzt

dieses Ding da oben, das entweder eine Attrappe ist oder dich die

ganze Zeit filmt. Auf einem der zahllosen Schilder steht „Hier kocht

die Chefin selbst“. Meermilchdunstiges Licht jetzt am Zapfhahntisch.

Aus den Boxen kommt „Do you really want to hurt me, do you really

want to make me cry?“ Die Achtziger, die Atombomben drohten,

auf der Mutlanger Heide wurden die Pershings stationiert,

waren, scheint es, den zufälligen Liedern hier nach zu schließen,

auch die Zeit der Fragen nach dem, was du möchtest:

ewig leben, ewig jung sein, den anderen verletzen

und zum Weinen bringen? Eine Telefonanruferin sagt im Radio,

ihr lägen die 80er am Herzen. Worauf Udo Lindenberg nuschelt:

„Es tut nicht mehr weh, endlich nicht mehr weh, wenn ich dich zufällig

mal wiederseh', es ist mir egal, so was von egal ... ich lieb dich

überhaupt nicht mehr, das ist aus, vorbei und lange her...“

Zeit für dich, auch, so lange das Licht in den Straßen noch

zu finden ist, jetzt eine Runde zu Fuß zu drehen.

Die einzigen, die außer dir zu Fuß unterwegs sind,

sind die Handwerker auf dem Weg von ihrem geparkten

Transporter zu irgendeiner der zahlreichen Baustellen, dazu

ein paar Hunde-Ausführer. Ansonsten fahren die Anwohner

nur mit ihren abgedunkelten Karren von Ziel zu Ziel. Ullsteins Hütte,

die schloßartige Prunkvilla in dem weitläufigen Seepark, einst

im Eigentum eines der Ullstein-Brüder, du hast sie vor Jahren

von der Straße aus angestaunt, als noch das Rote Kreuz

drin siedelte, haben sie anscheinend abgerissen und an der Stelle

zumindest in deinen Augen abgeschmackte Luxuswohnungsbauten

hineingetrümmert. Die korrespondieren freilich mit den ähnlich

abgeschmackten Pkw-Modellen, die hier favorisiert werden.

Der Abriß gehört zur bestechenden Logik des ‚Kapitalismus' -

er macht vor nichts halt: „Alles Ständische und Stehende verdampft“,

schrieben Karl Marx und Friedrichs Engel in ihrem Kommunistischen

Manifest von 1848. Ein historisch bedeutsames Anwesen?

Was solls, wenn man es abreißen und dafür einen Reibach machen

kann oder sag lieber: einen überdurchschnittlichen Gewinn erzielen.

Der dem ‚kapitalistischen' System folgende Mensch verkauft

alles, nicht nur seine Großmutter, auch sich selbst, seine Seele.

Andererseits kannst du auch nicht alles bedeutende

zum Denkmal erklären, schon allein weil den Nachkommenden

sonst irgendwann die Aussicht genommen ist, selber zu gestalten

und zu bauen. Nicht nur fließt alles, alles geht auch vorbei, auch das

Stehende, der Bestand. In einer alten Villa in der Bettinastraße

siedelt die Wohngemeinschaft „Violetta Clean“ des Hilfsvereins

„Frau Sucht Zukunft“, der Frauen auf dem Weg aus der Abhängigkeit

von Drogen hinaus helfen möchte. Der Park der Villa Harteneck

ist, unter Denkmalschutz stehend, unbebaut geblieben und öffentlich

begehbar, du gehst auch hinein, gehst aber gleich wieder hinaus,

es ist unter den hohen Parkbäumen zu schattig für musisches

Bleiben. Ziehst weiter durch die Straßen, bis du am Hagenplatz 2

dich im Ristorante „Capriccio“ aufwärmst. In einem Nebenraum

stößt du auf etliche Photos von einflußreichen Politikern an der Wand,

die der Wirt offenbar gezwungen hat, sich bei jedem Besuch mit ihm

ablichten zu lassen. Es scheint dies hier die reinste Kanzlerhöhle

gewesen zu sein, Kohl, Schröder, Merkel erfuhren hier gastrophile

Mästung. Kohl schleppte sogar Gorbatschow und Bush Senior herein.

Du gehst lieber wieder hinaus, und wie du siehst, wie die Handwerker

ihre Sachen zusammenpacken und zu ihren Autos tragen,

erreichst du die Hubertusallee. Der Hubertussee liegt still.

Die großen, alten Buchen leuchten kupferorange. Gegenüber,

auf dem Hubertussportplatz, trainieren Kinder, und die Eltern

stehen am Rand und schauen zu. Jenseits des Sportplatzes,

aber schon in Schmargendorf, liegt die Botschaft von Israel.

Die Dämmerung fällt. Der heranfahrende Bus M29 leuchtet,

mit ihm gehts zurück zum Roseneck.

3.11.2023


HALENSEE

Es ist ein Samstag nachmittag, Stille regnet.

Du versteinerst am Henriettenplatz am Kurfürstendamm

vor dem trockengefallenen Medusabrunnen

für einen Augenblick beinah: ihr Haupt

ist halb in der Erde versunken, doch

ihre Augen schlagen mächtig dich in ihren

Bann. Aus dem Brunnenkopf brunnt kein Wasser

mehr, allein ihre Augen brunnen, sie brennen

durch die Umgitterung, die man ihr verpaßt hat,

in der sie vorgeführt wird wie ein russischer Sträfling.

Auf der Sitzbank weiter unten schläft ein

Obdachloser, neben sich den Einkaufswagen

mit seiner Habe. Die rostfarbenen Bodendeckel stammen

von der Firma Barth in Ludwigsburg. Im Haus Westfälische

Straße Ecke Seesener Straße, der Nachkriegsbauten ersten einer

hier, siedelt im Hochgeschoß mit der breiten, vorspringenden

Fensterfront die Tanzschule „Traumtänzer“. 1956 hatten

die berlinbekannten Kellers eine ihrer wiedereröffneten Schulen da.

Du siehst durch die Zeiten die adretten Tänzer von damals,

die den Kriegsstaub aus ihren Kleidern fegen.

Zwei Edeka-Verkäuferinnen haben das Anlieferungstor

zur Hälfte hochgelassen und machen Zigarettenpause.

Ein Straßenpumpbrunnen am Beginn der

Seesener Straße hat einen Pelikanschnabelhahn,

du betätigst den Schwengel und siehst zufrieden,

daß Wasser strömt. Der Wohnungsneubautenriegel

in der Seesener Straße dämpft ein wenig das Geräusch

der nahen Autobahn 100. Nach links ab fällt die kurze,

kurvige Halberstädter Straße mit ihren Robinien und ihren

vom „Bombenhagel“ verschonten Vorkriegsbauten.

Die Joachim-Friedrich-Straße erscheint als belebte Allee.

Eine Gedenktafel am Haus Nummer 54 erinnert an den

aus Baden stammenden Mimen Albert Bassermann,

der hier von 1930 bis 1933 lebte und, wie zu lesen ist,

„aus Solidarität“ mit seiner jüdischstämmigen, gleichfalls

als Schauspielerin arbeitenden Frau Else, geborene Schiff,

1934 aus Deutschland emigrierte. Schräg gegenüber

präsentiert die Hugenotten- beziehungsweise die Französische Kirche

zu Berlin einen Reliefschmuck an der unschmucken Außenwand.

Ihre „edle Hütte“, wie sie den Gemeindesaal nannten,

war von 1961 bis zum Fall der Mauer Mitte für den im Westteil

gebliebenen Teil der Gemeinde, sie haben sie Ende letzten Jahres

aufgegeben, um ganz in der Französischen Friedrichstadtkirche

und im Französischen Dom am Gendarmenmarkt die Gottesdienste

zu feiern. In „The Kids Club“ unterrichtet der Lehrer gerade Englisch.

Es ist kühl und windig, die Atmosphäre macht dich

unruhig. Doch das Wort „Löschwassereinspeisung“,

an einer Hauswand auf einem Schild stehend, beruhigt dich.

Am Auktionshaus Dannenberg vorbei, siehst du schon

das altrosafarbene Heizwerk an der Nestorstraße.

Das Gewerbegebiet der Nestorstraße ist still.

Die Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung,

Fachbereich Sozialversicherung, liegt verwaist.

„Die kleine Weltlaterne“, den außen angebrachten

Zeitungsausschnitten nach zu urteilen, ist ein berühmtes,

von Künstlern und Prominenten aufgesuchtes Lokal.

Hier, in Haus Nr. 22, wohnte von 1932 bis 1937

Vladimir Nabokov, informiert ein unauffälliges Privatschild

an der Wand des nicht gerade einladenden Hauses.

Die Hochmeisterkirche am Hochmeisterplatz schlägt ein Uhr.

Hier residiert die Evangelische Kirchengemeinde Halensee /

zugehörig dem Evangelischen Kirchenkreis Charlottenburg-Wilmersdorf.

„Jesus Christus gestern u. heute u. derselbe auch in Ewigkeit“

steht über dem Portal. Auf einem neben dem Eingang liegenden

Felsen steht: „‚Die Stimme des Blutes deines Bruders

schreit zu mir von der Erde' / 9. November 1938 /

Judenpogrom in dieser Stadt / Erinnern der Schrecken /

die Schuld nicht vergessen“. Der Hochmeisterplatz

besteht in seiner großen Mitte aus einer Bodenwellenwiese.

Männer um die fünfunddreißig feiern eine Art

Kindergeburtstag und veranstalten Wettbewerbe:

Huckepacketragen zum Beispiel, wobei zwei Männer jeweils

ein Paar bilden, die sich abwechselnd im Wettrennen

mit einem anderen Paar über die Buckel der Wiese schleppen

müssen. Am Rand auf den Bänken sitzen zufällige Zuschauer.

Ältere Damen führen ihr „Compagnion Piece“ aus, und

zwei polnische Gerüstbauer setzen sich auf eine Bank und

machen mit hochprozentiger Nahrung Feierabend.

Die aufgelassene Kirche „St. Albertus Magnus * 01.04.1962

† 26.11.2023“, ein schönes Betonbauwerk, aber es wird

nicht mehr gebraucht, die Christen sterben hier aus.

Die Blätter der Platanen auf dem Ku'damm haben einen Stich

ins Ockerfarbene. „My Wellness. My own Spa“ lockt die

Individualisten; daneben hat das uralte „Reformhaus Höfeler“

geöffnet. Die Hektorstraße geht gediegen weiter - allein die Bäume

rauschen. In der Joachim-Friedrich-Straße 31 stößt du auf

einen Laden mit ukrainischer Petrykiwka-Malerei und allgemein

mit ukrainischen Geschenken: „Laskavo Prosymo“ steht an

der Eingangstür - „Herzlich Willkommen“. Neben der

Grundschule-Halsensee liegt die Schuhmacherei Meiners. In den

sich daneben öffnenden Höfen haben Tanzschulen ihren Sitz.

Gegenüber befindet sich „Mario's Cumulus“-Restaurant und Bar,

benannt nach dem Inhaber Mario Hähne; es hat geschlossen.

Der Eingangswindfang ist, wie du siehst, übersät mit Blumen und

Kerzen und dem Photo eines Mannes in den Bergen - mutmaßlich

zeigt es den anscheinend zu Tode gekommenen und

nun im himmlischen Frieden hoch über jeder Cumuluswolke

ruhenden Mario. Die geschlossene Timbookto-Buchhandlung

kündigt eine Lesung mit einem gewissen Johannes Ehrmann an,

der die Gründung der USA als deutsche Familiengeschichte

neu erzählt. Hier, in Ku'damm-Nähe, haben zumindest heute

überraschend viele Läden, Restaurants und Cafes

geschlossen, obwohl du das gerade hier anders

erwartet hättest. So betrittst du das verwunschenste

und verwinkeltste Reich von Kleingärten, das dir je

unter die Sohlen gekommen ist. Es befindet sich nördlich

des Ku'damms in einem von Gleisen eingedreieckten

und von durchfahrenden Zügen getakteten und beschallten

eingezäunten Areal. Zwischen den Tälern der Bahndämme

führen schmale, dunkle Fußgängertunnels. Von einem erhöhten,

aufgelassenen Gleisdamm wandert der Blick Richtung Funkturm,

Messe und dem Funkhaus des Senders Rundfunk

Berlin-Brandenburg. Gräser haben hier die Gleise fast ganz

zugewachsen. Die heute, an diesem rauhen, windigen,

kühlen Tag, unbesuchten, wie verlassen erscheinenden Gärten

sind freilich wohlgepflegt. Die Astern stehen stramm und blühen

in belebend invasiven violetten und pinken Tönen.

Dem Bienenstand nahekommend, begegnen dir dem Wetter

trotzend ein paar Bienen, und du bist für ihr Erscheinen

dankbar. Beim dich kaum einladenden, dürftigen Kinderspielplatz

haben Gärtner ein „Spritzenschild“ angebracht: „Liebe Gäste!

Hier spielen Kinder. Nehmt eure Spritzen wieder mit.

Wir sind tolerant. Nehmt auf uns Rücksicht“. Aber wer

einen Schuß gesetzt hat, ist womöglich nicht mehr Herr

des Verfahrens, nicht mehr in der Lage, an die Kinder

zu denken und sein Besteck wie ein rastender

Wandersmann nach der Jause säuberlich einzupacken?

Auf einem nahen, breiten Gleisstrang, an dem ein schmaler

Weg vor einem Maschendrahtzaun entlangführt, brettert

ein ICE vorbei, während ein anderer auf den Gleisen steht und

wartet, den ersten offenbar passieren lassend. Wilder, feuerrot

flammender Wein wächst neben den Gleisen und klettert

sogar über dieselben hinüber. Eine Gleiskurve zeigt

tausend brennende Weinblätter im Winde flackern.

Du bist erleichtert, als du beim Aldi-Supermarkt

wieder den Weg aus dem Gartenreich hinaus findest.

Dir ist, als wärst du dem Totenreich gerade noch

entkommen. Weiter wanderst du Richtung Ku'damm,

kommst in der Katharinenstraße an der Embassy of

the Republic of Mauritius vorbei, und eine Gedenktafel

an einem Flachdachautohaus erinnert an Else Lasker-Schüler

und Herwarth Walden, die hier in einem im Bombenkrieg

zerstörten Haus gewohnt haben. Firma Dinnebier verkauft

jetzt hier gebrauchte Jaguar und Land-Rover. Vor einem

Bürohaus am Ku'damm, unmittelbar neben dem Agathe-Lasch-Platz,

steht eine Gruppe sturzbetrunkener Polen, Männer wie Frauen,

die ausführlich ein Thema angestrengt diskutieren.

Der Agathe-Lasch-Platz ist verwahrlost, er erinnert an

die jüdische Germanistin und erste Germanistik-Professorin,

Agathe Lasch. Sie wurde 1942 deportiert und bei Riga ermordet,

wie ein Schild mitteilt. Daneben erinnert eine Denkstele

an den hier einst geplanten „Generalplan Ost“, der

Ansiedlung Deutscher im östlichen Europa bei gleichzeitiger

Vertreibung und Ermordung der ansässigen Bevölkerung.

Vorm Rewe begegnen sich zufällig zwei alte, einander

bekannte Frauen, die eine, die zwei Schoßhündchen mit sich

führt, möchte sich der anderen nähern, dem ernsten,

mitfühlenden Blick nach zu schließen, wohl um zu

kondolieren, doch diese wehrt ab: „Ich bin erkältet!“,

läßt sich aber doch von ihrem Gegenüber an den Fingerkuppen

mitleidig krallen, worauf sie in schluchzende Tränen ausbricht.

Du denkst, ihr Mann sei verschieden, doch hörst du sie

unter erstickter Stimme sagen:

„Ich werde nie wieder so ein Hündchen haben!“

Du erblickst gegenüber das „Haus der 100 Biere“ und

gehst dort für eine Stärkung hin. Du probierst das Bamberger

Schleckerla Rauchbier, das dir jedoch gewöhnungsbedürftig

in der Nase liegt. Der Rewe hat von Montag bis Freitag

von sechs Uhr in der Früh bis Mitternacht und samstags

von sechs Uhr bis eine halbe Stunde vor Mitternacht

geöffnet - das erscheint dir großzügig und kommt schon

fast an u.s.-amerikanische Rund-um-die-Uhr-Öffnungszeiten

heran, freilich wäre dir nicht danach, nachts um zwei

im Supermarkt einzukaufen, wenn du auch das schon einmal

gemacht hast, um ein Gefühl für die Folgen eines marktwirtschaftlich

bis zum äußersten getriebenen Systems zu bekommen.

Das Gebäude, in dem der „Generalplan Ost“ formuliert worden

ist, existiert nicht mehr, statt dessen steht da ein freilich auch schon

in die Jahre gekommener Neubau. Die Dämmerung fällt. Starker

Regen prasselt hernieder. Du gehst und gehst hinüber, und auf Höhe

des Rewe-Eingangs, an der Bushaltestelle, siehst du die in den Gehsteig

eingelassene Gedenktafel für Rudi Dutschke, auf den genau hier

geschossen wurde. Der Omnibus rauscht heran und nimmt dich mit,

damit du dem Regen vom trockenen Hochgeschoß aus zusehen

kannst, wie er über die Scheiben fegt und tanzt.

7.10.2023


HANSAVIERTEL

Sprühregen fällt jetzt am Nachmittag.

Der Platz am U-Bahnhof, quadratisch, wie ein Kloster-Kreuzgang,

hat auf drei Seiten ein Arkadendach.

Auf der vierten, östlichen, grüßt die kahle Außenwand

des Rewe-Supermarktes - auf die hat jemand

einen arabischen Schriftzug gesprayt.

Aus dem Grips-Theater strömen Schüler.

Am Bäckerei-Café Schäfer's gibt die Verkäuferin dir

einen Espresso aus einer Kaffeetasse - sie habe gerade

keine andere mehr, sagt sie, obschon außer dir

nur zwei Gestalten, seit Jahren Stammgäste,

täglich hier klebend, scheint dir, anwesend sind.

Du setzt dich raus unters Laubendach.

Zum Supermarkt streben etliche, aus dem U-Bahn-Ausgang

sprudelnde Leute. Eine Döner-Bude geradeaus. Ein Restaurant

mit zum Teil unleserlichem Namen und dem Zusatz „by the meat“

halbrechts. Ein Mann mit orangefarbenem Bergsteigerrucksack

erreicht eine orangefarbene Mülltonne. Auf dieser steht in weißen,

serifenlosen Buchstaben der punktlose Satz: „Du bist voll in Ordnung“.

Der Mann linst umsonst hinein. Im blauweißen U-Bahn-Schild

neben dem U-Bahn-Eingang spiegelt sich ein vorbeirauschender ICE.

Eine Frau im Rollstuhl fährt vom Wocheneinkauf

nachhause, um den Hals die Schlaufe der

auf ihrem Schoß liegenden Einkaufstasche. Zwischen der

und ihrem Leib klemmt noch eine Packung Toilettenpapier.

Ein Radler stellt sein Rad unmittelbar vor deiner Nase ab und

betritt die Bäckerei. Ein junges Paar mit Kinderwagen

geht quer über den Platz, der Vater redet, aber du

kannst nicht sagen, ob er über Ohrstöpsel telephoniert oder

mit seiner teilnahmslos neben ihm schiebenden Frau

sich unterhält. Väter schieben Buggys.

Jugendliche mit eingewanderten Vorfahren tragen schräg

über den Oberkörper gespannte Täschchen, Nachkommen der

Herrentasche, die früher ein bestimmter Typus Mann oder Herr

mit einer Schlaufe am Handgelenk zu tragen beliebte.

Kurt Weill wohnte hier kurzzeitig als neunzehnjähriger,

steht auf einer Gedenktafel. Ist dieser Hinweis auf des

Jugendlichen Wohnort sinnvoll? Über dem südwestlichen

Dach ragt das Kreuz der katholischen St. Ansgar-Kirche empor.

Die „Trainingsanzüge“ der Jugendlichen sind deren Mode-Uniform.

Auf die Frage, was als „cool“, als „in“ Geltung entwickelt, weißt du

keine Antwort. Der Ton der türenschließenden U-Bahn dringt

vom Schacht bis zu dir herauf. Eine Kundin streift wild entschlossen

dutzendmal ihre Schuhe am Eingang zur Bäckerei ab.

Ein Mann hält mitten auf dem Platz sein Telephon hoch,

den Lautsprecher auf laut gestellt, und es quillt ein schrilles

Türkisch einer Türkin hervor, mutmaßlich seiner Frau.

Auf dem Dach des Theaters befindet sich ein Blitzableiter.

Ein Schild weist den Weg zur Stadtbücherei.

Der Regen hat aufgehört, und vor der Döner-Bude sitzen

drei dem Lachen zugeneigte Deutsche jenseits ihres

besten Alters - zwei Männer und eine Frau,

und auf letzterer Schoß sitzt noch ein Mops.

Ein Paar um die fünfundfünfzig blickt von außen

in die Bäckerei, geht dann aber brotlos weiter.

Ein kleiner Junge im Trainingsanzug und mit schwerer

Sportumhängetasche kommt aus der U-Bahn auf dem Weg

zum Training; er bemerkt nicht, daß ihm zwei Stutzen

aus der Tasche fallen. Er sieht seinen Bus heranfahren und

eilt zur Haltestelle, die Stutzen bleiben zurück.

Die Verkäuferin kommt tief hustend heraus,

sich an einen der Tische setzend, und zündet sich eine

Zigarette an. Der Rauch, den sie aushaucht, sendet dir

einen Gruß. Eine gepflegte Frau um die siebzig kommt

auf den Platz und wirft vergebliche Blicke in die Mülltonnen.

Die Verkäuferin telephoniert jetzt mit lautgestelltem Lautsprecher.

Eine in orangefarbene Uniform gekleidete Müllfrau der Berliner

Straßenreinigung kommt und leert die Mülleimer. Die im Hintergrund

vorbeifahrenden, inmitten der Kurve plötzlich quietschenden S-Bahnen.

Erst jetzt bemerkst du den tristen Blumenkübel auf dem Hof.

Eine Krähe erscheint und tänzelt schwanzwedelnd quer über den

ganzen Platz. Statt „HANSAPLATZ“ steht am U-Bahn-Eingang

nur „ ANSA LATZ“. Ein Jugendlicher fährt im elektrischen Rollstuhl

hin und her. Der Hof hat zur Gully-Mitte hin ein Gefälle. Die Türkin,

die vorhin so schrill aus dem Telephon geplärrt hat, kommt nun mit ihrem

Mann ganz friedlich. Die beiden setzen sich schweigend neben dich.

Jeder überquert den Platz in der Diagonale, außen an den

Seiten entlang herumzugehen, scheint wohl sinnlos.

Außen an den Seiten entlang gingest du nur, wenn es wirklich

ein Kreuzgang wär. An den Fahrradanschließstangen sind

Fahrräder angeschlossen. Die Verkäuferin putzt mit einem

dir in den Augen beißenden Sprühputzmittel die Tische.

Ein frischverliebtes Pärchen geht auf den U-Bahneingang zu,

wo es abrupt stehenbleibt und sich küssend voneinander

verabschiedet, auf Mund, Stirn und Hand. Die Trennung

kurz und schmerzlos süß. Ein Obdachloser mit Bierpulle

in der Hand kommt, um die Mülleimer zu prüfen. Eine Frau

mit Zweisitzerbuggy schiebt ihre Buben Richtung Supermarkt.

Ein Hund flitzt Richtung U-Bahneingang, bleibt dann aber stutzend

stehen, er merkt, seine Familie fehlt; diese, Mutter und zwei Kinder,

geht grad zum Bäcker, und so flitzt er dorthin.

Vor dem Eingang muß er aber stehenbleiben, was er auch brav tut,

die Seinen freilich keinen Augenblick aus den Augen lassend.

Eine Frau mit Rollator geht vorüber. Ein Mann mit

Aldi-Tragetasche geht am Fahrradständer entlang,

kehrt plötzlich um und bückt sich - er hat eine Münze entdeckt.

Insgesamt sind nur wenige alte Menschen auf der Gasse.

Ein Mann in Wanderstiefeln humpelt an zwei Krückstöcken.

Tauben pfeilen im Sturzlandeanflug Richtung Döner-Bude.

Frauen mit Einkaufswägelchen ziehen zum Rewe - was

am Freitag erledigt sein kann, soll nicht am Samstag erfolgen.

Eine junge, schick gekleidete Frau mit sandfarbenen Seidenhosen

geht ins Grips-Theater. Ein Mann mit Kapuzenpulli, Vollbart und

Kippe schlürft am Platzrand zwei Dosen Bier und wirft

die geleerten Dosen in den geleerten Mülleimer -

jetzt müßte der Obdachlose noch mal kommen.

Ein Zwerg geht vorbei, eine Hand in der Tasche. Bei Pingolino-Eis

treffen sich Schüler. Du gehst hinüber zur Kirche, auf deren Vorplatz

ein kleiner Ökomarkt stattfindet. Von der Altonaerstraße grüßt die nahe

Siegessäule, im Hintergrund schaut der Potsdamer Platz heraus.

Auf dem Markt ist einiges los. In der Mitte fünf Tische, Mütter mit ihren

Kindern, ein Weinausschank vom Weingut Schäfer Heinrich

in Heilbronn. Der Verkäufer von „Bodenschätze“ trägt nach alter

Ökomanier eine Latzhose. Fleischstand, Käsestand,

Crepes-Stand (von den Kindern belagert), Salat- und Gemüsestand,

Kaffeestand, Wurststand, Oliven- und Frischkäsestand, Kräuter- und

Olivenölstand, Fischstand, Eierstand, Blumenstand, Maultaschenstand,

Brotstand. Kurz schaust du in den Vorraum des hellen Kirchleins

(die inneren Glastüren sind abgeschlossen), die Gemeinde St. Elisabeth

feiert hier ihre Gottesdienste. Du gehst weiter über den Markt,

ein gewisser Michael Mödig bietet portugiesisches Gebäck feil.

Drei weitere Vespertische laden die Marktgänger ein,

sich niederzulassen. Ein Mischmaschstand bietet Lebensmittel,

Haushaltswaren und Kosmetik feil. Ein Pizzastand lockt mit

seinem weltumspannenden Ofenduft. Du läßt den Markt hinter dir

und überquerst die Klopstockstraße Richtung Stadtbücherei,

diesem gläsernen, filigranen Juwel. Der Innenhof voller

überschäumender Blumen. Weiter zur in Sichtnähe aufragenden

evangelischen Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Kirche am Saum des Tiergartens,

vor deren kahler Wand ein einzelner Obdachloser halb nackt

im Schlafsack schläft wie tot. Von links kommen drei junge Männer,

einer von ihnen, mit freiem Oberkörper, stöhnt wie unter fürchterlichen

Schmerzen, seine Beine im Gehen angewinkelt. Nebenan die

ummauerten Einfamilien-Bungalows. Auf einem Abfallkorb

steht: „Spritzenentsorgung im öffentlichen Raum“.

In dem halbgläsernen Berlin-Bungalow der Internationalen

Bauaustellung Interbau 1957 residiert heute ein

amerikanischer Frikadellenladen. In dem weitläufigen

Kneipenrestaurant namens „Tiergartenquelle“ in den S-Bahn-

Bögen in der Bachstraße schenken sie „seit 1999“

eigenes Bier aus - Lemke heißt es. Die japanischen

Touristengruppen wirken, als hätte sie ein böser Reiseführer

hierhergeschafft, die engen, wenig einladenden Toiletten

von anno dazumal sind sicherlich nicht nach

japanischem Stil und Geschmack. In Siegmunds Hof

wimmelt es von verwohnten Studentenwohnheimen

der nahen Technischen Universität. Die Sonne kommt heraus,

viertel sieben. Das todschicke Wohnhochhaus „Oasis“

an der Hansabrücke direkt an der Spree. Eine Uferstatue

zeigt einen Akkordeonspieler. Ein Algerier auf einer Uferbank

nahebei zieht an einem Joint. Eine Wand der Hansa-Grundschule

hat adenauergrüne Außenkacheln. Die Lessingbrücke

zeigt auf seitlich angebrachten Bronzereliefs Szenen aus

Lessings bürgerlichen Trauerspielen und Dramen -

Miss Sara Sampson, Emilia Galotti, Nathan der Weise,

Minna von Barnhelm - liest die heute noch wer oder

handelt es sich hier um ein bürgerliches Trauerspiel in

einem weiteren Sinn? Das Ausflugsboot

Alexander von Humboldt fährt unter der Brücke durch,

die Gäste sitzen alle in der Kabine - es ist heute

am letzten Sommertag etwas frisch, anders als in den

vergangenen, ungewöhnlich sommerlichen Wochen.

Vor der Akademie der Künste im Hanseatenweg sitzen

Iraner und rauchen. Morgen wird hier

ein Theaterstück in der Inszenierung von

Narges Hashempour gegeben, das laut Programmzettel

Anregungen aus Marion Braschs in der DDR spielendem

Roman „Ab jetzt ist Ruhe“ aufgreift und das Streben

einer jungen Frau nach persönlicher Freiheit in einem

totalitären System dramatisieren möchte. Ob es gelingt?

Oder handelt es sich hier um ein totalitäres Trauerspiel?

Die politische Welt scheint solche Trauerspiele derzeit

zur Genüge auch ohne Bretter zu keinem Frommen

aufzuführen. Um 19.01 Uhr siehst du vom Bahnsteig

im Bahnhof Bellevue aus den Sonnenuntergangshimmel:

lila, blaue, orangefarbene und gelbe Wolkenstreifen streifen

deinen Blick, durchstreifen dich und ziehen dich zu sich.

22.9.2023


WESTEND

Am Fürstenbrunner Weg dösen die Kleinbetriebe am

Sonntag morgen, Unfallgutachten, Burger, Shisha-Bars,

Grieneisens Haus der Begegnung, Sarg-Discount Berolina Bestattungen,

der Weg vom Tod ins Grab ist günstig. An den DRK-Kliniken

vorbei, betrittst du den Luisenkirchhof III, ein stiller Raum nach den

lärmenden Straßen, ein Friedhof im Windschatten. Teile

einer zersägten uralten Eiche liegen auf der Wiese, als sollten sie

noch beerdigt werden. An einer Aussichtsplattform liest du die Inschrift:

„Der letzte ..., der überwunden wird, ist der Tod.“

Darunter hat jemand mit blauer Farbe geschrieben: „Nie wieder Krieg.“

Hinter der Plattform öffnet sich ein islamisches Gräberfeld, ein Mann

von rund fünfzig Jahren trägt zwei gefüllte Gieskannen

mutmaßlich zum Grab der Eltern. Die Gräber nach Mekka ausgerichtet.

Die Kindergräber haben bunte Windräder, die Fröhlichkeit der Kinder

im Zusammenspiel mit dem Wind: im quietschend wirbelnden Rad

lebt sie auf, meinst du. Du kommst an ein Ehrenmal und liest:

„Gedenkt der Opfer des osmanischen Genozids 1912 - 1922“.

Auch Friedhöfe haben ihre Hinterhöfe, die Bauhöfe, wo Erde,

Laub, Baumstämme, Grabplatten gelagert werden.

Stauden noch und noch, Lilien - eine florale Üppigkeit, als du

den Hang hinuntergehst. An einem Urnenfeld steht ein Steinkreuz

mit einem Zitat von Goethe: „Es nimmt der Augenblick was Jahre

geben.“ Es ist der Augenblick des Todes wohl, der Moment, der Leben

von Totsein trennt. Ein Ehrengrab vom Land Berlin, schon auf der

Gemarkung des sich anschließenden Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-

Friedhofs: John H.D. Rabe, Dora C. Rabe. Eine steinalte,

gebeugte Dame mit Rollator läßt sich von der Taxifahrerin

zu einem Grab begleiten. Am Eingang steht das Taxi,

auf dessen Kotflügel Reklame für eine stadtbekannte

„Wellnessoase“ gemacht wird, was hier freilich Puff meint.

Was wohl die alte Dame denkt, wenn sie so reklamierend

durch die Stadt kutschiert wird?

Bei Blumen Dunata spricht die schöne Gärtnerin mit einer

Blumenkäuferin. Der Gärtnerhof Charlottenburg am Fürstenbrunner Weg;

Nummer 74 - 80 die Kolonie Tiefer Grund I, über die

die Hochspannungsleitung führt. Ein Güterzug rumpelt.

Die Rohrdammbrücke führt über die Spree. Mitten auf der Brücke

endet Westend, und Siemensstadt beginnt. Die Spree-Erlen

rauschen wie in einem Traum, unwirklich wirklich. Spree, hier

will man dir lieben, so natürlich grün ziehst du deines Weges.

Am Ufer blühen Seerosen. In der Ferne glänzt der Fernsehturm mit

seiner Kugel. Du kommst durch die Kolonie Tiefer Grund II, die Polizei

fährt mit einem VW-Bus Streife. Die Grundstücke laufen bis

ans Ufer der Spree. Plötzlich prescht neben dir ein ICE vorbei,

stadteinwärts. An der Gaststätte „Vogt's Tunnel-Eck“ trinkst

du einen Sprudel. Eine Katze miaut. Ein Spreezubächlein, eingefaßt,

murmelt idyllisch. In kurzer Zeit rasen drei ICEs hinter der Gaststätte

vorüber. Über den verschlungenen Uferweg an der Spree gelangst

du versehentlich in den Schloßpark Charlottenburg, und du fängst

erneut am Spandauer Damm mit deiner Westend-Runde an.

Jetzt erst fällt dir die Pagode auf, die derjenigen vom S-Bahnhof

Mexiko-Platz ähnelt. Die hier ist ein aufgelassenes „Herren PP“.

Du verirrst dich auf das Gelände des DRK-Klinikums, das weitläufig

glänzt und auf dem Skulpturen wie gefroren stehen.

Weiter gehts hinauf den Spandauer Damm, vorbei an Myriaden

von Kleingärten, die alle hinab den Hang Richtung Spree hängen.

Auf Schildern verteidigen sie ihre Existenz. Jetzt bist du oben

auf dem hohen Plateau des Teltow. An der Bushaltestelle

Meiningenallee hat eine Amsel ihre letzte Ruhe gefunden.

Du wanderst in den Ruhwaldpark, der prächtig und

Fragen aufwerfend leer ist. Ein Alter sitzt auf einer Bank,

den Rollator neben sich. Eine Alte geht. Eine dreiköpfige Familie

spielt auf dem Spielplatz, dir erscheint sie einsam.

Von der Spree kommt ein einzelner Mann den

Schlangenweg herauf, mit hängender Zunge, 12% Steigung.

Dein Blick wandert über Spandau hinweg ins Havelland. Die alte

Villa, einst eines reichen Industriellen privates Domizil,

ist heute eine Kindertagesstätte. Über die Bolivarallee,

die voller Platanen steht, gelangst du zum Steubenplatz

in Neu-Westend. Die Reichsstraße kommt vom

Theodor-Heuss-Platz her. Maniküren, Pediküren, Schönheitssalons,

Juweliere und Bestattungshäuser, so weit das Auge reicht.

Du betrittst das Wiener Cafehaus und trinkst eine große Flasche

Vösslauer Wassers, nimmst einen flüssigen Teil Österreichs

in dich auf. Die Portion Bandnudeln mit Pfifferlingen ist allerdings

unbezwingbar groß, für gut und gerne zwei Leute; oder verlangt

des gemeinen Westenders Bauch nach solchen Mengen? Das Cafe

wird üblicherweise von den betagteren Bürgern des Westends besucht,

heute aber sitzen einige tätowierte Fans der Dröhnrock-Kapelle

„Rammstein“ bei Kaffee und Kuchen, aber bitte mit Sahne, hier,

um sich für das abendliche Konzert im nahen Olympiastadion

zu stärken. Auf einem Fan-Unterhemd steht auf der Vorderseite

„Manche führen“ und auf der Rückseite: „Manche folgen“; und später

siehst du, daß viele der Anhänger das gleiche Unterhemd tragen.

Ob die wohl selber führen oder selber folgen? „Führer, befiehl,

wir folgen“, soll da womöglich, bewußt ironisch, oder doch vielleicht

unbewußt ernst, mit anklingen? Führen und folgen, an sich zwei dich

ansprechende Zeitworte. Dein Leben sollst du ernsthaft führen,

wie du auch dich selber von Herzen ernst nimmst.

Und wenn du dich ernst nimmst, dann folgst du auch

den von dir als vernünftig erkannten Gesetzen.

Dein Müssen ist dein Wollen. Das Logo der Kapelle,

auf jedem Unterhemd zu sehen, erinnert dich an das

Hakenkreuz. Auch die feuerspeienden Elemente

ihrer Bühnenshow erinnern, jenseits ihres kindischen Wesens,

das ihnen in deinen Augen innewohnt, an eine faschistoide

Ästhetik, und der mögliche Rückverweis auf das fatale

Düsenjet-Unglück bei der Air Show in Ramstein 1988,

mit Toten und Verletzten, ist ungut. Neben dich setzt sich

eine fünfundvierzigjährige „Rammstein“-Konzertgängerin

und verdrückt, dich anlächelnd, ihre Sahnetorte.

Es ist ihr erstes „Rammstein“-Konzert, sie scheint selig.

Über die Olympische Straße gehst du hinab und hinauf zum

Stadion. Die Fans sind erstaunlich ruhig, fast traurig, im Schatten

der Saumbäume liegend, anders als die grölenden Fußballfangruppen,

die hier ansonsten Richtung Ostkurve ziehen. Eine jugendliche

flachsblonde Frau sitzt im Rollstuhl. Es weht Wind, es ist warm,

am Himmel ein Feld von vanilleeisgelben Cumuluswolken.

An Pollern haben Flaschensammler große Tragetaschen

von Rewe, Kaufland und Edeka mit der Schlaufe befestigt

mit offenem Maul für die herantreibenden Pfandflaschen.

Du schwimmst eine Runde im olympischen Schwimmbecken,

dessen Tribünen derzeit von einem Renovierungsgerüst

eingehaust sind. Vom Olympiastadion her weht der Sprechgesang

des Kapellenführers bei der Tonprobe mit noch nicht voll

aufgedrehten Boxen. Ein jugendlicher Kerl schlunzt vor dir ins Wasser

und verwandelt es in eine Brühe, du ziehst es vor, das Becken

zu verlassen; doch schlunzt schon der nächste vor dir auf den Boden

und macht Boxbewegungen dazu. Die für die Sicherheit

abgestellten Männer und auch die Bademeister scheinen es nicht

zu sehen, obschon nahebei. Hier wirst du deines Lebens nicht froh.

Schade um das schöne 50-m-Becken. Draußen auf dem

Olympischen Platz hat der Einlaß begonnen. Eine Familie mit ihren

sechs- und achtjährigen Kindern wandert hinein. Das Alter der Fans

liegt in der Regel bei dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig Jahren. Die

meisten tragen irgendwelche „Rammstein“-Unterhemden, und du

rechnest hoch, wie viel man mit solchen Nebenprodukten doch

verdienen kann. Neben paar ausländischen Vokalen aus

Skandinavien und Frankreich hörst du allein deutsche Töne.

Das Volk hier und das im Schwimmstadion scheinen

nichts miteinander gemein zu haben. Schließlich hörst du

auch österreichische und sogar hebräische Töne.

Großeltern kommen mit ihren Enkeln.

Ein Paar erscheint mit seinen Baby-Zwillingen - und dir ist, als täte sich

hier der Schlund der Hölle auf. Du ziehst weiter durch das

Sportforum-Gelände mit seinen leeren Sportanlagen,

die in ihrem jetzt wie großzügigen Nichts auf dich einen

dich befreienden Eindruck machen.

Vorbei am Waldstadion und am Glockenturm. Unten in der

Glockenturmstraße xy siehst du zwei alte Menschen auf dem Boden

einer Einfahrt liegen, zwei, drei andere Menschen sind bei ihnen

und helfen ihnen. Du trittst dazu, die Frau schreit wie am Spieß,

während der Mann im eigenen Blut liegt.

Man bittet dich, den Rettungswagen zu rufen, und noch ehe du

am Telefon deinen Namen sagen kannst, fragt die Gegenseite:

„Wo ist die Unfallstelle?“ und belehrt dich: Er stelle die Fragen,

du sollest nur antworten. Weil die offenbar demente Frau panisch

besorgt um ihren sie umsorgenden Mann ist, streichelst

du sie und beruhigst sie und sagst, es sei nichts passiert und alles

werde wieder gut. Offenbar ist der Mann gestolpert und hat die an

seinem Arm geführte Frau mit sich heruntergerissen, während er mit

seinem Kopf auf die Bordsteinkante zusteuerte. Die Haut der Frau

ist glasig, sie wird über neunzig sein. Es dauert, bis der Krankenwagen

kommt, zwanzig Minuten, schließlich biegt er unten

aus der Heerstraße mit eingeschaltetem Blaulicht ein,

hält dort aber an und fragt Passanten nach dem Weg,

während du mit den Armen Halbkreise wischst und

ihm winkst, er müsse noch ein paar hundert Meter fahren.

In deinem Rücken stauen sich die Autos, bis schließlich

der Wagen in die Einfahrt rollt. Die beiden Sanitäter

steigen aus, und aus irgendeinem Grund beginnen die

Sanitäterin und die Ersthelfer miteinander ukrainisch zu sprechen.

Woher wußten sie, daß die Sanitäterin Ukrainerin ist?

Eine alte Nachbarin kommt von der Havel hoch und erzählt

in fröhlichem Hochallgäuerisch - so erschien es dir -,

daß sie die beiden schon seit Jahrzehnten aus dem Segelclub

kenne und daß die Frau ohne ihren Mann völlig „aufgschmissa wärr“.

Weil der Mann bei dem Sturz auch seine künstliche Hüftpfanne

womöglich beschädigt hat, muß er zur Überprüfung in die Klinik,

und du sagst der alten Frau, daß sie jetzt mit ihrem Mann

einen kleinen Ausflug in die Klinik machen dürfe und daß sie

heute abend bestimmt gemeinsam wieder zuhause sein werden,

du hoffst das jedenfalls, und ziehst weiter deines Weges, ziehst

hinab zur Havel und grüßt sie in ihrem hier verschlungenen Bett

mit ihren Seitenarmen und Seitenbuchten, grüßt den Stößchensee,

und kehrst um zurück hinauf auf das Plateau des Teltow.

Der seeglänzende Waldfriedhof Heerstraße idyllisch, etliche

Ehrengräber hier, du grüßt Großcurth, grüßt Loriot, angeblich

liegt hier auch Ringelnatz, aber du fürchtest, nicht mehr rechtzeitig

hinauszugelangen, und ziehst lieber weiter, gehst in die

Westend-Klause, Ringelnatz' Stammbierkneipe, und die ist dir

doch lieber als das Grab. Plötzlich, Schlag 20 Uhr, umgreift dich

ein markerschütterndes Dröhnen, hörst du einen Mordsknall,

daß du fürchtest, die Welt gehe unter. Aber die anderen Gäste

haben die Ruhe weg und reden fröhlich weiter. Beginnt jetzt

etwa das Konzert? Das willst du näher wissen und gehst

wieder die Olympische Straße hinunter zum Olympischen Platz.

Tatsächlich, es ist das Konzert. Offenbar gehört die an Haut

und Haaren spürbare Ton-Gewalt zum Geheimnis solcher

Live-Konzerte. Während die Berliner Straßenreinigung

Tausende von Plastikbechern zu großen Schneehaufen

zusammenkehrt, haben außerhalb des Stadions

kartenlose Konzertgänger Picknickdecken ausgebreitet

und lauschen und singen mit. Die Sonne geht langsam unter,

vom monotonen Dröhnen des Mannes an der Rampe

untermalt. Der Blick reicht bis zur Bühne, an der Feuersäulen

aufschießen. Schäfchenwolken ziehen rosa gen Westen,

während du nach Osten dem Ende des Tages entgegen ziehst.

16.7.2023


WEDDING

Nachmittags kommst du auf dem Urnenfriedhof Seestraße

ans Mahnmal für die Opfer des Aufstands vom 17. Juni 1953

in der DDR. Du stehst an den Gräbern von elf in Berlin

getöteten Demonstranten. Kränze der Staatsspitze

wie auch einzelner Fraktionen wurden abgelegt.

Die Bundestagsfraktion der Partei „Die Linke“ hat keinen

Kranz ablegen lassen. Die Staats- und Stadtoberen

waren gerade noch anwesend. Jetzt bauen die Veranstaltungstechniker

schon wieder alles ab. Nahebei befindet sich das Denkmal

zu Ehren der Opfer des Faschismus in aller Welt -

„des Faschismus in aller Welt“: eine dir zumindest

erklärungsbedürftig anmutende Formulierung;

daneben liegt benutztes Spritzbesteck

für eine harte Droge im Gras. Kaninchen wuseln.

Ein orangefarbenes Wolkengebirge taucht am

östlichen Horizont der Oudenarder Straße

neben den ehemaligen Osram-Höfen auf,

als hätten die ausgemusterten Glühbirnen dort ihren

Himmel gefunden. Die Sonne kommt hervor, und

das Pflaster dampft nach dem Regen.

Es ist halb fünf. Ein im Landeanflug gen Schönefeld

befindlicher Flieger dröhnt über dir nach Osten.

„Zweitregen“ fällt, wenn ein Windstoß den in den

Bäumen noch haftenden ersten Tropfenstoß löst und

dich damit beehrt. „Gartenarbeitsschule Wedding“.

Louise-Schroeder-Platz, Weite und Himmel, ein Paar,

wie es im Wedding mit seinen breiten Avenuen oft

zu sehen ist. An den Kopfseiten der Wohnhäuser der Seestraße

stehen riesige Zitate aus den Dramen Schillers

sowie seine ebenso große Unterschrift.

Lieber Herr Medicus Schiller, im Wedding kann man

Sie an den Wänden lesen und dabei gesunden.

Hauswände als Reclam-Bändchen. Der Bootsverleih

am Plötzensee hat ein Holzstegcafe, das

von jüngeren Paaren, Männern vor allem,

gut besucht ist. Ein Schwan startet vom Ufer los

Richtung Seemitte. Musik dröhnt vom Strandbad herüber.

Eine Stieleiche läßt sich nördlich des Sees bewundern.

Die große Wiese ist verdorrt. Stadion Rehberge.

Auf den Tennisplätzen des Berliner Tennisclubs Rot-Gold

wird gespielt, und die Tennisbälle klacken.

Das Freiluftkino Rehberge erinnert mit seinem

gelb gestrichenen Eingangsgebäude

an ein österreichisch-ungarisches Domizil

der seligen oder auch nicht seligen kakanischen Époque.

Gaststätte Schatulle, in dessen Schanigarten

eingefallene Menschen stumm vor ihren

wohl schon schalen Trinkgläsern schlafen.

Im Sperlingsee quaken fordernd Frösche.

Der benachbarte Möwensee hingegen ist still und

sein Spiegel ist so glatt wie nur ein Spiegel glatt sein kann.

Das Schild „Nachtigalplatz“ ist durchgestrichen,

jetzt heißt er Manga-Bell-Platz. Die Statue of limitations,

eine scheinbar aus dem Boden wachsende Skulptur,

ein aus Bronze geformter Fahnenmast mit Trauerbeflaggung,

deren untere Hälfte im Berliner Humboldt-Forum

im Treppenhaus seinen Anfang nimmt, um hier,

im sogenannten Afrikanischen Viertel, zu enden,

errichtet im Jahr 2022 von Kang Sunkoo.

Das Restaurant Zagreb am Rande erinnert an die spinnwebenalte

Bundesrepublik, die hier noch im Rauchwind hustet.

Ein geparktes Auto kommt dem Nummernschild nach

aus Schwäbisch Gmünd, wo Peter Ustinov mit Weihwasser

übergossen wurde, wie auch du, ohne vorher gefragt zu werden,

was freilich nicht ging, da ihr beide Säuglinge ward,

freilich nicht zur gleichen Zeit. Die rauchenden Rehberge

mit ihren immerfort singenden Vögeln muten dir tropisch an.

Die Rehbergewegbrücke, dich elegant überquerend,

ehe du die Bronzeskulptur zweier nackter Ringer

vor der großen abfallenden Wiese bewunderst.

Das verfallene Parkcafe hat derzeit zu.

Den Carl-Leid-Weg, benannt nach Carl Leid, während dessen

Amtsführung der Park von 1921 bis 1933 angelegt wurde,

tanzt du müde bis an sein Ende am Rathenau-Brunnen,

Emil steht links und Walther rechts, doch es fließt kein Wasser.

Das Rodelbahngras ist vergilbt. Du gehst weiter. Im nahen

Goethepark wurde das Goethe-Denkmal beschmiert:

Der gesprayte Text auf dem Stein lautet, sofern entzifferbar:

„Fuck H[?] Cis-Men“. Auch wurde Goethes Gesicht

mit weißer Farbe getüncht. Doch Goethe erwidert:

„Mir ist nicht bange, daß Deutschland nicht eins werde,

vor allem aber sei es eins in Liebe untereinander.“

Seine schwungvolle, in den Stein gemeißelte Unterschrift

darunter folgt mit den beiden abgekürzten Vornamen:

JWvGoethe. Er blickt aus dem Stein heraus wie aus

einem Fenster, und das ist nicht unkomisch.

Der Park ist sich selbst überlassen, verfällt vor sich hin.

Im oberen, zugewucherten Teil liegt ein junger Mann

friedlich-weggetreten auf einer zerbröckelnden Mauer,

die schon halb zugewachsen ist. Es ist, als

sollte er selber auch zuwachsen, einem männlichen

Dornröschen gleich. Auf den Grasmatten des

Rodelhängchens blitzt der Sand. Eine einsame

Schöne liegt neben ihrem lindengrünen Rad in der Wiese,

sich sonnend, und ihre Augen blitzen auf,

als sie dich kommen sieht. „Junger Mann, welcher Weg

führt dich zu mir? Willst du dich hier setzen

zum Plaisir? Erfahren den Beleg,

daß du lebst und webst? Im Park von Goethe

erklinge dir die Zauberflöte. Komm her mein Schatz

und finde deinen dir bestimmten Platz.“

17.6.2023


CHARLOTTENBURG

Dieses Mal mußt du nicht klettern

am Eingang zum Schloßpark,

das Tor an der Spreebrücke steht weit offen.

Wann war nur dein letzter Besuch?

„Vor Corona!“, diese Pandemiefurie,

sie hat Jahre verschlungen und das,

was vorher war, in fast graue

Vorzeit entrückt. Es war Winter damals,

eisige Nacht, Schnee glitzerte,

Astrid Defauw und du, ihr klettert an

der Spreebrücke über das

verschlossene Tor in den Park.

Unmittelbar das Aufatmen, als ihr drin seid,

die Freude, auf den verschneiten Wegen

alleine gemeinsam bis ins Nirgendwo zu gehen.

Als ihr ans Ufer des zugefrorenen Sees kommt,

geht ihr auf ihm weiter. Und als wäre es

das naheliegende, beginnt ihr zu tanzen,

bringt das Eis zum Singen.

Nachtmusik, dämonisch,

mit zum Zerreißen gespannten,

aus der Unterwelt kommenden Tönen.

Jetzt ist es ein brillanter Junivormittag,

der Park im guten Sinn pflanzlich barock

überladen, zugewachsen, verschlungen,

die blühenden Holunder verwellen ihre süßlichen,

aufreizenden Noten, die Brombeeren blühen,

auf der Liegewiese baden die Nixen,

in endlosem Tanz der Moleküle,

dünnhäutig der Sonne ergeben,

dem sie streichelnden Wind zugetan.

Hoch im Himmel tanzen Cirren federleicht.

Auf den enggewordenen Wegen, mit ihren

hohen hereinhängenden, hereinwehenden

Gräsern und den beladenen Zweigen,

verlierst du dich, ehe du dich versiehst.

Doch auf dem am Saum des Parks verlaufenden

Weg, auf den du stößt, drehen

keuchende, schwitzende Läufer ihre

sonntägliche sportliche Runde, ohne je sich zu verlaufen.

Lieber kehrst du zurück ins Innere des Parks,

und da kommst du, am Ende eines dunklen Tannengangs,

zum Mausoleum, und du gehst geradewegs

hinein und bist erstaunt, es sei dies nicht nur

ein museales Gebäude, sondern es hätten hier

wirklich einstige bekrönte Herrscher ihre letzte Ruhe

gefunden. Die unvermutete Nähe zu Gebeinen

einstiger lebender Menschen rührt dich durchaus.

Aber daß du hier dem einstigen ersten deutschen Kaiser

so nahe bist, läßt dich merkwürdig kalt.

Sollte dein Gefühl repräsentativ sein, hieße das wohl,

es sei die Verbindung des Volkes zu seinen einstigen

herrschenden Häusern gekappt, ohne Bedauern,

wenn sie denn je bestanden hat. Ein Diederich Heßling,

Hauptfigur in Heinrich Manns Roman „Der Untertan“,

ist in der Form heute nicht mehr denkbar oder zumindest

nicht im Hinblick auf jenes einst regierende Haus.

Du stehst lange ungläubig an Christian Daniel Rauchs

Skulptur der jung verstorbenen Königin Luise,

die „ruhend“ tot daliegt und frühlingsgleich weibliche

Sinnlichkeit ausstrahlt, elegant geschmeidig.

Ihren wie hingegossenen Überwurf und die sich darunter

abzeichnenden figuralen Formen, mit den scheinbar

durch den weißen Stoff hindurchschimmernden

Brüsten, hat Rauch in dezent filigraner Anmut

aus dem Marmor gehoben. Du verläßt den kalten Raum

und gehst weiter, dich in der Hitze aufzuwärmen.

Auf einem eingezäunten Stück Wiese haben sich

Schafe unter fünf Schatten spendenden Bäumen

versammelt. Ein Schäfer erklärt einer Gruppe junger

Familien, wie seine Hunde Judy und Jenny die Herde

zusammenhalten können, ehe sie auf die Weide gehen,

und Judy bekommt die Aufgabe, die Schafe alle

heranzutreiben. Sie flitzt durchs hohe Gras und umkreist

und umgrenzt die Tiere, die alle eiligst zum Schäfer

preschen und sich dort um ihn und seine menschliche Herde

versammeln. Wenn im Christentum die Rede geht,

der Pastor, der Hirte, kümmere sich um das Seelenheil

der ihm anvertrauten Gläubigen, seiner „Schäfchen“,

mag hier, auf der Weide, die Frage naheliegen,

ob er auch Schäferhunde hatte oder gerne hätte?

Suchten nicht die Inquisitoren, gleich Schäferhunden,

jene scheinbar herätisch sich von der Herde

absondernden Schafe wieder auf den richtigen

Weg zu zwingen? Und gibt es nicht auch in einem säkularen

Staat bellende Hunde und sonstige Schnüffelnasen,

die sich um jene kümmern, die scheinbar die Grundordnung

der gesellschaftlichen Herde zu verlassen drohen?

Der Schäfer und seine Assistentin verteilen an die Kinder

Knäckebrot, das sie an die Schafe verfüttern dürfen.

Haben sie keines mehr, sollen sie die Hände

in die Luft strecken, damit die Schafe sehen, hier sei

nichts mehr zu holen. Gleichwohl bedrängen

einzelne Schafe auch die knäckebrotlosen Kinder,

und ein Mädchen schreit wie am Spieß aus Furcht

vor einem es bedrängenden Schaf, „Mama!“,

und es versucht, sich zwischen den Beinen der Angerufenen

zu vergraben, und diese errettet es durch Hochheben

und sucht, es zu beruhigen. Lämmer erkennen angeblich

ihre Mütter durch die Stimme und durch den Geruch.

Das ewige Mähen. Daher kommt, wird dir bewußt, offenbar

der Ausdruck für das Rasenmähen. Wenn der Mensch

den Rasen mäht, setzt er den maschinellen Ersatz für

das Schaf ein. Mährobotor sind Robotorschafe.

Schere man das Fell des Muttertiers,

fehle ihm der Geruch, und das Lamm brauche

ein, zwei Stunden, bis es die Mutter wiedererschnuppere.

Die Kinder dürfen ein paar Muttertieren

das Fell vorsichtig abkämmen und die so gewonnene

Wolle mit nach Hause nehmen.

Auf dem Weißen Berg sonnt sich ein Mann nackt

und liest ein Buch. Von der gewölbten Brücke

nahe dem Belvedere ist der Blick zum Schloß

heiter. Am Westufer des Sees blühen rosa

und weiße Seerosen. Wilder Weizen wächst am Ufer,

im Winde wehend. Blaue Libellen fliegen.

Butterblumen blühen. Cumuluswolken bilden sich.

Touristen gehen in Zeitlupe in der Hitze.

Eine junge Frau im weißen Kleid, mit langen, offenen,

roten Haaren, läßt sich am Fließufer photographieren

und hat die Hoffnung im Blick. Gleichzeitig findet,

auf der südlichen Seite des Schlosses,

auf der auf das Schloß zulaufenden Schloßstraße,

ein Kunsthandwerkmarkt statt, dessen gepflegte

Verkäuferinnen jenseits der Fünfzig in der mittlerweile

brennenden Hitze zerknittert die Contenance zu wahren

suchen, indessen der Gehweg von Linden klebrig ist.

Es ist, als sollte alles zum Stillstand kommen, und du kehrst

lieber zurück in den Schloßpark und legst dich nahe

dem Ufer des Sees ins Gras und träumst von einem Tanz

über das Eis und von einem Singen,

das aus den schattierenden Weiden tönt.

11.6.2023


FRANZÖSISCH BUCHHOLZ

Warten auf Erleuchtung in Französisch Buchholz,

denkst du, als dir in Französisch Buchholz

nichts dich bewegendes in den Sinn kommen will.

Es ist, als hätte dieses alte, in deinen Augen versunkene Dorf,

mit seinem Anger, seiner Hängebuche, der Hugenottenplastik,

der stolzen Kirche, dem gelben Kossätenhof und mit der

Restauration Zum Eisernen Gustav und deren Gastgarten,

in dem eine Kutsche steht, Gegenstand von Spinnennetzen,

dich ruhiggestellt. Das ist dir schon auf dem Friedhof

so gegangen, wo du dem Geheimnis der Hugenotten

wenigstens auf den Grabsteinen auf die Schliche

kommen wolltest. Kaum betratest du den Knochenacker,

war dir friedlich zumute. In Französisch Buchholz atmet

eine Gelassenheit, die sich auf dich überträgt.

Warum überhaupt den Friedhof verlassen?

Leere Wiesenstücke zwischen den Gräbern,

violett blühende Rhododendrenbüsche,

fünf oder sechs, weit voneinander verteilte Angehörige,

die nach außen schweigend als Gärtner der Erinnerung,

des Andenkens an ihre Lieben, dir erscheinen,

vertiefen nur die dich beruhigende Stimmung.

Die Vögel tirilieren entspannt, kein aufgekratztes Zwitschern.

Auf den Wegen bilden Ameisen kleine Sandhäufchen, in deren

Öffnungen sie verschwinden und aus denen sie hervorkommen,

geschäftig wie sechsbeinige Charlie Chaplins.

Auch der Name von Erdmute Grün, vor hundert Jahren geboren,

vor vierzehn verstorben, mutet dir entspannt, fast fröhlich an.

Von den Windmühlen ist nur mehr die Mühlenstraße

übrig, während dienstags von 16 bis 17 Uhr

im Evangelischen Gemeindehaus die „Kirchenmäuse“

umhertollen, von zwei bis sechs Jahren, ohne je arm zu werden.

Von einem Schild herunter spricht eine höchste Stimme

die Autofahrer der Hauptstraße an: „Ich halte dich. -Gott“.

Ein großer Findling im Anger liegt da wie der versteinerte

Zeuge einer Zeit, in der das Suchen noch nicht erfunden war.

Ein paar stattliche Gebäude in der Hauptstraße künden

von einem Alter des Prosperierens, „erbaut 1867“, „erbaut 1876“.

Schadow hatte 1790 bis 1802 hier Wohnhaus und Besitzungen.

Im aufgelassenen Hof von Nummer 41 wachsen im hohen Gras

des Vorgartens blaßgelbe und lila Orchideen und rote Rosen.

Opel Kramm verkauft nicht nur Opel, sondern auch Cadillacs und

Dodge-Ram-Riesen mit offener Ladefläche, auf der man

zwei, drei „Trabis“, die sozialistischen Kraftwagen-Trabanten,

spielend abstellen könnte. An der Kirche und am Gasthaus

haben sie in den Fünfzigern Aspekte des Films

„Der eiserne Gustav“ mit Heinz Rühmann in Szene gesetzt.

Der Gustav war der Kutscher, der aus Protest

gegen das Aufkommen von motorisierten Droschken

von Wannsee nach Paris fuhr, selber aber

nie in Französisch Buchholz war.

Gustav Theodor Andreas Hartmann, wie der gute Mann hieß,

geboren am 4. Juni 1859 in Magdeburg, gelangte vom 2. April

bis 4. Juni 1928 mit seiner Kutsche, gezogen vom Wallach

„Grasmus“, an sein freilich vergebliches Ziel und wurde so,

als Protestant, zu einer europäischen Berühmtheit.

Im Garten ist es noch still, eine Festtafel wird

abgeräumt, ansonsten kehren zwei Großeltern mit ihrer

Enkelin von Rügen zurück und klagen, wie viel losgewesen

sei, im Gegensatz zu hier, Französisch Buchholz; ein Pärchen,

Mann und Frau, beide tätowiert, sitzt still am Rande. Nachher stehen

die beiden auf und entpuppen sich als Mitarbeiter des Hauses.

Zwei betagte Elektroradlerinnen setzen sich mitsamt Helmen

in die pralle Sonne und knöpfen sich mit kräftigen Schlücken

große Radler vor. Und dann ist da noch einer, an der Wand

des Hauses, auch in der prallen Sonne, schwarze Hose,

schwarzes Unterhemd, ein blaues Jäckchen, die halblangen,

grauen Haare zurückgekämmt, auf dem Gesicht eine Sonnenbrille,

dem Typ nach ein Walter Sittler, groß und schlank, sitzt lächelnd da,

auf dem Tisch ein Bier im Steingutkrug. Dich wundert,

daß er nicht platzt in dieser ihn ungehindert anknallenden Sonne,

aber erfreust dich an seiner weltgewandten, eleganten

Dämonie, die er ausstrahlt, und als du wieder von den Notizen

aufblickst, ist er vom Erdboden verschluckt,

von den Luft-Photonen aufgelöst und verstrahlt.

Gegenüber dem großen, weitläufigen Platz,

der freilich kein Platz ist, aber auf dich wie ein solcher

wirkt und über den sogar die Hauptstraße mit ihrem

hier allerdings dich aufmunternden Verkehr verläuft,

wartet das Ki-Dojo auf Unterricht in asiatischen Künsten.

Indes ist die Kirchturmuhr stehengeblieben; was sie anzeigt,

ist die Ewigkeit, die kein Laufen kennt. Alle zehn Minuten

biegt die Tram Nummer 50 über den Platz

Richtung Virchow-Klinikum im Westen einerseits

und Richtung Guyotstraße andererseits.

Es ist heiß, die Linden vor der Kirche

rauschen. Ameisen flitzen die Stützbalken

der Gastgarten-Pergola hinauf und hinunter,

und dir ist schleierhaft, was diese Tiere wissen,

warum sie wie mit letzter, doch unversieglicher

Kraft die Balken hinauf- und hinuntereilen,

mit dem inneren Kompaß, der ihnen den Sinn verrät.

An einen Vierertisch setzen sich vier Buchholzer,

zwei Männer, zwei Frauen, rauchen,

und die Damen sind vorzeitig gealtert.

Ein Zimmermann parkiert seinen schicken

Mercedes-Sportwagen vor dem Garten und

umarmt beim Hereinkommen den langjährigen Ober.

Wartend auf Erleuchtung, beleuchtet die mittlerweile

tief gesunkene Sonne dich so sehr, daß du dich aufmachst,

ihren Fängen zu entgehen. Neben dem Haus Nummer 19

flirrt eine verwaiste, prächtige Eiche, die auch schon jene

Genossen der DDR-, der Nazi-, der Weimarer republikanischen

und der monarchischen Preußen-Zeit hier gesehen haben müssen,

in unterschiedlichen Größen, und auf der Fensterbank innen

sitzen zwei Perserkatzen, die hinauswollen und sehnsüchtig

die Bewegungen auf der Straße beobachten. Sie sind

gefangen, man läßt sie nicht aus der Herrschaft des Muschi-Regimes

entkommen. Schöneres Leben verspricht der Seniorenpark Bismarck

gegenüber, über dessen menschenleeren Rasen allein

ein Mähroboter seine Runden zieht. Ein steinummauertes Bassin

wirft Rätsel auf, es ist kein Aquarium, kein Pool, es ist

lediglich ein Wasserbecken, das durch Schönheit

glänzt und in ihr seinen Himmel findet.

26.5.2023


HEINERSDORF

Im Paradies, der Vorhalle vom „Kaufland“

in der Romain-Rolland-Straße,

schweben die Kunden vom unterirdischen

Parkdeck herauf, die Einkaufswagen vor sich.

Beim Bäcker sitzen Philemon und Baucis

am Cafetisch, geschafft nach dem langen Gang

durch die Windungen der Warenwelt,

den vollgepackten Wagen neben sich,

und laben sich am trockenen Stück

Zwetschgenkuchen und schlürfen

eine Tasse versahnten Filterkaffees.

Es scheint, als könnte dieser Moment der Höhepunkt

ihres Tages sein: gemeinsam bei Kaffee und Kuchen

beisammen sitzen und froh sein,

einander noch zu haben,

die Lebensmittel neben sich.

Im verglasten Reisebüro nebenan sitzt ein

weiteres Pärchen und bucht vielleicht den Pauschalurlaub

auf die paradiesische Insel, denn ob es nach dem Tod

noch ins Paradies kommt, glaubt es unter Umständen nicht,

dann lieber zu Lebzeiten das Paradies auf Erden.

Du verläßt das „Kaufland“, des Volkes wahrer Himmel,

und gehst entlang der Romain-Rolland-Straße

in Richtung der früheren Mitte, als Krug und Kirche

noch nicht vom Verkehr überrollt wurden.

In der Alten Feuerwache, im Haus Ingrid, residiert die Tagespflege.

Gegenüber steht ein verlassenes, verfallendes Haus.

Zwanzig Meter weiter kommt noch ein solches,

gleichfalls ansprechendes Juwel,

dieses aber ist eingerüstet und wird restauriert.

Ein drittes auf der rechten Seite, Haus Nr. 52, verfällt gleichfalls,

auf seiner Treppe wächst ein im Wind raschelndes Birkchen,

und die blaue Farbe des Türblatts blättert ab. Überm Eingang

ist ein großes M angebracht. Am Haus daneben ist ein altes Schild

befestigt, auf dem „Kirchenkasse“ steht. Du gehst in den verlassenen

Hof und bewunderst eine uralte Linde. Alles scheint verlassen, verfallen.

Doch das Ensemble Nr. 53 ist eingerüstet. Im Hof von Nr. 54

siehst du überm Eingang des Portals einen die Flügel

ausbreitenden Engel und den Ruf „Hosianna“.

Neben der Kirche der „Wiesenfriedhof“, alles ist zugewachsen,

ungepflegt, ein Eisenkreuz ist abgebrochen, es steht nur noch die

untere Hälfte, du liest die Worte „Ruhe sanft.“.

Der Friedhof auf der anderen Kirchenseite ist jedoch gepflegt,

eine Tafel-Ausstellung informiert über die Geschichte

des Dorfs, und eine Holzbank lädt zum Ausruhen ein,

wenn du auch hier schon des Verkehrs wegen

kaum deine Ruhe weghaben könntest.

Am Cafe „Friedrich & Fritz“ räumt die Betreiberin

gerade Stühle und Tische zusammen und hält

mit den Nachbarn, einer jungen Familie, feierabendlichen

Schnack. „Ciao, Franzi, dir noch 'n schönen Abend!“ -

„Danke, euch auch!“ Die Mitglieder des Motorradclubs

„Born to be wild“ haben offenbar den zivilisierenden

Erziehungsprozeß boykottiert und bleiben lieber Rasende

auf zweirädrigen Geschossen.

Weiße Pfeile an den Hauswänden weisen den Weg

zum nächsten Bunker, so am Haus Nr. 96,

die sind ein Überbleibsel vom Zweiten Weltkrieg,

aber womöglich bald wieder zu gebrauchen,

jedenfalls sieht man diese Pfeile jetzt nicht mehr

als historisches Überbleibsel an, sondern als möglicherweise

bald wieder aktuelle Notwendigkeit. Die Einschußlöcher der Rotarmisten

aus den letzten Kriegstagen sind sichtbar geflickt.

Der Briefkasten wird täglich um 16 Uhr geleert.

Die Freiwillige Feuerwache nimmt Kinder und Jugendliche auf.

Im Nachbarschaftshaus „Alte Apotheke“ schwingen

ältere Damen den Aquarellierpinsel und schweigen.

Die Tram M2 hat da ihre Endhaltestelle, und die Wendeschleife

umrundet eine Wiese, auf der sich das Volk,

das bürgerliche wie das christliche, versammelt,

so auch an Christi Himmelfahrt übermorgen.

Die Bäckerei „Brotschmiede“ hat noch geöffnet und wartet

auf Kunden. Auf dem Friedhof lächelt zwischen den Bäumen

die Kapelle. An der Anlage mit Gräbern für Kriegsopfer

liest du, wie viele Heinersdorfer in den letzten Kriegstagen,

jung und mitten im Leben stehend, kurz vor der Kapitulation

noch Opfer der „Kampfhandlungen“ wurden,

während in der Stadtmitte in seinem Bunker der „Führer“

seine letzten, finsteren Tage verbrachte,

ehe er sich der Verantwortung entzog.

Du gehst durch stille Seitenstraßen, in denen der Flieder blüht.

An einem Laternenpfahl hängt noch ein nach der letzten Wahl

vergessenes Plakat der Partei „die Basis“

mit der in den luftleeren Raum gestellten These:

„Auf den Zusammenhalt kommt es an“.

Es kann freilich falschen oder fatalen Zusammenhalt geben,

schon deswegen ist die Aussage sinnlos. Es kommt immer auf die Art

des Zusammenhalts an. Wenn in den letzten Tagen

des Zweiten Weltkrieges irgendwelche „fanatischen“ Werwölfchen

noch „zusammenhielten“, so war dies lediglich Zeugnis

des Nichtwahrhabenwollens dessen, was die Stunde geschlagen hat.

Zurück in der Blankenburger Straße erweckt eine Mischung aus

kleinen Wohnhäusern, Läden und Werkstätten die Anmutung

von Gerümpel. Am Asia-Imbiß hängt ein Pappkarton,

auf dem jemand mit Hand in Schönschrift die Autofahrer darauf hinweist:

„Achtung! / keine Durchfahrt / Per sonnen verkehr“.

Und du findest, daß jetzt in der abendlich warmen Sonne

bei dem weiten Himmel mit Haufenwolken und einzelnen Schichtwolken

und dem warmen Wind es hier wahrlich einen Sonnenverkehr gebe,

und es sei selbstverständlich, dieser solle nicht gestört werden.

Aus dem Heinersdorfer Krug ist mittlerweile die Trattoria Toscana

geworden, ohne daß sich landschaftlich hier etwas getan hätte.

Das historische „Spritzenhaus“ neben der Kirche. Auch die Kirche

ist ein Spritzenhaus, in ihm löscht Gott die Flammen des Zweifels,

des endlichen Lebens, allein mit dem guten Wort aus dem Mund

des Priesters. Um 18 Uhr läuten die Kirchenglocken.

Gegenüber, an der Ecke zur Tino-Schwierzina-Straße,

hat ein Wohnungsentrümpler sein zentrales Geschäft.

Vom Aida-Park aus betrachtest du den quadratischen, 46 Meter hohen,

nie benutzten, zerschossenen Wasserturm,

ein Denkmal und Mahnmal, er beherbergte am Ende des Krieges

noch eine Flakstellung, an den Wänden sieht man etliche

sowjetische Einschußlöcher und größere Wunden.

Ganz oben, unterhalb des Geländers, an der schmalen Brüstung,

wächst eine Birke. Ein Mädchen spielt alleine auf dem Gehsteig

und malt etwas, Kinder sind die van Goghs der Gehsteige.

An der Trambahnhalte Am Steinberg steht der Circus Kunterbunt,

und in Circussen finden die lustig geschminkten

van Goghs ihr trauriges Auskommen.

Was wäre ein van Gogh anderes

als ein Mensch, der in einem Meer

von Farben baden geht und, für

eine Weile wenigstens, gesundet?

16.5.2023


WEISSENSEE

Die Kastanienallee wölbt sich überweltlich

im gedämpften Sonnenschein des späten Mittags.

Du wanderst über den Campo Santo der Hebräer,

ein Ur-Laubwald, und nicht nur stehn betagte Bäume

links und rechts des Wegs; es schießen gleichfalls

neue, junge Bäumchen mitten auf den Gräbern hoch.

Rehe fänden Äsung hier. Gepflegt wird nichts.

Die Steine fallen dem Vergessen stumm anheim,

verfallen auch, zerbröckeln. Die umgestürzte Eiche

liegt quer auf einem Dutzend Gräbern. Und weiter gehst du,

tiefer hinein, und kommst sodann, unvermutet,

zu Feldern mit neu geschliffnen, glatten, schmucken Gräbern.

Die Schrift auf den Steinen ist oft kyrillisch,

die Verstorbenen wanderten, vermutest du,

nach Verfall des Sowjet-Paradieses in den Westen aus;

da erscheint hinter einem Grab ein Fuchs,

der erschrickt, und im Davonstürmen stürzt er fast in das

frisch ausgehobne Grab. Um siebzehn Uhr wird

die Totenstadt im Wald verschlossen, und du bist weit

gegangen, beeilst dich nun, den Weg hinaus zu finden:

Du willst nicht eingeschlossen sein, hast kein Begehr,

über Zehntausenden Skeletten zu verweilen.

Aber die Orientierung hast du verloren.

Anders als Hänsel, hast du den Weg nicht

mit Bröckchen Brot gezeichnet. Kein Schild weist dich

zum Ausgang. Als du, nach langem Hin und Her, den Eingang,

mit den blühenden japanischen Kirschen, doch erreichst,

findest du die Tür bereits verschlossen.

Du betätigst wiederholt die Klinke, vergebens,

die Tür bleibt im Schloß. Da hörst du den eilend

kieselnden Schritt: noch jemand. Eine Gretel taucht auf.

Zugleich erscheint am Pförtnerhäuschen

der Pförtner selbst und fragt: „Wer rüttelt an meiner Tür?“,

zumindest scheints dir so, er richtete und dichtete diese Worte

rhetorisch an dich. Sei dem, wie dem wolle, er ist noch da.

Ein Glück! Behend und betend scheints schließt ers Gittertörchen

auf und läßt die erleichtert frohen Wiedergänger von

Hänsel und Gretel in die Freiheit ziehen,

in die Stadt der Lebenden. Strebte der Mensch

im Mittelalter abends von der Arbeit auf dem Felde

vor der Stadt noch vor dem Schließen des Tores

zurück in die Stadt, so möchtest du jetzt vor dem Schließen

des Tors der Totenstadt hinaus treten in die Stadt der Lebenden.

Friedhöfe lagen doch nicht selten vor der Stadt;

die Städte der Lebenden und die der Toten

waren getrennt. Beide umgab eine Mauer.

Beide hatten wenigstens ein Tor.

Und doch waren sie zweierlei.

In der Stadt der Lebenden führen die Menschen

mit jeder neuen Generation von der Jugend bis ins Alter

ihr Leben und erhalten es eben am Leben.

Die der Toten hingegen läßt die in ihr aufgenommnen Bürger

für immer bleiben. Als Lebender hast du aber

in der Totenstadt nichts zu suchen;

in ihr hast du bestenfalls etwas zu finden. Aber was?

Ein Grab? Eine Erkenntnis? Ja, auch eine solche;

zum Beispiel die: Wo du dich aufhältst, mußt du den Weg kennen,

den Ausweg. Lebkuchenhäuschen Milchhäuschen.

Da landest du. In ihm, dem Milchhäuschen am Ufer des

Weißen Sees, möchtest du dich laben nach der Rückkehr

aus jener Welt. Doch hat es heute geschlossen.

Schade, doch über solche unscheinbaren Widerfahrnisse

fährst du gleichgültig hinweg. Ein Zettel am Eingang sagt,

die Pächter suchten nach Personal. Es ist dies noch eine Folge

der Instrumente zur Eindämmung der Pandemie.

An den uferweglichen Laternenpfosten informieren

Plakate die Passanten über eine scheinbare

Selbstverständlichkeit: „Natürlich braucht die Natur Regeln“.

Gemäß Kant ist das Genie jenes Talent,

„welches der Kunst die Regeln gibt“, beziehungsweise

jene Gemütsanlage, „durch welche die Natur der Kunst

die Regel gibt“ (Kritik der reinen Urteilskraft, Paragraph 46),

hier aber geht es nicht um Kunst, sondern um Natur.

Die Natur ist nur natürlich oder kann sich nur entfalten,

wenn der Mensch sich an die Regeln hält, welche

die Grünanlagenpfleger-Genies als die angemessenen erachten.

Indes hat die Blindenwohnstätte Weißensee Wohnungen,

die den Blick zum Weißen See eröffnen. Im Garten hat der Weg

ein ununterbrochenes Geländer, mit dessen Hilfe die Blinden

spazieren gehen können. Ein Haus, in dem 1949 Brecht und

Weigel wohnten, sieht aus, als verfiele es, doch ist es bewohnt,

wer weiß von wem. Gegenüber die Dorfkirche mit der alten

Eiche und der alten Kastanie. Neben ihr steht das Mausoleum

von Pistorius, aber nicht dem deutschen, quicklebendigen

Verteidigungsminister, sondern dem durch Branntweinproduktion

reich gewordenen einstigen Brennapparat-Erfinder

und Käufer des Weißenseeschen Gutes.

Am Rathaus Weißensee verläßt du die Berliner Allee

und gehst lieber die Liebermannstraße und dann die Parkstraße

hinunter, ehe du in der Pistoriusstraße zum Primo-Levi-Gymnasium

kommst. An dessen Front haben Schüler zwei Tücher gehängt,

mit der Parole: STOP WAR. Vor dem „Frei-Zeit-Haus“ am Kreuzpfuhl

erinnert ein Stein an den „Antifaschisten“ Erich Boltze,

der im „KZ“ Sachsenhausen umgekommen ist. Sein Wohnhaus

befindet sich nahebei Richtung Mirbachplatz. An diesem lockt

die Eisdiele „Eisspatz“ die Kinder an, und die Schwäbische

Bäckerei nebenan bietet ihre mutmaßlich schwäbischen

Backwaren feil. Daneben befindet sich Nadja Cocozzas

Bestattungshaus „Engel“. Du aber machst kehrt und gehst

die Max-Steinke-Straße Richtung Antonplatz hinauf und kommst

an dem verträumten Häuschen vorbei, in dem die Geigerin

Frau Glocke unterm Dach einst wohnte und wo in der Küche

das Weinlaub zum Fenster herein schaute, während sie dir

den Espresso kochte. Sie wollte mit dir im Kino am Antonplatz

noch mal den Film „Gundermann“ anschauen,

aber ihr habt es dann verpaßt, wie man im Leben immer

vieles verpaßt. Im Kino läuft gerade kein dich ansprechender Film,

und so gehst du durch die lange, dich französisch anmutende

Langhansstraße, nur um dann an der kurzen Scharnweberstraße

zu verwurzeln, denn die läßt dich so den Blick aufschlagen,

daß du erst nicht weitergehen kannst. Es handelt sich bei ihr

um eine Allee aus japanischen Kirschen, blühend und

die Blüten bereits in den Wind werfend, deren Zweige oben

fast zusammenwachsen und so ein Blütengewölbe bilden,

unter dem zu wandeln einem Hochzeitspaar gut anstünde.

Doch die Braut, mit der du jetzt hier schreiten könntest,

glänzt noch in Abwesenheit. Du gibst das Wurzeldasein auf

und gehst weiter, über die Gustav-Adolf-Straße zur „Brotfabrik“,

diesem holzhellen Gasthaus mit den leinwandgroßen Fenstern,

durch die jetzt die Abendsonne fällt. Ihr Licht füllt den Raum

und läßt ihn geradezu schweben. Mit dem schwebenden Raum

schwebst auch du, Raum und du, ihr Zwei, seid schwebend eins,

Du-Raum und Raum-Du, ineinander verschwebend jetzt,

für den ewigen Augen-Blick.

2.5.2023


BLANKENFELDE

Es ist, als wollten die Feldsteine

dir wohl in ihrer geschichteten Wärme,

übereinander, nebeneinander,

den Kirchenbau bildend,

hier, auf dem blanken Felde

des hohen Barnim.

Feldstein-Gewand, Feldstein-Zelt,

Feldstein-Schiff für die Gemeinde,

in seiner Hut, seinem Sie-Behüten, im Innern,

wie unter Deck, sich zu versammeln für die Fahrt

durch die Zeit in die Ewigkeit.

Ringsum der Totenacker, der Friedhof,

auf dem die vom Schiff bereits gefallenen

in der Ewigkeit ruhen.

Zum Beispiel trittst du ans Grab

der Gertrud Kleingeist, eine heute

vor 114 Jahren geborene

geborene Neuendorf.

„Der Herr hats gegeben

der Herr hats genommen

der Name des Herrn sei gelobt“,

aber wie lautet sein zu lobender

Name? Ewigkeit?

Alles, was aus der Ewigkeit

in die Zeit kommt,

hat seine Zeit,

die vorübergeht,

die gezählt ist.

Nach dem Countdown

kehrt es zurück in die Ewigkeit.

Daneben, an der Mauer, befindet sich

ein Urnengemeinschaftsgrab,

mit der Überschrift „Gemeinsam statt einsam“.

Ist das nicht schon kindisch, unfreiwillig komisch,

wird es zudem grotesk, da in ihm bislang

nur ein Mensch begraben ruht, Ruth Mahlke.

Im wärmsten, belebendsten Südwind schwankt eine

grapefruitorangenfarbene Plastikgießkanne

am Gieskannenständer und boxt

immer wieder an die Stange.

Du könntest ewig hier auf der Mauer sitzen

und dich diesem unübertrefflich glanzvollen

Frühlingstag aussetzen. Aber obwohl du die Ruhe

weghast, treibt dich eine dir unerreichbare

innere Unruhe irgendwann doch weiter.

Der Gemeine Löwenzahn und die Purpurrote

Taubnessel blühen in Hülle und Fülle.

Familie Warmbier schläft in ihrem Grubenfaß.

Die Eheleute Sommerfeld ruhen unweit

der Familie Weixelbaum. Ein gepflegtes Grab,

mit Kreuz aus Holz, erinnert an einen

Unbekannten Soldaten. Plötzlich, wie aus dem Nichts,

trittst du an dein eigenes Grab.

Zeitgleich erschrickst du und empfindest doch

ein dich erhebendes, beruhigendes Gefühl.

Es stimmt dich geradezu froh, ein so schönes Grab

zu haben und zu sehen, alles sei in Ordnung.

Nach dem Moment der Verwechslung

begreifst du, es sei nicht dein Grab,

wenngleich du deinen Namen liest und

der Verstorbene das Geburtsjahr

mit dir gemeinsam hat. Aber nur dieses.

Der scheinbare Doppelgänger ist 1993 in die Grube

gefahren, im Wonnemonat Mai, 22 Jahre jung.

Du verläßt nun den Friedhof und gehst

die Hauptstraße, westwärts, weiter,

vorbei an Platanengrundschule, Schwalbennest

und einem DDR-schlammgrauen Feuerwehrhaus.

Etliche, aus Ziegelsteinen erbaute, einst landwirtschaftliche

Höfe öffnen sich, heute schweigen da Autos,

wartend auf Reparatur, oder wiehern Pferde

in ihren Boxen. Auf dem Kopfsteinpflaster der Straße

trommeln die von Lübars her hier durchs Dorf

fahrenden Pkws. Der Friseursalon Sabine Stein

wirkt auf dich wie die Versteinerung einer längst

abgeschnittenen Epoche. Die Magnolienblüten

blättern ab, und die Tulpen blühen auf. Am Dorfrand

ein Pferdehof mit einem Dutzend frei umherspazierender

Pferde, die Wind und Sonne mutmaßlich genießen.

Auch Pferde werden den Frühlingswind schätzen,

schätzt du. Außerhalb des Dorfs führt ein abzweigender

Weg nach Süden an blühenden Kirschen entlang, und

der Blick wandert bis zur Kirche von Rosenthal.

Weiter entfernt und weiter östlich taucht im blauen Dunst

der Fernsehturm auf, der aus der Ferne auf dich

stets ein Gefühl des Vertrauten erweckt, des fast Heimat

Stiftenden. Du gehst nach Westen weiter und überquerst

die Gleise der Heidekrautbahn. Da steht das

stattliche Bahnhofsgebäude, heute privat vermietet

zum Wohnen. Die Bahn fährt hier nur mehr an Museumstagen.

Entlang gehst du an einem Acker, ein Traktorist sät und eggt,

und im Mittelgrund fliegt ein roter Pfeildrachen

hoch in den Lüften. Du gehst an einer Reihe von

freilich schon Blätter tragenden blühenden

Weißdornen entlang und liest das Schild,

das an das ehemalige, hier befindliche

„Krankensammellager“ für „Ostarbeiter“

während der Zeit der Nazi-Herrschaft erinnert.

Eine junge, anmutige Radlerin fährt heran,

tritt in die Bremsen und fragt, ob sie dir helfen könne,

und du wunderst dich über ihren Eindruck,

dir sei noch zu helfen. Auf dem ehemaligen Grenzstreifen

ist mittlerweile ein Wald gewachsen und erinnert gewollt oder

ungewollt an dessen einstigen Verlauf.

Wo früher die unpassierbare Grenze war und wo

heute die Bahnhofstraße in die Blankenfelder Chaussee

übergeht, erinnert, oder würdigt, jetzt

halb versteckt im Gebüsch ein Stein an den hier erfolgten

„mutigen Grenzdurchbruch am 8. Juni 1990 - ausgeführt

von Helmut Qualitz und der Freiwilligen Feuerwehr“.

Ein Durchbruch, der einem Pyrrhussieg gleichkommen sollte,

denn die Lübarser und die Blankenfelder sind nun

den Peitschenschlägen des Durchgangsverkehrs ausgesetzt.

An der Kreuzung der Bahnhofstraße mit dem ehemaligen

Patrouillenweg der Grenzsoldaten hat sich heute ein Treffplatz

für Boliden- und Motorfans etabliert. Zwei beleibte

vierzigjährige Männer mit Heavy-Metal-T-Shirts

haben es sich auf Campingstühlen bequem gemacht

und reparieren ihre Motorroller.

An einem überdachten Rastplatz gegenüber hat sich

ein junges, arabisches Pärchen niedergelassen,

das bodenlange Gewand der Frau ist purpurrot,

und sie küßt ihren Jeans tragenden Burschen wie wild,

sie feiern heute das Zuckerfest, und sie

mag dem ihren als das wahre Zuckerstück

erscheinen. Neben dem Rastplatz liegt Unrat, der

die beiden aber, in ihrer Zuckerwelt verfangen,

nicht zu stören scheint. Nordwärts gehts weiter

den steilen Berg hinab ins Tal des Tegeler Fließes.

Unter dem Warnschild „Gehwegschäden“ liest du, zum

ersten Mal, das Schild „Radwegschäden“.

Am Köppchensee, dem ehemaligen Torfstich,

krötet eine Erdkröte vor sich hin. Eine Reiherente

schwimmt gelassen über den windgeriffelten See.

Das Röhricht raschelt. Eine Brücke führt dich über

das Tegeler Fließ, und am Wegrand halten drei Frauen

einen Schnack, während sie an Seilen ihre nebenher

grasenden Pferde halten. Ein Mädchen reitet

auf dem Rücken ihres Vaters, der klagend ruft:

„Du brauchst mich nicht anzutreiben, ich lauf auch so,

ich bin doch kein Büffelpferd!“ Umdrehend siehst du am

Wegrand eine etwa ein Meter lange Ringelnatter,

die sich im Nu ins Gehölz verkriecht. Und nach wenigen

Schritten weiter siehst du noch eine davonblitzen. Das Gehölz

ächzt, und die Elektroradler donnern an dir vorbei.

Eine Frau in Sportkleidung zischt den Berg herunter und

hinterläßt den Duft ihres aufgetragenen Parfüms.

Eine feuerrote Mauerbiene nistet im leeren Gehäuse

einer Schnecke. Zitronenfalter umflattern dich.

Am östlichen, erhöhten Ende des Köppchensees, der Sonne

gegenüber, siehst du den im Ostwind jetzt goldgetäfelten Spiegel

und fühlst dich flüchtig zeitlos schweben. Ein Fischotter taucht auf

und kreist dicht unter der Oberfläche. Schlehenbäume

blühen. Du gehst über die Heidekrautbahnbrücke südwärts zurück

Richtung Dorf, und im Osten taucht der kahle, heute unbesuchte

Bauschuttberg Arkenberge auf, auf dem Modellflieger ansonsten

ihre Flugzeuge fliegen lassen. Über einen Weg voller

blühender Kirschen und begleitet vom Gesang der Feldlerchen

gelangst du zum Dorf. An seinem Rand liegen große Rohre

in der Wiese, und die Dörflerin, der du begegnest,

weiß nicht, warum die da liegen und wofür.

Du gehst die Schildower Straße hinab, und ein junger

Feuerwehrmann rennt in Montur an dir vorüber

Richtung Wache. Der Briefkasten wird täglich um 13.30 Uhr

geleert. Eine ältere Sonnenbrillenfrau in Leggings und

mit High Heels erinnert dich mit ihrem Unterkiefer

an Klaus Kinski, und als sie die beiden Enkel

in den gelben Mercedes-Flitzer eingeladen hat,

braust sie mit zurückgedrehtem Fahrersitz

auf der staubigen Straße davon. Du überquerst die B 96a und

gelangst so in den östlichen Teil der Hauptstraße.

Den „Graben 33 Blankenfelde“ grüßt du,

dessen Wasser den Nordgrabenfluß mit speist.

Im Reiterhof Neuendorf klagt unzufrieden

wiehernd ein Schimmel in seiner Box,

er will raus, nichts wie raus. Wie gepflegt, anmutig,

einladend, zum Teil fast großbürgerlich es in diesem Teil der

Straße plötzlich ist. Alte Schmiede, Schützenhaus Patzenhof,

Schießsportanlage, ein Kunsthof. In diesem steht eine abstrakte,

an Knochen erinnernde Großplastik, auf deren oberen Bogen

sich ein winziges Buchenbäumchen niedergelassen hat,

das nun winzige Blätter hervortreibt. Du Bäumchen,

hättest du dir keinen geeigneteren Grund zum Leben

suchen können? Zwei Löschfahrzeuge rollen dröhnend

an dir vorbei gen Osten, und im ersten sitzt vorn in der Mitte

das Weltenkind, der junge Feuerwehrmann von vorhin.

Im Westen sinkt die Sonne brennend

ihrem täglichen Erlöschen entgegen.

21.4.2023


WANNSEE

So gehst du hin

in stiller Gegenwart

am südlichen Ufer

des Pohlesees im Wald.

Die Sonne schleiert durch

die Wolken, und

Wind ruft Rillen

auf dem See hervor,

als wäre er in deiner

Phantasie eine leiernde

Platte, die vom sich

lösenden Zug der Zeit

ein Lied zum besten gibt.

Ein dahergelaufener Hund

stellt sich neben dich

und blickt mit hechelndem

Lächeln dich

erwartungsvoll an.

Willst du mit mir gehen?

Sein Frauchen spaziert

ins Gespräch vertieft

mit einer Freundin hinterrücks

vorbei, und er setzt sich hin,

als würde er wie du dem Liebesspiel

der Enten auf dem See ein Auge

schenken. Die Stimme der Herrin

ruft, aber er guckt nur dich an,

als wartete er auf ein Zeichen,

um mit fliegenden Fahnen

überzulaufen in sein neues Zuhause.

Aber dann ruft die Herrin lauter,

kommt gar zurück, und nun muß

er ziehen, der Hund, und aus dem Augenwinkel

wirft er dir einen Gruß oder einen Vorwurf zu.

Schade, scheint sein Blick zu sagen,

daß du mich nicht mitgenommen,

ich hätte dir treu gedient. Wir, ein Team.

Doch schon kommt der nächste Hund,

der stehenbleibt neben dir, und du siehst

dahinter schon wieder einen kommen,

jeweils in Begleitung der Gebieter.

Du machst selber kehrt, es scheint

dich heute das Volk der Hunde

als Flucht- und Zielpunkt

auserkoren. Von der Alsenbrücke

blickst du auf das jetzt in der Sonne

matt glitzernde Wasser des Stölpchensee,

und vom Ufer siehst du den anmutigen Hang

des Dorfes Stolpe mit seinen gereihten Häusern

und der dezent im Hang plazierten Kirche.

Am Alten Schulhaus hängt ein Zettel der

Mittwochsgruppe: „Nach langer Pause...“

- pandemiemaßnahmenbedingt -

„trifft sich wieder die Mittwochsgruppe...“

Ein davor über den Zaun gehängtes Plakat

der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-

Schlesische Oberlausitz sagt:

„Selig sind, die Frieden stiften“.

Aber wie stiftet man den Frieden?

Sind die Seligen nicht die, die gestorben sind?

Die Toten sind das Friedensvolk,

unterirdisch versammelt und wachsend.

Der Friedhof ist der Friedenshof,

die Toten die Höflinge am Hof des Friedens.

An der Kirche hat sich ein Paar gefunden,

ein Efeu hat sich seit mehr als hundert Jahren,

so stehts da, „einem Spitzahorn verbunden“.

Neben der Kirche wird bei „Yoga Wannsee“

das Ganzsein des Menschen trainiert.

Im Garten klettern die Kinder ins Baumhaus.

Am Wilhelmplatz steht eine uralte Eiche,

Wahrzeichen des Dorfs.

Das Gasthaus zum grünen Baum

lädt zu süddeutscher Küche und Meckatzer Bier.

Aber dich verdrießen die an der Tür oben fest

angebrachten Logos von Bewertungsplattformen im Netz,

wo bei katholischen Häusern der Segenswunsch

der Sternsinger mit Kreide geschrieben steht.

Es ist als sollte hier der Segen dank guter Gästebewertungen

erfolgen. Bleibt mir gestohlen.

Im Cafe Aux Delices Normandes räumt die Verkäuferin

die Gebäcke zusammen, sie schließt um 16h.

Unweit der Musikschule Wannsee hat ein Restaurant

für immer geschlossen: „Liebe Gäste, wir danken Ihnen

für die vielen schönen Jahre und verabschieden

uns in die wohlverdiente Rente. Machen Sie

es gut. Arrivederci Ihr Ristorante Salina“.

„Buch in Wannsee“ träumt sonntäglich mit

offenen Augen vor sich hin.

Auch das Kinderhaus Wannsee hat heute frei.

Der Kunst- und Weinladen glänzt mit Stille.

Am Stadion Wannsee steht auf einem Schild:

„Achtung Wildschweine! Türen schließen“.

Im Hof des Cafes „Mutter Fourage“ sind die Sonnenplätze

besetzt, und als du draußen an der Bundesstraße 1

stehst, siehst du einen Meilenstein, der dir sagt:

„III Meilen von Berlin“. In der katholischen St. Michaelkirche

hat der düstere, dir geradezu Angst einjagende

Eingangsbereich geöffnet. Regale ächzen unter ihrer

Bücherlast, und darüber, daß niemand sie will,

nicht mal kostenlos. Und neben einer Madonna

flackern drei Opferkerzen auf einem Treppenkerzen-Tableau.

Trotz des sonntäglichen Ausflüglerverkehrs

weht von gegenüber, vom über und über

blühenden Weißdorn ein dich umwerfender Duft.

Und während du dich wieder aufrappelst und du dich

fragst, ob wohl das alte Biogemüsepaar noch lebt, das

vor lange verflossener Zeit auf dem Steglitzer Wochenmarkt

auf dem Hermann-Ehlers-Platz einen Stand betrieb,

dann aber plötzlich verschwunden war,

und von dem du nur wußtest, es lebe in Wannsee,

geht es plötzlich an dir vorbei.

Es ist so überraschend, obwohl du an sie

gedacht, und ein so großer Zufall, daß du,

wie vom Donner gerührt, den Moment

nicht ergreifen und es ansprechen

und fragen kannst, wie es ihm gehe.

Aber du siehst doch, es geht ihm wie eh

und je, und es geht offenbar immer noch

gemeinsam durchs Leben. Oder willst du

hinterhereilen und die beiden ansprechen?

Da kommt der Bus angefahren, und wie ein Hund

zwischen zwei Leberwürsten, kannst du dich nicht

entscheiden; doch als neben dir der Fahrer die Tür

öffnet, mußt du wohl nolens volens wie der Hund,

dem die Haustür aufgemacht wird, freudig jaulend

hineinjagen. Glauben, loben, lieben - die drei sinds,

worin du dich wiederfindest. Du glaubst an das Gute,

in einem nicht-religiösen Sinn, daß es sich

durchsetzen wird, wenn auch vielleicht erst

in sehr später Zeit. Wer glaubt, der lobt, und

wer glaubt, der liebt. Alles geht sich ein und aus.

Frühling ist, und die Menschen blühen auf.

So zieht des Lebens Glanz vor deinem Aug

vorüber, das Leben ein Ball, ein Tanz, und statt des

Ärgers findest du die Freude lieber.

26.03.2023


ROSENTHAL

Weit und breit ist nichts zu sehn von einem Tal

mit Rosen, aber sicher doch wären in einem von dir

noch nicht entdeckten, in einem versteckten Garten

einer freundlichen Familie Rosen zu finden,

wenn sie auch jetzt freilich noch nicht blühten;

aber ein Tal, ein buchstäbliches, findest du hier

wahrlich nicht. Gigantenlastwagen rauschen an dir vorbei,

der du eingeklemmt auf dem schmalen Bürgersteig

des Wilhelmsruher Damms nahe der Hauptstraße

an bezäunter Hecke erzitterst vor der fahrenden

Felswand neben dir, ohne Fluchtmöglichkeit.

Wer tilgt die unsichtbaren Kosten für das logistische

Getriebe? Die Hauptstraße bringt von Wilhelmsruh

das verheerende Lastenverkehrsheer her. Das rumpelt und

dröhnt über die Dorfangerpflasterstraße. In der Mitte

die hohe, stolze Kirche von anno Domini 1230.

Kleinbetriebe haben sich hier angesiedelt

in den aufgelassenen, verlassenen, wie fluchtartig

verlassenen Höfen, von Zeitungen und Supermarkt-

Reklamezetteln verstopfte Briefkästen zeugen von den

Aussiedlungen. KFZ-Reparaturbetriebe sind jetzt da.

Und Opel Hinz preist seine Elektroautos an:

„Die Zukunft liegt im Blitz.“ Auch wenn die These

auf das Markenlogo von Opel und auf das Naturphänomen

des Blitzes anspielt, bei dem elektrische Ströme

fließen wie auch im Elektroauto, wenn auch da gebändigt,

scheint es dir, als läge zwischen Hinz und Heraklit

nur ein Schritt. Dieser sang: „Der Blitz steuert alles.“

So schlösse sich jüngste Gegenwart an die älteste an,

und der jetzt säkularisierte Heilsgott heißt Strom.

Die Offenbarungen Gottes zeigen sich in den

Elektroautos. Und so, wie Lübars das Pferdedorf ist,

so Rosenthal das der Pferdestärken auf vier Rädern.

Doch der Blitz ist auch die Erkenntnis.

Im Dunkel jener Nacht, in der der Mensch auch bei Tag

gehüllt vor sich hin schläft, hat die blitzartige Erkenntnis

ungeahnte Folgen: Was er erkennt, ist die ihn umgebende,

in grellstes Licht getauchte wirkliche Landschaft, von der er

zuvor nichts geahnt. Er sieht, wo er wirklich ist, was es mit ihm

auf sich hat hier, in diesem fremden Land.

Wer vom Blitz heimgesucht wird, der erkennt,

er war bisher in einer scheinbaren Heimat zuhause.

Der Blitz, die Erkenntnis, läßt ihn erst jene Heimstätte sehen,

nach der er sich fortan sehnen, die er suchen und finden möchte.

Nur der Blitz steuert dich auf deinem Weg in die andere Heimat,

in jene Sphäre, die du wirklich bist. Und die ehemaligen

Bauernhäuser und Gutshöfe locken nach hinten hinaus

mit weitläufigen Gärten, Scheunen, einer versunkenen Welt.

Die uralte, mächtige Eiche, vollhängend mit letztjährigem Laub,

ragt an der Hauptstraße auf, ein Riese, vor dem der Verkehr über

die Schönhauser zur Bundesstraße 96a abtaucht.

Baggerlärm umhüllt dich, Bauarbeiter erneuern die

Abwasserdruckleitung und das Trinkwassernetz,

ohne Wasser kein biologisches und kein zivil-bürgerliches

Leben. Das Cafe Zur alten Backstube hat sonntags

von 13 bis 17 Uhr geöffnet. Ein Plakat ruft:

„Kein Schwerlastverkehr durch Wohngebiete!“

Du siehst Wencke's Haarschneiderei, und die Post

wird täglich um 14 Uhr geleert, so stehts am Briefkasten.

Die Evangelische Gemeinde verspricht:

„Musik löst den Staub des Alltags von der Seele“

und lädt zum gemeinsamen Chorsingen ein.

Der neue Aldi-Supermarkt scheint in der Tradition

der Formensprache von Mies van der Rohe zu stehen,

wenn auch in dunkelroten Backsteinen, der Bau erinnert dich

an die Villa Tugendhat in Brünn, in dem vor dem Krieg

jenes Kind Ernst lebte, das später zum Philosophen heranwuchs

und vor drei Tagen dreiundneunzigjährig in Freiburg die Reise

in die Ewige Freiheit angetreten hat. Nebenan bietet

der Irem-Imbißstand vegetarische Currywurst an,

ein Mann sitzt bierlos auf der Bierbank davor und vertieft sich

in den „Tagesspiegel“. Auf dem nahen Spielplatz

Friedrich-Engels-Straße Ecke Hauptstraße schaukelt

eine Jugendliche besinnungslos, dem Absturz nah.

Es ist 13.55 Uhr. Dittmann's Gasthof, seit 1892 am Ort,

hat noch zu. Am Nordgrabenweg siehst du ein Gewässer,

das dir als kanalisierter Fluß erscheint. Im Angerweg

Ecke Debussystraße kommst du an einem zugewucherten

Garten mit Garagen vorbei. In der César-Franck-Straße

Ecke Andanteweg hält dich eine riesige Pfützenlache auf,

ideal für das Volk der Spatzen. Am Bratvogelweg Ecke

Kastanienallee verlassen die Grundschüler das Schulgebäude.

Du kommst durch die Straße An der Priesterkoppel

und hörst in der Straße 140 den Nordgrabenfluß rauschen,

in einer steil abfallenden Waldschlucht. Er springt über

die im Wasser liegenden Felssteine. Der Blick geht

zurück durch Gärten zum jetzt fern im Norden

liegenden Kirchturm der Dorfkirche. Im Gebirgskräuterweg

siehst du auf dem rechten Ufer des Nordgrabenflusses

einen drei Meter hohen Wasserfall aus dem Zingergraben

stürzen. Auch auf der linken Seite erscheint ein Fließgraben.

Am Frauenmantelweg Ecke Gebirgskräuterweg hat sich

die Schlucht weiter vertieft. Stromschnellen lassen

den Nordgrabenfluß geradezu gebirgsflußähnlich

rauschen. Eine hohe Brücke auf Stelzen führt darüber,

und die im Westen stehende Sonne glänzt auf dem Wasser,

es ist 16.21 Uhr. Du läßt einen Stein in die Tiefe fallen.

Weiter ziehend passierst du den Jugendstil-Kirchsaal

in der Kirchstraße, wie fast überall triffst du auch hier nur

auf verschlossene Kirchentüren. Im Döbrabergweg zeigt

eine Reihenhaussiedlung grüne Holzläden, und in der

Schönhauser Straße 42 hat eine Villa im italienischen Stil

einen Aussichtsturm. In der Kastanienstraße 104A weht

in einem Garten eine Fahne mit dem gelb-blauen Wappen

von Hiddensee, vielleicht ein solidarischer Gruß an die

Flagge der Ukraine? Und der vielfach vom Verkehr

gebrochene Asphalt flattert, wenn die Autos darüber rollen.

Es hört sich an, als würde ein Schwarm Schwäne auf

dem Wasser flügelschlagend die Flucht ergreifen.

16.3.2023


WILHELMSRUH

Als die Mittagsstunde naht, wanderst du auf dem Weg

von Osten her zum Wilhelmsruher See. Du nimmst

ein Sonnenbad. Der See ist, wie es offen sichtlich ist,

Anlauf-, Höhe- und Zielpunkt für Nachbarn,

Mütter mit Kindern und jenen, die die Mittagsfreude

hinaus in die Sonne ans Ufer winkt. Hier sonnen sie

sich in der Sonne, ehe sie sich besinnen und weiter

ihrer Wege ziehen. Am See kommt Wilhelmsruh zur Ruh,

kommt es ganz zu sich. Am See ist Wilhelmsruh Wilhelmsruh.

Gegenteilig dagegen erscheints dir in der Unruh der Chaussee,

Hauptstraße genannt. Durch sie geht unablässig Luft verstaubender,

schwere Lasten schleppender Verkehr, der das Leben dir vermiest,

solange du da weilst. Er zerschneidet, verlärmt, zergast das Dorf.

Löste er sich in Luft auf, könnten die Wilhelmsruher

die Ruhe weghaben und in aller Ruhe von

Geschäft zu Geschäft bummeln. Einige der Hiesigen

nehmen die Situation nicht hin und geben, wie sie sagen,

keine Ruh, was ihre Proteste dagegen betrifft.

Sie versuchen dabei auch, nicht allein verkehrsärmeres Leben

in die Ortsteilbude zu bringen. Zum Beispiel haben sie

die von der Stadt aufgegebene Bibliothek ehrenamtlich

in der von der Post verlassenen Post für die Einwohner

selber wieder eröffnet und veranstalten mit Pauken und

Trompeten Lesungen und Liederabende. Andere haben

in einer aufgelassenen Fleischerei einen Dorfladen

für bioregionale Waren gegründet. Auch zwei Dorfcafes

rühren rührig die Rührschüssel und backen Kuchen

und verhätscheln die hiesigen Leckermäuler

und die dem Naschen zugeneigten Katzen. Und Herr Förtsch,

der große Schlanke mit der rosa Baseballmütze,

betreibt im Buchladen ein Antiquariat. Sein Steckenbär sind

vergriffene Bücher über Berlin, doch Werkausgaben der Klassiker

hat er auch bis unter die Decke zur Hand.

Die wichtigen Seitenstraßen sind auch nach solchen

benannt, Lessing, Goethe, Schiller und Uhland

schütteln sich hier die Hände und werden

vom Schnauzbartrealisten Fontane in einer

Kreisbogenstraße begrüßt. Am Hauptplatz neben der

Hauptstraße, zwischen Goethe und Schiller und vor

dem Gotteshaus, erinnert ein Gedenkstein an

die „Opfer des Faschismus“. Du glaubst,

die heutigen Wilhelmsruher seien wenn nicht Opfer,

so doch Leidtragende einer anderen Form

von geißelnder Mobilmachung.

Sie kämpfen gleichwohl unverdrossen weiter gegen

die Windmühlen des weltumrollenden Verkehrs.

Der versteckte Garibalditeich, abseits der Hauptstraße,

weiter im Westen, jenseits der Goethestraße, ist spiegelglatt,

Bäume und Schilf spiegeln sich im Spiegel.

Ein Jugendlicher spielt Korbball.

Eine junge Mutter mit Kinderwagen sitzt auf einer Sonnenbank

und schweigt. Auch hier ist Wilhelmsruh ganz bei sich.

Dank des Bahndamms der musealen Heidekrautbahn

ist die Ecke vor Verkehr und vor Blicken geschützt.

Es ist, als wäre das Ende der Welt erreicht.

Um wieder nach Hause zu kommen, mußt du umkehren.

Dreh dich um, und wäre es nur auf der Stelle.

Du wirst eine andere Welt gewahren als die,

die du jetzt siehst. Nimm Rück-Sicht und

geh weiter bis ans andere Ende der Welt.

28.2.2023


NEU-HOHENSCHÖNHAUSEN

Du willst aus einer Laune heraus

dir in Neu-Hohenschönhausen die Haare

schneiden lassen. In seiner geographischen

Form erinnert der Ortsteil dich an ein vierblätteriges

Kleeblatt. Die Falkenberger Chaussee

und die Eisenbahnstrecke teilen ihn

in vier Bereiche. Das erste, was du siehst,

als du von der Falkenberger Chaussee

in die Zingster Straße zum Linden-Einkaufstempel

gehst, sind Zehntausende Kaugummis,

die fest auf dem Pflaster kleben.

So viele ausgelutschte Kaugummis hast du

noch nie gesehen. Die Kaugummi-Industrie

hat hier ihre treuesten Kunden,

an den Neu-Hohenschönhausern

wird sie nicht zugrunde gehen.

Vor dem Eingang in den Tempel fangen Bettler

die Passanten ab, ihr Herantreten und das

bogenförmige Ausweichen der Angebettelten

erscheint dir als abgestimmte Choreographie,

als hätten sie sich zu einem Tanz verabredet.

In Einkaufszentren hältst du dich nicht

gerne auf, weil du den Himmel nicht sehen und

den Wind nicht fühlen kannst, doch heute,

angesichts der draußen waltenden Kälte,

stimmt die Wärme dich milde, und wie du in den Cafes

ältere Damen in Rüschchenblusen bei Kaffee und Kuchen

plaudern siehst, verstehst du, hier sei für sie

die Stadtmitte, sei ihr Städtchen, wo sie unter

die Leute gehen und andere treffen.

Die werden es in den „Lockdown“-Zeiten der

Corona-Pandemie nicht leicht gehabt haben

in ihren Wohnungen in den Hochhäusern,

ohne einander öffentlich sorgenfrei zum Schwatzen

treffen zu dürfen. Jetzt sitzen sie da, ganz Gegenwart,

und die Pandemie ist Geschichte.

In einem Schweizer Frisurenstudio fragst du

nach dem Preis für einen Schnitt und bist überrascht

von der Antwort und ziehst erst einmal weiter,

siebenunddreißig Euro scheinen nicht wenig zu sein,

und jeder Schnitt ist bekanntlich nicht für die Ewigkeit.

Du ziehst wieder hinaus in die Zingster Straße, während

die Bibliothek Anna Seghers herübergrüßt.

Am Wegrand im Gras sitzt ein Vietnamese

in der Hocke, es scheint, als täte er das gerne,

einfach so, ohne erkennbaren Grund, ein Tag muß

schließlich vorübergehen. An einer Ladenzeile

triffst du auf den Salon Heidi, wo das Schneiden

günstiger, dafür freilich kein Platz frei ist.

In der Schwimmhalle ziehen Schwimmschüler

ihre Bahnen, und davor sitzen Männer auf Bänken und

reden nicht viel. Gegenüber in der Barther Straße 3

erinnert eine Gedenktafel indirekt an den saarländischen

Dachdeckerlehrling, der 1984 den Grundstein für die ganze

Siedlung hier gelegt hat. Streubel & Cornet betreiben nebenan

ein kleines Pavillon-Cafe, in dem ein Gast sich Kaffee und Hörnchen

schmecken läßt. Der Prerower Platz, die Mitte des Viertels,

spricht dich in seiner großen Leere an. Nichts ist da, niemand,

aber jetzt, da du drübergehst, ist doch jemand da.

Auf einem Parkplatz neben der Falkenberger Chaussee

ist ein Zirkus aufgebaut, aber du siehst und hörst niemanden,

er wirkt wie ausgestorben. Auf der Brücke der Chaussee

über den Gleisen siehst du einen Zug nach Templin einfahren,

pendelnde Schüler steigen aus, und junge Damen steigen ein.

Du gehst weiter und holst im Laden des Bäckerei-Werksverkaufs

Streubel & Cornet einen Kaffee und ein Hörnchen,

inspiriert von dem einsamen Mann im Zingster Straße-Pavillon.

Die strenge Verkäuferin pumpt dir den Kaffee aus einer

bereitgestellten Thermoskanne in einen Plastikbecher

und reicht dir das trockene Hörnchen.

Nebenan steht die neue Falkenberger Kirche, die

nicht in Falkenberg steht, sondern eben hier, im Nachbarortsteil,

in Falkenberg erinnert auf dem Friedhof nur mehr

die Kriegs-Sprengruine an die alte. Du umkreist die neue

ein Mal rundum, als würdest du ihr so die Ehre erweisen.

Drüben am Warnitzer Bogen sprichst du im Vandell-Studio vor.

Die filigrane Friseurin, Tabitha, erwartet bald eine Stammkundin,

aber nach kurzem Überlegen, mit Blick auf die Uhr, sagt sie:

„Das schaffe ich!“ und bittet dich, Platz zu nehmen.

Ihre Stirn ist rundgewölbt, ihr Haar grün und blau gefärbt,

und Metallstifte und Ringe durchbohren Mund, Nase und Ohren.

Anschließend wanderst du, frisch verjüngt,

den Bogen mit seiner Ladenzeile weiter.

Bäcker Feihl bietet seine Waren feil.

Die Schuldnerberatung läuft.

Die Fleischgrillgerichte eines Imbisses finden Absatz.

Am Quartierspark spielen Kinder.

Und du gehst die Vincent-van-Gogh-Straße hinunter,

und die Friseurin in ihrer filigranen Art geht dir nach

und läßt dich lächeln. Die Sonne steht tief.

In der Straße Zu den Krugwiesen sitzt eine Gesellschaft

für Oberflächenbearbeitungstechnologie.

Die produzieren Diamantwerkzeuge, Maschinen

zum Schleifen, Läppen und Polieren und

Systeme für Präzisionsoptik. Ihre Produkte

haben es, wie die Berliner Woche schreibt,

bis auf die ISS geschafft. Auch Schreiben

ist eine Form von Oberflächenbearbeitungstechnologie,

scheint dir. Nagelneue Wohnbauten in der Seehausener Straße

lassen dich Bauklötze staunen. Das einstige Neue

von Neu-Hohenschönhausen wird alt, und neues neues kommt nach.

Das ist der Lauf der Welt, auch bei Häusern.

Vorm Penny halten schwergewichtige Raucher,

mit Bier an die fahrradlosen Fahrradständer gelehnt,

ihre Konferenz über Gott und die Welt ab.

„Liebe Eltern, wie Ihnen bereits bekanntgegeben,

bleibt unsere Kita heute geschlossen“, liest du

in der Warnitzer Straße an der Tür einer Kindertagesstätte.

Und an der Pablo-Picasso-Straße steht auf einem Meilenstein:

„1 Meile bis Berlin“. Am Rotkamp, wieder westlich der Eisenbahn,

im Quartier Mühlengrund, findest du weitere ansprechende

Wohnungsneubauten, mit Holzwänden, du befühlst die Wand,

und eine Latte tränt Harz. Wohnungen haben Balkone wie

Aussichtsplattformen über Schluchten.

Radständer warten auf zukünftige Räder.

Die Sonne geht unter, und an der Falkenberger Chaussee

kniet ein Moslem am Grassteifenrand hinter einer Werbetafel

auf seiner ausgelegten Jacke und betet. Er verfehlt, deiner

Meinung nach, die Richtung nach Mekka.

23.2.2023


LANKWITZ

Hoher Nachmittag, und am Himmel häuten sich die Wolken.

Du biegst an den Aral-Zapfsäulen von der Kaiser-Wilhelm-Straße

in die Straße Alt-Lankwitz ein, wie heute die einstige Dorfstraße heißt.

So entkommst du den pausenlos Ohrlaschen austeilenden

Auto- und Lastwagenkaskaden, wie auch den dich blendenden,

nach dem Krieg in der Not bescheiden errichteten Wohnburgen.

Die Straße teilt sich, um das Auge des Dorfs, den Anger, hütend

zu umschließen. In ihrer Anmut läßt die Anlage den Blick

ruhig und frei schweifen. Nach wenigen Schritten aber

rührt dich der abzweigende Langkofelweg, katapultiert dich

en passant aus dem Urstromtal hinauf in die Dolomiten.

Dein Vater und seine Busenfreunde wedelten einst auf Skier

durch die Langkofelscharte zwischen herausstehenden Felsen

zu Tal; am Abend, geschafft, mit schmerzenden Beinen, bekamen sie

in der Trattoria in Canazei, beziehungsweise „Kann-net-sei“,

wie sie das Tal-Kaff auf schwäbisch nannten, erwünschteste

Spaghetti serviert. Vom Langkofel schreitest du geradewegs

über die Wiese gen Dorfkirche, die bei einem der verheerendsten

Luftangriffe der Alliierten in der Nacht vom 23. zum 24. August 1943

zerbombt und nach dem Krieg in den fünfziger Jahren

wiedererrichtet wurde. Auf der Wiese umkleidet

ein schmiedeeiserner Schmuckzaun eine Eiche,

während auf dem Weg vor der Friedhofsmauer

verkleidete Kinder ziehen, ihre Mütter und Großmütter

im Schlepptau. Sie feiern heut Fastnacht, ehe morgen,

für praktizierende Christen und solche Menschen,

die den Anlaß aufgreifen, die Fastenzeit beginnt,

Wochen der Reinigung, der Reparatur, der Verjüngung,

des Fegefeuers auch der seelischen Fettzellen,

bis an Ostern, mit den bemalten Ostereiern,

das zyklische, ewige Leben, verdichtet in der Erzählung

von der Auferstehung des Herrn, wieder gefeiert wird.

Das Tor zum an die Kirche sich anschließenden Gottesacker

ist zugesperrt, doch siehst du auch so durch die Stäbe

die Krokusse und Schneeglöckchen blühen,

hörst deren Botschaft vom bald allseits

wiedererstehenden Leben, für die der Glaube dir nicht fehlt.

Das Dominikuskloster taucht auf; das stattliche, gelbe

Frontgebäude war wohl früher das Gutshaus,

dann das Mutterhaus des Klosters

der Christkönigsschwestern. Hier haben sie seit 1927

bald ein Jahrhundert lang hilfsbedürftige Menschen

gepflegt und geheilt, ehe zwei Betrüger sie um ihr Vermögen

brachten und sie alles verloren, das Kloster nicht überleben konnte.

Jetzt belebt die christliche Gemeinschaft Chemin Neuf, Neuer Weg,

Haus und Kirche. Auch hat in der Gnadenkapelle die Gemeinde

des Heiligen Isidor Einzug gehalten, die Berliner Diözese

der Russisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats,

deren Oberhaupt ein gewisser Kyrill I. ist. Es heißt,

der sei ein ehemaliger KGB-Agent, ein Milliardär und segenspendender

Anhänger des Kreml-Schlächters. Wie betet es sich wohl,

wenn ein solcher das Oberhaupt ist?

Christlich den Nächsten zu lieben und gleichzeitig

zu wissen, der Kyrill segne das grausame Töten und Foltern

der rußländischen Soldateska in der Ukraine,

kann das zusammengehen? Du stehst vor der Kapelle

und überlegst, die Tür zu öffnen. Da hörst du von drinnen ein Lachen,

von zwei Menschen, und plötzlich zögerst du,

sie zu öffnen. Du könntest deine Fragen doch ihnen stellen,

fürchtest dich aber vor einer Lage, die einen Abgrund

zwischen euch eröffnen könnte, und so verläßt du lieber den Vorhof.

Nebenan steht das Gästehaus Angelicum, das, wie ein Zettel

an einem Pfosten im laubgefüllten Vorgarten mitteilt,

seit dem 1.1.2013 geschlossen ist, da die Christkönigsschwestern

das Kloster verließen. Es sieht unbewohnt aus. Warum bietet man es

nicht ukrainischen Flüchtlingen an? Die Russisch-Orthodoxen, vielleicht

haben sie längst und insgeheim sich von ihrem nur scheinbar christlichen

Oberhaupt losgesagt, beziehungsweise hätten ihn zum Teufel gewünscht, wenn

er nicht schon des Teufels wäre, und leisteten

gerne ihren neuen Nachbarn tätige Nächstenhilfe?

Aber wer hat die Schlüsselgewalt über das engelhafte Gebäude?

So ziehen die Gedanken wie Schafe von selbst vorüber,

während du weiter vorbei an einem Wäldchen

über die Wiese gehst; und jenseits des hier unterirdisch

kanalisierten früheren Wiesenbachs namens Lanke,

von dem das Dorf seinen Namen erhielt, stößt du

auf die Kleine Kneipe, die, ausgerechnet, für den 24. Februar 2023

Eisbein ankündigt - den fetten, fleischigen Unterschenkel eines Schweins -,

Reservierung erwünscht, was du in deinem Leben noch nie

gegessen hast und auch nicht essen wirst. Indes zieht

im Himmel ein Schwarm Kraniche zurück aus dem Süden,

und im Osten ist der Himmel weißblau, von gelben Schichtwolken

durchzogen. Du gehst südwärts weiter und stößt am Halbauer Weg

auf die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche, die das Gebäude von

einer Römisch-Katholischen Gemeinde übernommen hat.

Häuser und Gebäude werden immer, wenn sie verlassen

oder aufgegeben oder ihre Bewohner vertrieben werden,

von anderen neu bezogen, neu eingerichtet, neu beseelt.

Das haben auch die frühen Christen getan, als sie ihre Kirchen

über ehemaligen römischen, „heidnischen“ Tempeln errichteten.

Es ist 17.08 Uhr, und die Sonne kommt heraus und taucht

die Häuser in gelbrotes Licht. Die Cumuluswolken verschwimmen

in orangegelbem Chiaroscuro. Und auch du verschwimmst,

wie am Ende ohnehin alles verschwimmt, die Zeit, der Raum,

die Erinnerung. Was einzig bleibt, ist das Verschwimmen.

21.2.2023


LICHTERFELDE

Da sitzt sie, die ältere Dame,

unter der Markise des Tchibo-Cafés

am Platz vor dem Bahnhof Lichterfelde-West

und hält sich an ihrer Tasse fest. Sie blickt

in den Regen oder vielleicht jenseits des Regens

auch in eine Ferne, die allein sie vor Augen haben kann,

wo der Regen nachläßt und ein strahlender Tag beginnt.

Sie umschließt den Griff der Tasse fester, als wolle sie

nicht zurück in die Leere dieses Vormittags fallen.

Der bietet nach außen hin nur das himmlische Naß

und die bescheidene Geschäftigkeit der Geschäfte

hier am Platz, und so schmiegt sie sich tiefer in ihre lange,

bis zu den Füßen reichende Winterjacke, und

am Kaffee nippend, schließt sie die Augen und träumt

von früher, als ihr ein Jüngling den Hof machte. Der war damals

ihr zukünftiger und ist heute ihr längst gestorbener Mann,

der auf dem Friedhof unweit von hier seinen ewigen Schlaf

gefunden hat. Das Leben folgt dem unveränderlichen

Wechsel von Aufwachen und Einschlafen, so im Alltag,

aber auch auf der ihn überschreitenden Ebene.

Da besteht das Schauspiel aus dem unwahrscheinlichsten

Erwachen eines Lebewesens aus dem Nichts und aus dem

wahrscheinlichsten Verschwinden desselben zurück in das Nichts.

Ein einmaliger Kreislauf. Aus dem Dunkel ins Licht und

zurück ins Dunkel. Längst ist die Zeit vorbei, da ihr einer den Hof

machen würde. Sie umgarnt auch keinen mehr. Das Garn liegt

unbenutzt im Nähkästchen. So vor sich hin träumen ist, als pflegte

sie ihre Seele. Es ist dieses Hiersitzen und in den Regen

Schauen ihr Kosmetikstudio. Tränen rollen über ihre Wangen,

und in ihnen blitzt ein Licht. Und mit diesem Blitz,

der sich auf dich überträgt, ziehst du weiter und schenkst

ihr ein Lächeln. In der Drakestraße schaust du zu Lüske hinein,

dem Lebensmittelgeschäft, das sich in einem früheren

Kino aus dem Jahr 1953 einquartiert hat, welches „Der Spiegel“ hieß

und das die ältere Dame einst mit ihrer Liebe besucht haben mag,

und es freut dich unmittelbar, daß das Bauwerk mit Empore,

Saal und Leinwandseite erhalten geblieben ist, nur die Stuhlreihen

wurden notwendigerweise entfernt. Ohne etwas zu kaufen,

verläßt du die Höhle wieder und gehst weiter im Regen.

In der Ringstraße siehst du Mitarbeiter der Straßenreinigung

Kastanienlaub bergeweise zusammenrechen und die Haufen

in abbaubare Säcke stopfen. In ein paar Monaten können

die neuen Blätter erscheinen. Vorher wird tabula rasa gemacht.

Was tot ist, wird entsorgt, kompostiert, beerdigt.

Das Leben ist immer auch eine Platzfrage.

Und du betrittst die Außenstelle des Amtsgerichts Schöneberg,

dem burgartigen, von außen auf dich düster wirkenden

Felsengebirge von einem Haus, und läßt dich im käfigartigen

Eingangsbereich von den Justizbeamten auf Identität und Waffen

prüfen, und als sie sehen, daß du eine Identität hast, worüber

du freilich gerne noch einmal diskutieren würdest, und du keine

Waffen trägst, womit du d'accord gehst, lassen sie dich alleine

in das Innere des Gebäudes ziehen.

Du gehst durch lange, hohe Gänge, suchst den Weg,

gehst Treppen hinauf und Treppen hinunter,

Türen gehen auf und Türen gehen zu, und noch ehe

du dich versiehst, hast du dich verirrt, gingst

du dir verloren. Nun sammle dich, bestimmt

findest du dich wieder, an einem anderen Ort.

22.12.2022


MITTE

Abends in beizender Kälte, die dich heimwärts treibt

oder dir doch wenigstens den Besuch

einer warmen Stube nahelegt, siehst du,

von der Friedrichstraße kommend

aus den Augenwinkeln am Gendarmenmarkt

Besucher zur Aufführung des Weihnachtsoratoriums,

Bach-Werke-Verzeichnis 248, in Richtung Konzerthaus

streben. Das wäre eine gute, warme Stube, und so gehst du

zum Eingangsbereich und prüfst, ob nicht irgendwer

eine Karte übrig hätte. Für das von Musik durchmalte Aufwärmen

wärst du bereit, zwanzig Euro springen zu lassen.

Da kommt schon ein älterer Herr, fast rennend,

im Pulk mit anderen, und du fragst,

ob er seine offenbar übrige Karte, mit der er wedelt,

nicht an mich verscherbeln wolle.

„Ja, wieviel willste denn zahlen?“ sagt er, ganz Feuer

vor Freude, daß er die Karte noch loswird.

Indem du von seiner dich duzenden Ansprache

absiehst, nennst du den abgemachten Betrag.

Da lacht er auf und ruft: „Da lasse ich die Karte lieber

verfallen - die hat über achtzig Euro gekostet.“

Nun denn, so zieh des Wegs, lieber die Karte lieber

verfallenlassender Mensch. Es ist auch egal.

Und weiter strömen die Menschen vorbei, übrigens fast allein

betagte Semester, ja, ihrem Aussehen nach zu urteilen,

scheint es, als hätte irgendwer die halbe Brandenburger

Dorfbevölkerung, oder sind es die Eingesessenen der

Berliner Dörfer, hierher mit Bussen gekarrt.

Doch da die Kälte dich wieder daran erinnert,

entweder subito hier den Konzertofen zu entern

oder stehenden Schritts zu gehen, tendierst du, da ohne Ofenkarte,

schon dazu, Leine zu ziehen, als just eine mantellose Japanerin

in dünnem Tüll herausstolpert. Offenbar will die noch schnell eine Karte

loswerden beziehungsweise an den Mann bringen. Also gut.

Du sprichst sie an und nennst den bekannten Betrag.

Sie bejaht zunächst und überreicht dir die Karte. Aber es tut ihr

dann doch leid, nur so wenig zu bekommen, da sie so viel

gezahlt habe, und sie überlegt sichs anders und will über

den Preis verhandeln. „Vierzig Euro!“ Du gibst ihr die Karte

zurück und schickst dich an, nun wirklich zu gehen, worauf sie sagt:

„Ach, es ist zu kalt hier draußen, nehmen Sie die Karte,

ich schenke Sie Ihnen!“ und rennt wieder hinein. Nun gut,

in dem Falle solltest du Gnade vor Recht walten lassen

und die Möglichkeit, dich im Konzerthaus beim Weihnachtsoratorium

aufzuwärmen, nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Erst drinnen macht dich der Platzanweiser darauf aufmerksam,

daß du sogar zwei Karten erhalten hast, einmal für die erste Reihe

und einmal ein paar Reihen weiter hinten in der Mitte.

In der Mitte ist die Akustik besser, und es sitzen da auch nicht so viele

Besucher, warum auch immer, ein paar Plätze rechts und links neben dir

bleiben frei, was dir ganz recht ist, und so kannst du, während

Geneviève Tschumi im blauen Samtkleid mit ihrem dir

nahegehenden, dich wärmenden Alt singt, in Ruhe auftauen.

Es ist, als verwandeltest du dich von einem vereisten Bach

in einen fließenden, springenden, seine jauchzend

frohlockenden Töne lallen und sprudeln und jubeln durch dich.

3.12.2022


KARLSHORST

Du befindest dich auf der Suche

nach dem noch nicht entdeckten

Odesa-Platz, den es hier neuerdings geben soll,

benannt nach der Stadt am Schwarzen Meer,

in der ukrainischen Orthographie, mit einem S.

So wurde es beschlossen vom Bezirksparlament,

im heißen Monat August, aus Solidarität mit der Ukraine,

der angegriffenen, überfallenen, heimgesuchten,

von dem scham- und gewissenlosen,

aus rußigen Hinterhöfen Leningrads

entlaufenen Schwerenöter mit der Miene

einer einbalsamierten Leiche.

Warum das Parlament den Platz nicht gleich

nach der Ukraine benannt hat, den Ukraine-Platz

in öffentlicher Sprechhandlung ins Leben gerufen hat,

bleibt vorderhand ungeklärt.

Nirgends entdeckst du ein Schild,

das den bis jüngst namenlosen oder nicht existenten

„Platz“ namhaft oder dingfest machen und zur Erscheinung

bringen würde, und so bist du dir nicht ganz sicher, ob du auch

wirklich am richtigen Ort zum Stehen gekommen bist,

hier, wo Rheinsteinstraße und Ehrenfelsstraße

in die Treskow-Allee münden, die unentwegt Wellen schlagende.

Du ruderst hinüber in die Galerie im Kulturhaus

und fragst den Galeristen, der es doch wissen muß.

„Odesa-Platz? Noch nie jehört. Und ick wohn hier schon

seit Ewigkeiten. Wo soll der sein? Ne, meen Lieber,

den jibs nich!“ Und du ziehst weiter zur Buchhändlerin

gleich um die Ecke in der Dönhoffstraße. Die mutmaßlich

vieles lesende Frau, die sollte doch klarsehen.

Pustekuchen, auch die staunt nur und starrt dich an,

als wärst du ein Buch mit sieben Siegeln,

von dem sie nicht zu sagen wüßte,

wie sie die Schnallen öffnen soll, obschon sie es gerne täte.

Auch in ihrem Hinterstübchen flammt bei Odesa keine Ahnung auf.

„Hast du gehört“, fragt sie ihren Kollegen, „daß es hier einen

Odesa-Platz geben soll?“ - „Einen Odesa-Platz?“ Und du siehst

an seinem in die Ferne schweifenden Blick, daß er den doch

in der Nähe liegenden, guten Platz nicht finden wird.

Und weil ein umhergehendes Fragen erst bei drei Befragten

anfängt, eine in Grenzen brauchbare Aussage zu bekräftigen,

gehst du noch in die Feinbäckerei Hollschewski,

unmittelbar neben dem mutmaßlichen Odesa-Platz.

Um gute Stimmung zu unterstützen, kaufst du zuerst ein

paar der ins Auge springenden Zuckerwerke aus der Auslage

und stellst dann deine Frage. „Odesa-Platz?“ schnaubt es fast

konsterniert über den Tresen. „Ne, tut mir leid, da bin ick überfragt!“

Nun läßt du es sein Bewenden haben und die Frage gut sein,

im Bewußtsein der Bevölkerung hat sich dieser Platz

noch nicht verankert, kein „Panzerkreuzer“ liegt im Hafen,

keiner ins Auge getroffenen Frau entgleitet der Kinderwagen,

der, inmitten der panisch vor den Schüssen aus den Gewehren

der die Treppe herabkommenden Soldaten fliehenden Menge,

über die Hafentreppe wippend und geradezu ungerührt zur Mole

hinabrollt, wo er mitsamt dem Kinde vorwärts umkippt.

Odesa liegt janz weit draußen, weiter draußen,

als Berlin groß ist. Du begibst dich nun mitten

auf den wahrscheinlichen Odesa-Platz und bleibst

auf ihm stehen und versuchst, seinen Geist zu erhaschen,

den er hat oder haben muß oder haben könnte.

Ein wegweisendes Schild zeigt in die Rheinsteinstraße

zum „Museum Berlin-Karlshorst“. Das heißt seit diesem

Jahr so, nachdem es zuvor sieben Jahre

lang „Deutsch-Russisches Museum“ (und unförmlich

noch länger so) geheißen hatte. Die Museumsleitung

hat den Namen jetzt allgemein und somit so oder so

sachgerecht gefaßt und innewohnend das Brennglas

auch auf andere Länder wie Weißrußland oder Belarus

und Ukraine gelegt, die bekanntermaßen mindestens ebenso

vom damaligen Deutschland angegriffen wurden.

Anlaß der Umbennenung war selbstredend der

seit dem vierundzwanzigsten Februar ausgeweitete,

nun das ganze Land mit beispiellos schmählichen Raketen

ruinierende Kriegszug des russischen Staates gegen die Ukraine,

im Jahr 2014 mit der Überfall-Besetzung der Halbinsel Krim

schon vom Grenzzaun gebrochen. Und du drehst dich um und siehst dort,

am Theater Karlshorst, den seit 2014 nach Johannes Fest benannten Platz,

dem Karlshorster Bürger und Mit-Verteidiger der Republik, der Weimarer,

Rektor einer katholischen Volksschule und Bezirksverordneter,

im April 1933 „aus dem Dienst entfernt“ und mit Berufsverbot belegt,

nach dem Krieg als ein Stadtältester von Berlin geehrt,

Vater auch des Historikers Joachim Fest. Nachdem der Vater

sich von Anfang an gegen den Diktator und seine Partei gewandt hatte,

wandte nach dem Krieg der Sohn sich zumindest wissenschaftlich-

biographisch dem freilich toten Diktator zu und verfaßte eine Lebensbeschreibung.

Später ging er auch dem einstigen Architekten und Rüstungsminister,

unzeitgemäß Speer genannt, beim Verfassen von dessen schöngefärbten

Erinnerungen zur Hand. Beim Studium in Heidelberg gingst du nolens volens täglich

an dessen Anwesen im Schloß-Wolfsbrunnenweg vorüber, auf dem Weg

zum Seminar oder von diesem nachhause, weil du schräg gegenüber

im Klingelhüttenweg 1 wohntest. Der Name Wolfsbrunnen paßte unfreiwillig,

wenn auch der Wolfsbrunnen selber idyllisch und besuchenswert ist.

Bisweilen rollte ein Porsche über das Speersche Grundstück, und du glaubtest,

es sei Speers Sohn Albert, der, in Frankfurt, gleichfalls Architekt und Städteplaner

geworden war und es offenbar nicht für moralisch anstößig ansah,

für die scheußlichsten Diktaturen der Welt zu planen und zu bauen,

wobei er das freilich mit etlichen international tätigen Architekten

gemein hat, diesen ruchlosen Huren blutrünstiger Despoten,

was die Angelegenheit allerdings moralisch nicht weniger verwerflich macht.

Unweit der einstigen Festlichen Wohnadresse steht die Kirche

St. Marien (Unbefleckte Empfängnis), 1935 bis 1937 in neoromanischem Stil

errichtet, mit der Hauptfassade und dem Turm in Rüdersdorfer Kalkstein,

womöglich noch von der Familie besucht. Von 1905 bis 1910 war der Priester

Bernhard Lichtenberg Seelsorger für die hiesigen, noch kirchenbaulosen Katholiken.

Wegen Eintretens für die von den Nazis Verfolgten wurde er von den Nazis selber

verfolgt, eingesperrt und mißhandelt. Auf dem Transport ins KZ Dachau

verstarb er 1943. Als Märtyrer wurde er 1996 von der Kirche seliggesprochen.

Nach dem Krieg entweihten die Sowjets die Kirche als Lagerhalle

für Kohle und Möbel und als Viehstall. Du wanderst weiter, kommst zur

Trabrennbahn Karlshorst, und gehst am Rande der Anlage entlang.

Auf der Außenbahn dreht ein einsamer Traber seine Runden,

während innerhalb des Ovals Reitschüler auf Pferden schaukeln.

Der Wind tost über die leere, verfallende Tribüne, und hinten

bei den Stallungen putzen Halter ihre Pferde, während

Handwerker ihre Sachen für den Feierabend zusammenpacken.

Du erreichst den Deich auf der Ostseite des Ovals,

und ein weiterer Traber fährt jetzt mit seinem Rennwagen

seine Runden in entgegengesetzter Richtung,

auf der inneren der beiden Bahnen, zwei gegenläufige Uhren.

Östlich davon liegt ein Neubaugebiet für junge Familien.

Die Häuser tragen Pastell, als wären sie Bonbons, und hoffen auf

friedliches Beisammensein, und wirken doch unfroh,

fast wie eine Gefängnisanlage ohne Mauern.

Mädchen radeln über die Trampfelpfade,

auf dem Weg von der Schule nach Hause.

Eine alte Eiche hat einen Ast verloren,

und die Riß-Stelle sieht aus wie der „Schrei“

von Edvard Munch. Andererseits erinnert die Eiche

mit ihren erhobenen Ästen an die nackte Vietnamesin,

die vor den Napalmbomben flieht, Phan Thi Kim Phúc.

Eine Düne ist eingezäunt, eine binnenländische Sandablagerung,

von Kiefern bewachsen. Als du später von der Liepnitzstraße

zur Hegemeisterstraße gehst, glaubst du kurz, in Österreich gelandet zu sein,

weil die Häuser eingangs in Schönbrunner Gelb, auch Habsburger Gelb genannt,

gestrichen sind, die Läden in Lindengrün. Ist das nicht Rodaun?

Die Drei-Straßen-Aufgabelung Liepnitzstraße,

Hegemeisterstraße, Oskarstraße mit ihrer lässigen

Verschwenkung wirkt belebend auf dich, in der Seele,

in den Hüften, in den Beinen, und schon beginnst du

zu tanzen, während über dir die grauen Wolken nach Osten

stürmen. Diese Waldsiedlung, dörflich anmutend,

mit ihren fehlenden oder kleinen, gepflegten Vorgärten

und herausgeputzten Häusern und den radfahrenden Müttern,

hat einen außerweltlichen Charakter oder einen Charme,

als wäre sie nicht von hier und vor allem für Kinder gebaut,

für sie ein paradiesischer, verwunschener Ort. Freilich, auch hier,

südlich und östlich, jenseits des Walds, tosen große Straßen -

die Rummelsburger Landstraße und die Treskow-Allee.

Egal, wo du bist, du wirst von diesen Kraftwagen-Strömen eingeschlossen.

Der Traberweg, im ursprünglichen Teil von Karlshorst,

nach Treskows Vorname benannt, lockt dich mit seiner uralten Eichen-

Allee und den Schattengestalten der Passanten in der fallenden Dämmerung

zu sich herein. An der Ecke Traberweg und Liepnitzstraße

stößt du auf ein an Autofahrer adressiertes, altes Schild mit der Aufschrift:

„Fahr vorsichtig. Es könnte auch Dein Kind sein“.

Angenommen, es könnte keinesfalls dein Kind sein,

sollte das heißen, du dürftest unvorsichtig fahren?

Die Lehre der Geschichte lautet wohl:

Paß auf, mach keinen Mist und vergiß nicht: Alles, was du tust,

was du sagst, auch was du verschweigst, jeder Moment deines Lebens,

hat Auswirkungen auf deine Mitwelt. Zu der Mitwelt gehörst im übrigen

auch du selber, denn jede Handlung wirkt auf den Handelnden zurück.

Und die Dämmerung fällt weiter, und wie sie weiter fällt,

fällst auch du weiter aus dem Tag.

28.11.2022


FENNPFUHL

An diesem düsteren, kalten Totensonntag

siehst du, durch die Karl-Lade-Straße schlendernd,

daß die Scheiben des Büros eines Politikers

der Partei „Die Linke“ beschädigt sind;

selbsternannte, sich gleichfalls als „links“ begreifende

„Widerständige“ haben die Scheiben lädiert,

so daß sie gesplittert sind wie Spinnennetze.

Du siehst, wie sie auf ein auf der

Innenseite angebrachtes Portraitplakat

des Politikers eingeschlagen haben,

als wollten sie das Gesicht, ihr Feindbild,

zerstören, und hämmern es nur um so fester

in ihr manichäistisches Weltbild. Ihr Credo: Hier sind wir,

die aktionistischen Guten, die Gute Gewalt Ausübenden,

und da sind die Bösen, die Parteien, der Staat, die Kapitalisten,

und letztere zeichnen letztlich für alles Leid der Erde verantwortlich.

Davon läßt sich aber das „Libero“ nebenan nicht beeindrucken,

die Fußballkneipe, an deren Außenwand schon der Spiel- und

Fernsehplan für das anstehende Fußballturnier in Katar angebracht ist.

Was würden die Biertrinker und Fernsehgucker sagen,

wenn die „Widerständigen“ zu ihnen eindrängen und ihnen

den Fernseher zertrümmerten, weil der Fußball schließlich nicht nur ein

unschuldiges Spiel, sondern auch ein gekapertes Objekt der globalen

Geschäftemacherei ist, also des schlechthin Bösen,

das auf dem rechtlosen Kreuz tausender Bauarbeiter

sein zynisches Geldscheffel- und Selbstinszenierungs-Zeremoniell

erfolgen läßt? Im Nachbarhaus klopft sich der Bäcker in der Stube

der Bäckerei Rauch das Mehl vom rechtschaffenen

Bäckerhemd. Von seiner Hände Arbeit lebt er,

von der ehrlichen Hand in den goldenen Mund.

Du gehst weiter, und zwischen den hohen Wohntürmen

hast du das Gefühl, am Grunde einer Schlucht

zu wandeln. Du betrittst den weitläufigen

Anton-Saefkow-Platz, während die fröhliche Tram durch eine

wie für sie allein gewachsene alte Allee saust.

Der Kommunist Saefkow, Gegner der „Nationalsozialisten“,

hat anscheinend in Berlin die meisten postumen Ehrungen der

Widerstand Leistenden erhalten, der Platz, eine Straße,

ein Park, eine Schwimmhalle, eine Bibliothek sind nach ihm benannt,

und ein Ehrengrab, in Niederschönhausen, wird von der Stadt

auch unterhalten, aber um einen Wettbewerb geht es da natürlich nicht.

In Plötners Bäckerei und Cafe sitzen derweil

Dutzende von würdigen Damen in schickem, altbackenen Plunder

bei dünnem Kaffee und dickem Kuchen

und plaudern miteinander als wäre die Welt in Ordnung

und der Sonntag für die Ewigkeit.

Die Dämmerung schickt sich an, langsam zu fallen und

en passant im Park das Blau der Sitzbänke zu verschleiern,

das maritimste Blau, das du je sahst und in dem du gern

für immer verschwimmen würdest.

20.11.2022


PANKOW

Kennenlernenswert ist diese Hündin,

deren Name zum Schutze ihrer Persönlichkeit

nicht veröffentlicht und deren Aussehen

aus selbigem Grunde nicht beschrieben

werden kann; wäre Venus ein Hundename,

würde er zur ihr passen.

Ihr Zuhause ist die tschechische

Bierstube „Prager Frühling 1968“,

die auch eine Kunstgalerie und ein Museum

für tschechoslowakische Film- und Gesangskultur

der Nachkriegsgeschichte ist,

obendrein ein begehbares Kunstwerk.

Meist sitzt sie hinterm Tresen auf einem

Barhocker mit Lehne, sitzt auf ihrem Hinterteil

und hat die Vorderbeine durchgestreckt und

beobachtet genau, was alles ihr Lebenspartner

am Zapfhahn gelehrig verzapft. Das Sitzpolster

hat sie mit ihren Krallen zerrissen.

Ihr Lebensgenosse behandelt sie scheinbar wie Luft,

doch als er einmal auf Slowakisch etwas sagt

(sie versteht nur diese Sprache),

springt sie vom Hocker herab, dreht eine Lokalrunde

und streckt die Beine durch und gähnt.

Währenddessen vertilgt ein Gast am Tresen

mit größter Befriedigung zwei „Ertrunkene“,

süß-sauer eingelegte Brühwürste,

bei deren bloßem Anblick dir fast weh ums Herz wird,

und schaut nebenher am aufgehängten Bildschirm

das Freundschaftsspiel Türkei versus Tschechien an,

die es beide nicht zur Fußball-WM nach Katar

geschafft haben. Die Hündin schaut nicht ein Mal

zum Fernseher hoch, als wäre der überhaupt nicht existent,

anscheinend interessieren Hunde sich nicht

für Fußball. Die Hündin schließt schläfrig die Augen.

Treten Stammgäste herein, springt sie

ihnen entgegen und nimmt Streicheleien

entgegen, als wären sie die Eintrittsgebühr,

die sie zu entrichten hätten. Eine junge Deutsche

mit langen goldenen Haaren drückt und streichelt

die Hündin auf liebste Weise gute zehn Minuten,

sie verpaßt ihr sogar einen Kuß in den Nacken.

Sind die Plätze im Schankraum besetzt, geht die Hündin

umher und stellt sich an den Tischen neben die Gäste

und wartet, wartet nur kurz; denn die wissen, was sie

zu tun haben: sie streicheln. Die meisten Streichler

streicheln auch ihre Ohren und zupfen fast daran,

das scheint ein Höhepunkt des Genießens für die Hündin zu sein.

Wenn sie sich dann auf den Hintern setzt

und die Brust rausstreckt, deutet sie an, man solle

noch mit sanften Strichen ihre Brust behandeln.

Es ist diese Bierstube der Massagesalon der Hündin.

19.11.2022


NIEDERSCHÖNHAUSEN

Ein unerwartet früher Wintereinbruch,

oder ein Vorspiel des Winters,

ein Vorbote doch, mit halbtaglangem,

kräftigem Schneefall. Anfangs, am Vormittag,

allerdings hat es nur leicht geflockt,

das Flocken war ein langsames,

fast schien es, als wollte es sein Tun

wieder einstellen, ehe es gegen Mittag

den Beweis antrat, dies doch nicht tun zu wollen.

Nach und nach wurde es immer stärker,

bis es schließlich noch und noch

herunterfiel, ein Vorhang, der das Panorama,

die Stadt verschleierte. Du gingst durch die

Heinrich-Mann-Straße, an einer Bushaltestelle

stand eine alte Frau unter dem Dach,

mutmaßlich den Bus erwartend oder auch nur

darauf wartend, daß der Schnee aufhörte.

Der hörte aber nicht auf, und links und rechts

verloren sich Wohnstraßen mit ihren sittsamen,

sattsam bekannten Familienhäusern,

und der Heinrich-Mann-Platz, das große Rondell,

in dessen Mitte die Bäume sich dem Treiben

entgegenbäumten, schien dir ein guter Platz

zum Tanzen, und die Flocken tanzten auch.

Nördlich der Hermann-Hesse-Straße

lag die im Schnee schon entrückte

Schönholzer Heide, und während du gingst

und der Schnee unter deinen Schuhen knirrte,

bemerktest du, wie die Flocken dich kleideten,

ein Schneepelz hat sich um dich gelegt.

Es war Nachmittag, und im beständigen Schneefall,

Myriaden von weißen Kristallen, die herniederschwebten,

war das Licht gefiltert. Du betratst den Wald,

seitlich auf einem hügeligen Weg gingen Menschen

mit einem Hund, aber du konntest sie nur hin und wieder

sehen, hinter dir schritten zwei schneegefiederte Frauen,

eine Wiese, schneebedeckt, lockte zwei Kinder,

auf ihr eine Kugel zu bauen, der Vater vereiste

stumm daneben. Jenseits der Germanenstraße,

durch die gerade ein Bus Schnee

von der Straße pflügte, gingst du durch die Lindenallee,

die zum Sowjetischen Ehrenmal führt.

Du gingst in es hinein und gingst in ihm umher,

während dich die Furcht beschlich,

das Tor könnte vor der Zeit geschlossen und

du eingeschlossen werden mit 13200 Toten,

in der Schlacht um Berlin gefallenen

und in Gefangenschaft gestorbenen Rotarmisten,

die ihre letzte Ruhe hier gefunden haben.

Die Anlage ist voll Ernst, Pathos, Emphase;

der als Helden geehrten, ihr Leben gegeben habenden

Männer und Frauen gedenkt die „sowjetische Heimat“,

die sowjetische Übermutter für immer.

Und dir fiel das Anti-Kriegsmuseum von Ernst Friedrich ein,

Friedrich ein paradox passender Name

für einen, der nach der Devise „Krieg dem Kriege“ verfuhr,

in der Parochialstraße 29 in Mitte, einen Schneeballwurf

von der Klosterstraße entfernt, unweit der Spree,

hat er es 1923 eröffnet, ehe es, zehn Lenze später,

die Nazis verwüsteten, und an dessen einstiger Stelle

eine Gedenktafel an es erinnert, neben der rechts und links

an je drei Ketten zwei Soldatenhelme kopfüber

als bepflanzte Blumenampeln hängen.

Es ist dies eine andere Form der Losung

„Schwerter zu Pflugscharen“: Helme zu Blumenampeln;

diese „Skulptur“ provoziert, sie ist lächerlich, ist humoristisch,

ist poetisch, und sie löckt gegen das todernste Pathos.

Eine solche Skulptur wäre hier auf dem Gelände dieses

Ehrenmals undenkbar, schon der Begriff Ehrenmal ist von

einer musealen Antiquität, daß ihn heute niemand mehr

ohne Not in den Mund nehmen würde.

Andererseits, wenn die Sowjetarmee allein

in Berlin rund 80000 Soldaten „opfert“, dann ist es nach der Schlacht

gleichsam natürlich oder geradezu zwingend, die Gefallenen

zu begraben und ihnen ein ihnen Ehre erweisendes Andenken

zu verschaffen. Die Überlebenden sind das den Toten schuldig.

Jesu Wort in Matthäus 8, 22, die Toten sollten ihre Toten selber

begraben, haben sie sich nicht zu eigen gemacht.

Freilich, vielen der gefallenen Soldaten wäre es womöglich

lieber gewesen, zuhause bei den Lieben

ein „unheldenhaftes“, doch langes Leben zu führen,

anstatt hier gleich einem sowjetischen Achilleus

unverwelklichen Ruhm „zu genießen“.

Das Schicksal aber, das Zeitalter,

in das du hineingeboren wirst, reißt dich,

ob du es willst oder nicht, mit in seinen Schlund,

du kannst versuchen, es zu fliehen, oder

den Kampf annehmen, nach dem du nicht

verlangt hast; ob du am Ende durchkommst,

weiß nur die Zeit, die es an den Tag bringt.

Frei ist der Mensch immer nur bedingt, die Eltern,

das Land, die Epoche, wohinein du geboren wirst,

reden immer wenn auch schwer zu deutende Wörtchen mit,

bei allem, was du tust. Was du aber tust, tu tunlichst

tunlich.

19.11.2022


MALCHOW

Anders als Wilhelm I., König in Preußen,

kommst du nicht von Niederschönhausen,

vom Schloß her nach Malchow, sondern von

Neu-Hohenschönhausen aus, am Hechtgraben

entlang, auf des Schusters Rappen, ohne Kutsche.

Der Hechtgraben führt Wasser zum Malchower See,

von dem gelangt es über den Fließgraben zur Panke

bei Blankenburg. Der König und seine Gemahlin

Sophie Charlotte kamen häufiger hierher,

um den eminenten Minister Paul von Fuchs zu besuchen,

sie taten das auch an einem Tag im August 1704,

als der Reichsfreiherr verstarb. Ein Todesfall,

der den Kutscheninsassen auf halber Strecke

zugetragen wurde. Sie machten wieder kehrt,

mutmaßlich betroffen. Leidenschaftlich aufgeräumt,

wohlorganisiert, umsichtig war der 1640

in Stettin geborene Fuchs, erwarb das Gut

von Herrn von Barfus, ließ es ausbauen,

errichtete und renovierte Wirtschaftsgebäude,

darunter ein Brauhaus, ein Predigerwitwenheim

und ein Armen- und Waisenhaus.

Im Wohnhaus gab er, Brauhaus verpflichtet,

feuchtfröhliche Feste. Heute arbeiten hier

von Genußgiften Erkrankte auf nüchterne Weise

an ihrem Weg ins normale Leben,

sie üben es jeden Tag, nennen es den „Tunnel zurück ins Leben“,

in der Formulierung klingt sprachlich das Register des Religiösen an,

als gehe es darum, aus der Hölle der Sucht

über das nüchterne Fegen zurück

in die lichte Freiheit zu finden,

eine Erfahrung des Transzendierens, des Überschreitens,

um in ein friedliches Reich zu gelangen,

sich selber zum Reichsfreiherr über das Leben zu erheben.

Du gehst ein Stück auf dem Max-und-Herta-Naujocks-Weg,

benannt nach dem Ehepaar, das seit 1943 in seiner Hütte

in der Kolonie Wiesenhöhe die jüdische Familie Weiss

versteckt hielt, Mutter Regina und Tochter Ellen überlebten,

Vater Moritz nicht, er wurde bei einem Ausflug nach Berlin „erwischt“.

Der Malchower Teichweg bringt dich zum Wartenberger Weg,

der verkehrsreichen Straße, rasende Autos und Schwerlaster,

aber was heißt rasend, wer rast denn, rasend macht es die Insassen,

wenn jemand vor ihnen zu langsam fährt, dann hupen sie

und überholen die Ente. 30 km/h sind vorgeschrieben

was freilich keinen bekümmert, sie sind, scheint es,

Anhänger des Privatismus, die sich vom Staat,

den sie ablehnen oder dem sie längst die Gefolgschaft

gekündigt haben, nichts vorschreiben lassen.

Wer hat das Recht, mir zu sagen, wie sehr ich das Gaspedal

durchdrücken darf? Sie rasen und gasen an der Kolonie vorbei,

in der die Naujocks die Bedrohten versteckten,

je höher die Geschwindigkeit, desto weniger siehst du

die Details der Umwelt. Die uralte Eiche nebenan

im Bruchwald liegt frisch gefällt, liegt da wie ein Riese, tot.

Im Wald steht auch ein Gedenkstein für den 1934 abgestürzten

„Kunstflieger“ Günther Fries, ein Junge aus dem Dorf,

alt zwanzig Jahre, auf dem Friedhof liegt er,

die halsbrecherischen Loopings, die er flog,

waren am Ende genau das.

Auf dem Friedhof, neben den Ruinen

der im April 1945 wie die beiden Kirchen

in Wartenberg und Falkenberg von Deutschen

gesprengten Dorfkirche, in deren einstiger,

längst zugeschütteter Gruft die Fuchsschen

Überreste ruhen, hörst du ein Pferdewiehern,

es kommt vom Pferdehof nebenan,

und du bist ihm dankbar, weil es dir das Gefühl

verschafft, unter Menschen zu sein.

Im Pfarrhof hängen drei Kirchenglocken

in einem schlichten Holzschutzbau. Daneben die neue,

schmucklose Kirche. In den Blick dreht sich von Osten her

ein riesiges Windrad. Der von rührigen Naturen

herausgeputzte Naturhof Malchow bekommt

jedes Jahr feierlich erwarteten Besuch:

die aus dem Süden zurückkehrenden Störche.

Die stören sich offenbar nicht an den Hochspannungs-

leitungen, die niedrig über das Dorf gespannt sind.

An der Dorfstraße steht einsam ein Obst- und

Gemüseverkäufer an seinem Stand, und eine

gehbehinderte Frau, aus dem Bus gestiegen,

muß einen hundertemeterlangen Umweg zur Ampel machen,

weil sie über die Straße nicht kommt. Vielleicht ist ihr das so lieber,

als durch beherztes oder wagemutiges Überqueren

den Verkehr zum Einhalt zu zwingen.

30.3.2022


WARTENBERG

Neben dem einst sichtbar mit Hang zur Feinheit

und mit Hoffnung auf eine Zukunft hier betriebenen,

jetzt verwaisten, vom Benzinnebel

des Verkehrs unbehelligt vor sich hin verfallenden

Hofladen an der Dorfstraße befindet sich

ein Schaukasten aus Glas.

In ihm waren früher Mitteilungen, Angebote,

Zeiten zu lesen. Jetzt ist es dem am Wegrand

wuchernden Brombeerstrauch gelungen,

die Umrahmung des Kastens

am unteren Rand zu öffnen

und sich mir nichts, dir nichts

in den Schaukasten zu stehlen.

Da sind jetzt keine

Informationen mehr zu lesen,

sondern Brombeeren hinter Glas.

Wobei die Brombeeren hinter Glas

selber auch Informationen preisgeben.

Zum einen etwa die, daß die Natur

irgendwann wiederkehrt

und es dem von teuflischem

Ausbreitungs- und Ausbeutungsprinzip

gerittenen Menschengezücht

nicht gelingen wird,

sie auf Dauer zu zähmen.

Zum anderen, daß auch Brombeeren

sich irren und verirren können. Denn in dem Kasten

machen sie jetzt doch eine unglückliche Figur.

Und während der zehn Minuten, in der es dir

nicht gelingt, die Straße zu überqueren,

fragst du dich, was Fortschritt heute

noch bedeutet. Was hatte dieses Dorf,

dessen uralte Gehöfte und Häuser

noch passabel erhalten und an sich

nicht unansehnlich sind, davon, im Jahr 1920

nach Berlin eingemeindet worden zu sein?

Im Grunde gibt es das Dorf nicht mehr,

auch wenn einige Bauwerke noch stehen.

Das einzige, was hier herrscht, ist der Autoverkehr.

Es ist dies ein Fortschritt, der mit Verlusten

einhergeht. Wahrer Fortschritt wäre womöglich

einer, der das Wahre, Schöne Gute fördert,

ohne gleichzeitig Leichen zu scheffeln.

Das Auto an sich hat zwar etwas praktisches,

wenn es dich bei Regen trockenen Fußes

von A nach B bringt, und das auch

schneller, als mit der Postkutsche.

Wenn du aber während der Fahrt nicht aufpaßt,

und jemand kommt zu Tode,

was hast du dann vom Praktischen?

Gibt es also überhaupt Fortschritt?

Oder ist der immer dialektisch?

Liegt im Leben selbst vielleicht etwas

tragisches in dem Sinne, daß egal,

was du tust, dies immer auch ungewollt

schlechte Wirkungen hervorbringt?

Wenn du jetzt zu Fuß hinaus in die Feldmark

gehst, dann verbrauchst du, ähnlich wie ein Auto,

Energie, du wirst müde und mußt dich

auf diesen Markstein da setzen und warten, bis

du wieder zu Kräften kommst. Wo bekommst

du aber die Energie her? Irgendetwas mußt du essen,

vielleicht dieses Tier? Das wird damit nicht

einverstanden sein. Du gehst hungrig zurück

zum Dorf und weißt, es ist nicht einfach,

keinen Fußabdruck zu hinterlassen. Das ganze

Leben ist ein beständiger Wettkampf

um Ressourcen, um Waffenherstellung, um Wissen,

um Anwendung, um Fortpflanzung,

um Geschwindigkeit, der frühe Vogel fängt den Wurm,

wer zuerst kommt, mahlt zuerst, Redewendungen,

geronnenes Alltagswissen, und gegenüber

dem Bahnhof von Wartenberg betreibt ein Pole

einen Imbißstand, an dessen Biertisch

vier Deutsche hängen und Bier trinken,

sie wirken so, als würden sie auf nichts

mehr warten, nichts mehr von sich erwarten,

sie erwarten höchstens die staatliche Stütze,

um im Suff glücklich die letzten Jahre,

wenn es solche sein werden, abzusaufen,

und am Bahnsteig wartet die hier einsetzende

S-Bahn Richtung Warschauer Straße, junge

Leute steigen ein in Erwartung einer Party,

die sie in den Kiezen von Kreuzberg und

Friedrichshain feiern werden. So geht alles

seinen Gang, und am Ende

wird nichts mehr so sein,

wie es nie gewesen ist.

14.11.2022


FALKENBERG

Angesichts der Grabestafel der Eltern

der Gebrüder Humboldt,

Marie-Elisabeth und Alexander Georg,

beide starben in ihren Fünfzigern allzu früh,

das an einem Mäuerchen

bei den Überresten der einst

aus Feldsteinen gebauten Kirche

angebracht ist, denkst du nolens volens,

wie es angebracht ist,

auch an ihre Söhne, die nicht allein älter

als die Eltern wurden, sondern auch

die aufgelesenen Früchte ihres Geistes

rechtzeitig ins unsterbliche Feld

umzubetten verstanden

und auf die Weise weiter mehr oder weniger

schmackhafte Früchte in den Köpfen

der nach ihnen Lebenden wachsen

und reifen lassen können,

eine Strategie, ähnlich verfolgt auch

vom alten Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,

der, wie Fontane es beschrieb,

vor seinem Abscheiden beschied,

man möge ihm eine Birne mit ins Grab legen,

damit „er“, in insgeheimer Voraussicht,

Jahre später, wenn aus der Birne

ein Birnbaum gesprossen sei, wie zu Lebzeiten

den lütten Kindern Birnen schenken könne.

Der Kirche Stündlein freilich

schlug am 21. April 1945,

kurze Zeit bevor die Rotarmisten das Dorf erreichten.

Die über 700 Jahre alte Kirche

mit ihrem Turm sollte der Sowjetarmee,

heißt es, nicht zur Orientierung

bei etwaiger Beschießung dienen.

Genau gleich erging es den Kirchen in den

Nachbardörfern Wartenberg und Malchow,

Gottes Häuser, pulversiert, Gott ein Obdachloser,

vorübergehend, solange, bis man ihm wieder

eine Unterkunft errichtet, sein Obdachlosenheim.

Weil gleichwohl alles seine Ordnung

haben muß, weist am Eingang

ein Schild die Nutzer des Friedhofs

darauf hin, daß der Abraum zur Abraumstelle

zu bringen sei, und daß ungepflegte Gräber

eingeebnet würden. Der Abraum. Was versteht man

darunter? Jeder hat ihn vielleicht im Kopf, den Abraum,

alten Plunder, den man zur Abraumstelle bringen sollte,

die in dem Falle das Vergessen meint.

Glücklich, wer vergißt, was nicht zu ändern ist.

Zu der einen Zeit sprengen dem „totalen“ Krieg

verschriebene Nazi-„Fanatiker“ die Kirche in die Luft,

wie im ganzen „Reich“ andere gleiches

oder auch anderes, Brücken zum Beispiel,

um doch nicht zu retten, was nicht zu retten ist;

denn damit in der Gefahr das Rettende wächst,

hätte man bekanntlich zwölf Jahre zuvor

den ganzen Braunhemdenladen, und nicht

die Kirchen und Brücken, sprengen und ihre „Hüter“

zum Teufel beziehungsweise in die Luft jagen und somit

dem Rettenden Raum verschaffen müssen.

Zu der anderen Zeit ebnet man, auf einer kleinen,

dem Alltag zugehörigen Verwaltungsebene, die Gräber ein,

wenn Angehörige nicht wissen, was Pflege ist.

So hat alles seinen Sinn beziehungsweise Unsinn.

Und du ziehst weiter, gehst am Rande der Straße

und erlebst, wie der Durchgangsverkehr

das Dorf unter sich begräbt, desertierst in den

einstigen Gutspark der Frau von Humboldt,

in dem heute allein noch Bäume leben,

gehst weiter hinaus zu den Rieselfeldern

und dem Horizont ins offene Messer.

14.11.2022


RUMMELSBURG

Abends um sechs, draußen ist es längst finster,

erklingt in der Erlöserkirche

an der Nöldnerstraße mit Chor, Solisten und Orchester

im Gottesdienst die Bachkantate Bach-Werke-Verzeichnis 39

„Brich dem Hungrigen dein Brot“.

Es sind, neben antikeren Semestern,

etliche blutjunge, elaboriert-filigrane und herzensfröhliche

Christenmenschen erschienen, so daß du vorsatzlos denkst:

„Das ist das Christentum“, und nicht

jene Ausfertigungen, die in den „Medien“ geistern

mit ihren allzu oft zeitgeistlichen Einlassungen

und ihren cum grano salis grimmigen Mienen.

Und als der Chor zu singen beginnt,

hebt dich die voluminöse Gegenwart der Stimmen

fast aus der Kirchenbank heraus, und du fühlst

dich in dieser warmen sinnlichen Nähe

und in den Händen dieser sanftesten Gewalt

geradezu begütigt. Was wäre ein Gottes-,

nein: laß Gott beiseite,

was wäre ein Seligmachungsbeweis,

wenn nicht diese Kirchenmusik?

13.11.2022


ALT-HOHENSCHÖNHAUSEN

Aufzustehen, fällt dir manchmal schwer,

an grauen Tagen zumal;

das fällt dir auf, und schon gehst du

leichter, von der deutschen Sprache

mit einem Stromstoß belebt,

hinaus, in den Straßenwald hinein.

Im Sportforum kannst du weiter staunen

über die leichte 50er-Jahre-Eleganz

der Sporthalle, wie ein Banner

mit diesem einen Wort sie bezeichnet,

serifenlos. Und du gehst selber

serifenlos weiter durch den Tag, befreit von allem,

was ansatzweise Ornamenten gleicht.

Die unterschiedlichen Sportarten, hier ausgeübt

auf fünfunddreißig Sportanlagen,

von der Schwerathletik zur Leichtathletik,

von Ballspielen zum Kunstlauf in der Eishalle,

wo Mädchen ihre Eisballerina-Pirouetten

einüben, während Kati Witt ihnen

über die Schulter schaut,

haben eine ansteckende Wirkung auf dich,

du kannst dich dem Belebungsfeld nicht entziehen,

und wo drüben neben der Schwimmhalle

die Olympiaschwimmer im Strömungskanal

trainieren, springst du mit ihnen ins Wasser.

Hinter der Mauer liegen die Friedhöfe

der lokalen evangelischen Gemeinden,

es ist die Mauer für die Ewigkeit, die niemals fällt

und welche die Ruhe der Toten schützt.

Auf dem weiteren Weg, es ist schon fast dunkel,

ein fernes Blau nur ist über dem Jüdischen Friedhof

noch zu sehen, passierst du den Betriebshof

in der Indira-Gandhi-Straße,

und an den über hundert Ladesäulen,

hintereinander und nebeneinander gestaffelt,

leuchtet ein grünes Licht. Daneben stehen die Elektrobusse

und saugen im Schlaf den Strom

für die Fahrt am nächsten Tag.

9.11.2022


FRIEDRICHSFELDE

Der für Passanten schier unüberquerbare

Boulevard Alt-Friedrichsfelde,

aus den Bundesstraßen B 1 und B 5 bestehend,

von Wohnhochhäusern links und rechts steilwandig begrenzt,

tost vor Auto- und Lastwagenverkehr.

Du weißt nicht, warum du dieses Tosen

und Rauschen, unaufhörlich, in beide Richtungen,

nach dem Osten, Polen und Rußland zu, nach dem Westen,

dem Zentrum und Aachen und Dänemark zu,

nicht schön oder gar erhaben finden kannst,

so wie du das Rauschen und Tosen der Iguazu-

Wasserfälle an der Grenze zwischen Brasilien

und Argentinien schön und erhaben findest.

Könntest du dieses Tosen und Rauschen hier,

von menschlicher Technik hervorgerufen,

nicht womöglich sogar schöner und erhabener finden?

Die Wasserfälle sind natürlicher Abläufe Resultat,

das im Zuge der Erdgeschichte sich aufgrund

bestimmter physischer Bedingungen ergeben hat.

Zu bestaunen in jedem Falle. Aber der Mensch,

der Erfinder der ganzen technischen Mitwelt,

vom Rad über das Auto bis zum Flugzeug,

was hat nicht er alles, freilich auch unnützes

und gar schädliches, der Erde bewußt hinzugefügt?

Sind der Krach, der Lärm, das Tosen und das Rauschen

dieser nicht-natürlichen Klangsphäre,

jahrmillionenlang undenkbar, unhörbar,

nicht auch Ausdruck seiner beispiellosen Gabe,

die Erde selber, nach Wunsch und Wille,

wenn auch nicht immer nach

langfristig klugem Plan, zu gestalten?

Erscheint dir das, so gesehen,

nicht ungleich beeindruckender

als die Wasserfälle im Urwald?

Hier stehst du mitten im von Menschenhand

erbauten Felsen-Wald der Wohnhochhäuser,

und vor deinen Augen

rauscht und rollt und blitzt

der andauernde Strom

des automobilen Lebens.

8.11.2022


LICHTENBERG

Julia

Graureiher, du stehst seit Stunden

aufrecht auf der halbrunden Brüstung

des Terrassenbalkons am Stadtparkteich

und wartest, selbst wie versteinert,

doch hellwach, auf deinen Romeo,

wollte er auch nur als Fisch erscheinen.

Du würdest dich, um alles in der Welt,

sogleich auf ihn stürzen

und ihn verschlingen,

so ihr vereinigt werdet,

Hochzeit feiert.

Wann taucht er

durch den Spiegel

des Unbewußten auf?

Wann findet der Umwandlungs-

und Austauschprozeß statt,

nach dem du dich sehnst?

Du wartest auf den Moment,

in dem es auf alles ankommt.

Es ist ein Warten der Camouflage.

Romeo soll überrascht werden,

wenn du zu ihm hinunterpfeilst.

Amors Pfeil, dein Pinzettenschnabel,

Liebe eine Operation am offenen Herzen.

7.11.2022


FRIEDRICHSHAIN

Jeder Hund hat seine Biographie.

Auch der auf dem Balkon

in der Krossener Straße 22, 2. OG rechts,

den du im Vorbeigehen bemerkst.

Es handelt sich um einen mittelgroßen,

blondfelligen Familienhund.

Welcher Rasse er angehört, weißt du nicht,

wenn es auch für die Hundekenner

angebracht wäre, das zu wissen.

Jedenfalls hat sein Herr und Diener

aus der Balkonbrüstung zwei Segmente entfernt,

damit er besser das Treiben auf dem Platz

beobachten kann. Der Platz ist nach der einst

hier befindlichen Ansiedlung Boxhagen benannt.

Was dem Hund, der flach auf dem Balkon liegt,

mit der Schnauze nah am Abgrund, durch den Kopf geht,

wenn er die sonntäglichen Trödelmarktbesucher sieht,

weiß selbstredend niemand.

Sollte er jedoch den Grüffelo kennen,

das Ungeheuer aus dem gleichnamigen Kinderbuch,

das kratzige Klauen, herausstehende Zähne, spießige Hörner,

Stacheln am Rücken, beleuchtete Augen und eine narbige Nase hat,

dann denkt er vielleicht: Dort unten haben Hunderte

von menschlichen Grüffelos sich versammelt,

mit ihren Tätowierungen, ihren mit Stiften und Ringen durchbohrten

Lippen, Nasen, Wangen, Ohren, ihren lackierten Fingernägeln,

geschminkten Augen, vernarbten Nasen und ihren Lederjacken mit Stacheln.

Via Gärtnerstraße gehst du die Modersohnstraße hinauf

und über die nach diesem Sohn des malerischen Moors

benannte Brücke, unter der die Züge nach dem Osten rollen,

und während der Tennisclub den dich immer beschwichtigenden Klang

aufspringender Tennisbälle vermissen läßt,

kotzt nebenan auf dem Rudolfplatz ein mongolischer Vater

sich die Seele aus dem Leib.

Besorgte deutsche Spielplatzmütter alarmieren

die Rettungssanitäter, die auch bald erscheinen,

sich jedoch sprachlich mit ihm nicht unterhalten können.

Sie können kein Mongolisch und er kein Deutsch.

Wie bei einem Säugling, der nicht sagen kann,

wo's brennt, oder wie bei einem Hund, der nur

stumm leiden kann, ohne dem Veterinär seine Schmerzen

beschreiben zu können, bleibt nichts anderes übrig,

als im Krankenhaus mit Hilfe der Apparate

des leidenden Menschen Problem

zum Sprechen zu bringen.

In der Zwinglikirche räumen nach ihrem Worship

die herausgeputzten Musiker

ihre Instrumente und Mikrophone zusammen,

die Männer im Sonntagsstaat,

die Frauen in bonbonpapierbunten Kleidern

und mit Hüten in der Form von Orchideen-Blüten.

Auf der längsten Sonnenbank weit und breit,

am rechten Ufer der Spree zwischen Elsenbrücke

und Oberbaumbrücke, am ehemaligen Osthafen,

sitzen, liegen und spazieren derweil die Sonnenhungrigen

und feiern auf ihre Art jenes himmlische Phänomen,

dem sie ganz offensichtlich innig zugetan sind,

und das sie mit Licht und Wärme speist.

6.11.2022


KREUZBERG

Lastenrad

Es ist ein trüber

regnerischer Nachmittag

im November,

die gefallenen Blätter

haben sich zu einem

glitschigen Matsch vereinigt.

Du gehst die Oranienstraße hinunter

wie seit Jahren immer wieder

und ziehst dich in die Jacke

zurück, der Kälte zu entgehen,

und denkst an Orange, ans Amphitheater

mit den mächtigen Steinen,

in dem du mit der Liebe,

in der Hitze vergehend,

vor dem inneren Auge

die Schauspieler deklamieren hörst.

Dem Kunsthaus Bethanien gegenüber,

wohin du das Kind zum Flötenunterricht

bringst, reihen sich die Türken

zu einem Hochzeitscorso auf,

Limousine an Limousine,

Hunderttausende Euro schwere Karossen,

ganz vorne ein zitronengelber Lamborghini,

die Männer in ihren sie einquetschenden Glanz-Anzügen

stehen beieinander und stecken sich Zigarillos an,

auf der Motorhaube ein üppiger weißer Blumenstrauß.

Manteuffelstraße, Pücklerstraße, untergegangene

preußische Politiker- und Landschaftsarchitekten-

Herrlichkeit, wann werden die Straßen umbenannt?

Es ist nur eine Frage der Zeit,

scheint es, wie überhaupt alles untergeht

oder dem Willen der momentan

herrschenden Bestimmer unterworfen ist.

Dir schwindelt, fast fällst du hin,

und du rettest dich in die Markthalle Neun und legst dich

auf einer Bierbank schlafen, unweit des Meckatzer Tresens.

Es ist mollig warm hier herdrinnen.

Dänische Touristen und Männerpaare

schlendern umher, und die Kaffeetüten verkaufende

junge Frau steht ganz alleine, kundenlos, stoisch

hinter ihrem Tresen. Vorbildlich steht sie in ihrer ganzen

Grazilität da, eine lebende Pallas Athene.

Du ziehst weiter, ausgeruht, und vor dem Haus

von Paula Wendt am Lausitzer Platz 10,

der Gerechten unter den Völkern,

die mit ihrer Schwester Ida und ihren Arbeitgebern,

dem Ehepaar Wiegel, in der Nazi-Zeit

Juden geholfen und sie in ihrer

Einzimmerwohnung versteckt hat,

probiert eine junge Mutter

ein elektrisches Lastenrad aus, und

ihr Mann und ihr Kind schauen von der Seite ihr

dabei zu. Sie sagt aufgeregt: „Das ist

echt gewöhnungsbedürftig“ und du hörst dieses

bekräftigende Beiwort „echt“ und fragst dich,

was für dich echt gewöhnungsbedürftig sei.

Das Leben selbst? Das Sterben,

das unmögliche, alltägliche?

Immer geht im Leben etwas vorbei.

Es sind die Tode im Leben,

an die du dich gewöhnen mußt.

Menschen sind Passagiere der Zeit.

Sie passieren einander,

du selbst bist ein Passant,

und da ist die Passantin, die du

wie in Baudelaires Straßenszene

geliebt hättest. Das Vergängliche,

das Unwiederbringliche, das Verlorene,

die flüchtige Zeit, es ist, als könntest du

diesen dich zeichnenden Erscheinungen

und Lebenstatsachen

niemals entrinnen. Möglich, weil du

von Anfang an selber

vergänglich, unwiederbringlich,

verloren und flüchtig bist.

Kaputte, bettelnde Gestalten am Eingang

zum Hochbahnhof Schlesisches Tor passierend,

gehst du um 16.38 Uhr,

wie die Bahnsteiguhr zeigt,

Richtung Westen und siehst über den Gleisen

einen Abendhimmel leuchten,

als wäre er eine begehbare

Lichtinstallation von James Turrell,

eine Raum-in-Raum-Verblendung,

ein Ganzfeld grenzenlos,

und du gehst in ihn hinein

und gehst und gehst immer weiter

und findest dich am Ende

selbstverloren

nicht mehr wieder.

4.11.2022


TIERGARTEN

Versunken im Großen Tiergarten,

wo die Baumriesen

ihre Garderobe

in magnetischen Farben

den angezogenen Augen

präsentieren und wo

abgestoßene Blätter

in der Luft zerflattern,

tauchst du wieder auf.

Wünschen die Waldschlackse

insgeheim, daß Menschen ihr Farbenspiel

bewundern und sich so um ihr Wohlergehen

kümmern, und sei es allein, indem sie so,

verhext von ihrer Schönheit,

sie in Ruhe lassen?

Bussarde kreisen in der

aufsteigenden Luft

und verkünden mit ihren hohen Schreien

das Evangelium der

wärmenden Sonne.

Kleinkinder sitzen unten

spielend im Laub,

und wenn sie die Blätter in die Luft werfen,

schreien sie botschaftslos

vor Freude.

Die Bänke im Rosengarten,

schattenlos,

sind belegt von jenen,

die der Sonne

sich ausliefern,

ihrer Behandlung

des Gesichts.

Die Spuren der vergangenen Jahre,

zu entziffern auf den fazialen Urkunden,

sollen in der kosmischen Bestrahlung

ohne Skalpell verblassen.

Der Mensch strebt nach

Alterslosigkeit.

Eine Libelle fliegt herbei

und setzt sich auf den Handrücken,

offenbar, um sich gleichfalls

zu sonnen. Ein Gärtner harkt hinter der Hecke,

und von der Straße des 17. Juni

dringt der kaum aufhörliche Strom

des Autoverkehrs.

So hört die Zeit auf, zu fließen.

Erst als die Sonne sinkt

und die Schatten wachsen,

werden jene auf den Bänken

an die Zeit erinnert,

die durch sie selber fließt.

Sie stehen auf

und gehen,

lassen die Leerstellen zurück,

die Zeichen, die von ihnen erzählen.

Glänzen durch Abwesenheit,

Gräber, Zeichen,

Zeichen des Glanzes

der so Anwesenden.

20.10.2022


LÜBARS

Die Pferde adeln das Dorf.

Ihr Wiehern soll

den Zaun entriegeln,

als wollten sie

mit dir durchgehen,

dich behutsam küssen,

und schon siehst du dich,

geschwind zu Pferde,

mit ihnen über die

Barnimer Dörfer fliegen.

Das nördliche Grenzdorf

Berlins mit seinem Anger,

der die Kirche umschließt,

und dem Krug und dem Tanzsaal,

ist das geographische Pendant

zu Marienfelde ganz im Süden.

Beide haben in der Nachbarschaft

künstliche Hügel,

heute geschützte Landschaften,

früher Müllberge.

Jenseits der wenigen

eiszeitlichen Wellen

der Landschaft

sind das die Hügel hier:

Trümmer, Abfall, Schutt, bewachsen.

Ein Findling liegt auf der Kirchwiese,

auf dem Acker von Bauer Rosentreter

1956 geborgen. Wer wird dich einmal finden?

Der Maulbeerbaum

an der Südseite der Kirche

wächst schon länger als zweihundert Jahre.

Friedrich II. von Preußen

hatte in wirtschaftlicher Rivalität

mit China seinen Untertanen

die Pflanzung und den Einsatz

von Seidenspinnern befohlen,

um von den Waren aus Fernost

unabhängig zu sein. Die Maßnahme

schlief dann wieder ein,

weil die Bauern wenig Lust auf die aufwendige

Haltung der Raupen verspürten; so stehts auf einer

Tafel in der Kirche. Aber der Gedanke, den Staat

unabhängig zu machen, von freiheitsfeindlichen

niederhaltenden Knebelreichen,

scheint prinzipiell klug zu sein,

unabhängig davon, daß auch der Preußenfritz

ein zynischer Soloherrscher war.

Es ist warm, sommerlich.

Die Felder stehen im Glanz.

Eine Reiterin prescht

an der hügelan

führenden Reihe

uralter Eichen

im Galopp vorbei,

ein Mann rennt mit einem zweiten Pferd hinterher,

er führt es am Seil und findet noch Zeit,

Hallo zu sagen.

Vom Plateau der Lübarser Höhe,

dem ehemaligen Abfallberg,

85,3 m über NHN,

läßt sich im Süden

der Fernsehturm, das Rote Rothaus,

der Potsdamer Platz, und von einer Stelle

weiter westlich aus, sogar das Schöneberger

Rathaus und das skelettierte

Hochhaus des Steglitzer Kreisels

sehen, die infame Investorenruine.

Wo früher die Bezirksverwaltung

verwaltete und eine öffentliche Kantine

unterm Dach die erschwinglichsten Tische

und das schwelgerischste Panorama bot,

sollen eines Tages Luxuswohnungen

einziehen. Nach Nordosten blickend

siehst du die höchste, mittlerweile begrünte

Berliner Erhebung, die ehemalige

Bauschuttdeponie der Arkenberge.

Westen zu befindet sich ein großer

Wiesenabhang in Richtung der

wie eine Kreidefelsenküste schroff einsetzenden

Großsiedlung des Märkischen Viertels

mit seinen zehntausende Menschen

beherbergenden Hochhäusern.

Am Fuß des Hangs lassen Kinder

und Erwachsene Drachen steigen,

ein Mann läßt von der oberen Hangkante

sein ferngesteuertes Modellflugzeug

gegen die Wellen kämpfen.

Der Wind wird stärker, das Laub

der Laubwälder leuchtet suggestiv.

Eine Eiche entläßt im Wind Eicheln und Blätter

und bombardiert die Spaziergänger damit.

Der Himmel am Horizont wird leicht schleierig,

und so verschwimmt die Sonne in ihm.

Zwei Gabelweihen stehen nördlich der Siedlung

Rathenow hoch in der Luft.

Die Blankenfelder Chaussee

eine goldene Laubwand.

Unter den Eichen sitzt eine junge Frau

und liest. Die Osterquelle blitzt.

Nach dem Hangmoor tauchen

die Mähwiesen auf, Futterareale für

die Störche im Juni.

Und so verlierst du dich

immer weiter gen

Tegeler Fließ.

17.10.2022


SCHÖNEBERG

Papyros

Da bist du wieder,

auf dem Insulaner,

auf tausendjährigen Trümmern

ausgebombter Häuser,

liegst neben der Sternwarte

in der unbewohnten Sonne,

nah der alten Umgebung,

fern vom neuen Ort,

an dem du nicht

heimisch geworden bist.

Am alten fühlst du dich

auch nicht mehr zuhause.

Wohin jetzt mit dir?

Es reihen sich goldene

Oktobertage aneinander,

wie sie goldener nicht

sein könnten. In ihnen,

ihrer Wärme, in den

Sonnenballaden, dem klaren

Licht und den fallenden

Blättern fühlst du dich aufgehoben.

Schwinden die Tage, orakelt

eine Stimme in dir, wirst du selber fallen.

Ein neuer, bezaubernder Einfall

wird dich, so hoffst du, auflesen,

wird dich aufheben, als

wärst du ein kostbares Blatt,

wert, in ein Buch gebettet zu werden,

wo es unter seinesgleichen

aufgehoben sein mag.

Aber kann man dich

lesen? Bist du ein

beschriebenes Blatt?

Mit den Jahren

wird aus jedem

unbeschriebenen

ein beschriebenes.

Und so, wie du dich

dem Leben verschrieben hast,

verschreibt sich auch das Leben dir,

verschreibt sich dabei auch.

Ins Buch der aufgelesenen Blätter

kehrst du eines Tages heim.

12.10.2022


MARIENFELDE

Als der letzte Gast am Nahmitzer Damm, auf Höhe der den Damm querenden Marienfelder Allee, deren Bäume hier abwesend glänzen, aus dem von Westen, von Nikolassee her gekommenen, noch im Stehen vom Dieselmotor rüttelnden Bus steigt, nachdem er zuvor vom Busfahrer ins Freie komplimentiert worden war, denn ihm war entgangen, das Ende des 112ers sei erreicht: „Mal herhörn, meene Ische, dit is Endhaltestelle, da müssen Se raushopsen. Oder wollnn der Herr wieder mit zurückejondeln? Kost aba zwee Mark extra, und ick weeß nich, ob Se die jerade beiham!“, da, in diesem Augenblick, umtost ihn der vorüber- und hindurchheulende Orkan, ihn in Gänze ergreifend, ein Krachgesamtwerk, hör-, sicht- wie riechbar: Alles kracht auf ihn nieder, kracht vorbei, schwebend, Autos, Laster, Menschen krachen allesamt, zerkrachen, als wären Menschen auch Laster, könnten es sein, belastender als die fahrenden, rollenden, Menschen, mit ihrem bloßen Aussehen, ihrer Anmutung, wie man sieht, spürt, wahrnimmt, die sie anderen zu verstehen geben, Krach schlagend, krachende, zerkrachte Existenzen, andere als die „üblichen“, sie erscheinen jeder für sich als ein Ausdruck von Krachsucht, versuchen auch, mehr oder weniger bewußt, die anderen mit ihrem Krach zu verkrachen. Als der gerade noch letzte Gast nun aber, gegenüber, einen von der Sonne beleuchteten Kiesweg, der in eine Kleingartenanlage führt, einschlägt - was verstünde man unter einer Großgartenanlage -, verläuft es, das Krachen, sich zügig, versickert, wird es still, Stille tritt auf, macht sich bemerkbar, stellt sich vor, sie stillt, beruhigt ihn, Menschen, von der Unruhe bewegt, gelangen, schlagen sie einen leeren Kiesweg ein, dorthin, wo die Unruhe in Ruhe umschlägt. Gehend, weiter gehend, eher ziellos, da ohne Karte und ohne Plan, allein die Wege führen, verführen ihn, leiten ihn auf ihren Wegen, gelangt er, Schritt für Schritt, in die Welt eines einst, heute nicht mehr, brandenburgischen Dorfangers. Es ist jener Teil, buchstäblich groß wirkendes Reich, das jetzt Alt-Marienfelde heißt, da in der Mitte des Dorfs, sofern anfänglich von Dorf zu reden ist, es war doch erst undörflich, vor achthundert Jahren, bauernhöflich wars, wo in der Mitte die Kirche ragt, gebaut aus rohen, sauber gemetzten Feldsteinen, seit dem Jahr 1220 oder 1240 nach der Zeitrechnung, das älteste erhaltene Gebäude der heutigen Stadt Berlin. Vor der Kirche ruht ein Teich, Löschwasser für die einstigen Anwohner, da ist die Kette aus Menschen, die notgedrungen darauf brennen, Eimer für Eimer vom Teich zum lichterloh brennenden Hof weiterzureichen, machtlos im Gefecht mit den wie immer unersättlich fressenden Flammen, Urbild der feuerspuckenden Drachen? Eine Frau steht am Kircheneingang, und sie ruft ihm zu, herzukommen. Sie führt ihn ins Innere, in eine weitere Stille, nicht nur weltabgeschieden, auch abgetrennt vom Dorf, es ist, als wanderte er in einer urzeitlichen Höhle mit dem Abbild Gottes an der Wand.

15.5.2022


HERMSDORF

Vom Platz, nach Frau Dr. med. Ilse Kassel benannt, damit gleichzeitig, vermittelt, auch nach deren Tochter Edith, Frau Kassel lebte von 1902 bis 1943 und wählte auf der Flucht, dem buchstäblichen Wegrennen vor dem Verhaftungsversuch durch die Gestapomänner, den Freitod in der Netze, die Tochter lebte von 1937 bis 1944, sie überlebte in der Netze und kam, nach einjährigem Aufenthalt in Theresienstadt, am 25. Oktober 1944 nach Auschwitz, vom Platz führt eine lange Straße den Hang hinab, die Wickhofstraße; die hat einen Schwung und erinnert die Spaziergängerin an eine in die Länge gezogene Sprungschanze, die obschon abwärtsführend in ihren Augen ein sie erhebendes Gefühl auslöst, so, als würde sie in die Lüfte getragen, dabei bleibt sie auf dem Boden stehen; allerdings fühlt sie einen Schwindel, den der gleichzeitig erblickte Abgrund auslöst. Während der Platz in ihrem Rücken „liegt“ beziehungsweise „ruht“, merkt sie: nie habe sie ein solches Kindergeschrei vernommen; Kinderstimmen sind normalerweise beruhigendste Musik in ihren Ohren, doch empfindet sie dieses Zetern der Kinder hier als nachgerade obszön; es ist auch kein übliches Spielplatzkindergeräusch, sondern es ist so, daß die Kinder unentwegt brüllen, sie sprechen gar nicht normal miteinander, sie schreien einander aus vollem Halse an, es ist ihr unerklärlich, auch auf dem benachbarten Bolzplatz schreien die schon fast jugendlichen Kinder unausgesetzt, während sie dem Ball hinterherhetzen, es ist als gäbe es keine andere Form des Sprechens als die des Schreiens, und obschon sie so umtost von diesen sie rundheraus zum Davonrennen animierenden Mißklängen kaum stehen bleiben kann, bleibt sie doch stehen und wendet den Blick nach rechts und sieht das stattliche Gebäude, in dem auch Frau Kassel gewohnt hat und das jetzt in diesem weichen Nachmittagslicht und dem Anlanden der Sonnenstrahlen auf dem Dach und in den Bäumen und den Zweigen und im Garten auf dem junggrünen Rasen verträumt („verträumt“? unwirklich?) im aufbrechenden Frühling, an einem Tag im April des Jahres 2022, vor Anker zu liegen scheint; es scheint dies wenigstens dann zu sein, wenn man bereit ist, Häusern die Fähigkeit zuzusprechen, vor Anker zu liegen wie Schiffe; Häuser sind doch wesentlich auf dem Festland verankerte Schiffe, und Baracken im Osten sind Galeerenboote, längst vom Sturm der Zeiten hinweg in die Tiefe gerissen. Sie denkt daran, wie sie vorhin noch auf dem kleinen dreieckigen Platz an der Ecke von Heinsestraße und Backnanger Straße in der Sonne zum Stehen kam und sich dabei überlegt hat, auf der Terrasse der Café-Feinbäckerei Laufer eine Pause einzulegen, aber sie beim besten Willen nicht sagen konnte, wieso sie eine Pause einlegen sollte. Eine Pause von was? Vom Leben? Aber das Leben geht auch in den Pausen weiter, man kann im Leben nicht pausieren, auf eine Pausetaste drücken wie bei einem historischen Dokumentarfilm, den man im Rahmen einer Aufführung sich zuhause anschaut. Du kannst eine Pause machen, aber nicht vom Leben, auch in der Pause bist du am Leben, auch in der Pause ist Leben, und was für eines, die Pause ist mehr als ein Span des Lebens, und wer weiß, vielleicht ist das Leben gerade in der Pause so sehr am Leben wie es anderswann nicht am Leben ist, wenn die Geschichte tobt, die „Geschichte“. Aber wer sagt denn, daß du nur dann, wenn du keine Pause machst, erst richtig lebst, vielleicht ist es doch umgekehrt, erst in der Pause kommt dein Leben zu sich, erst in ihr kommt es sich selber zu Bewußtsein, wird es sich seines Lebens, seiner selbst bewußt. Und überhaupt ist das Leben eine Pause von der Ewigkeit. Und jetzt ist sie nach Durchlauf durch die Schloßstraße hier gestrandet und macht doch eine Art Pause, sie hält freilich eher inne, als daß sie eine Pause macht, und denkt an das so freundlich und geradezu normal begonnene Leben der Ärztin Frau Dr. Kassel und von deren Tochter Edith, welche nie auf einem solchen Spielplatz wie der, der jetzt nach ihrer Mutter und damit gleichzeitig, vermittelt, auch nach ihr benannt ist, spielen durfte.

11.4.2022


PRENZLAUER BERG

An dem Café in der Greifenhagener Straße, unweit der nach der Straße benannten Brücke, mit dem Rücken zur Hauswand sitzend, entdeckt die Betrachterin jenseits all der Bäume mit ihren frischen Ästen mit einem Mal etwas, das sie in der Form, will ihr scheinen, noch nie gesehen hat: eine Kirche. Dabei hat sie die Kirche schon oft gesehen, ist x Mal an ihr vorübergetrödelt (es gibt auch einen Trödelladen nahebei), und immer war die Kirche da; aber erst jetzt hat sie das Gefühl, sie zum ersten Mal als sie selbst zu sehen, und das, obwohl sie inmitten des Pflanzenwerks nur zum Teil zu sehen ist. Die Außenwände blicken zwischen den Ästen mit ihren sich schnell bewegenden Blättern hervor, und wie sie das tun. Nämlich in einer Ruhe, die es in sich hat und die eben ganz in sich ruht. Aber gerade in dieser Ruhe gelingt es der Kirche, ihre Ruhe auf die Betrachterin zu übertragen. Es ist als beträte diese die Kirche, und das gewölbte Dach schlösse sich über ihr und begrübe sie unter sich, und sie versänke im Boden.

19.5.2022


STEGLITZ

Als der Betrachter an einem der Maientage des Jahres Werweißes (jede Jahreszahl, freiheraus gewählt, wäre die richtige) des frühen Abends, es war Sonntag, von der Plantagenstraße in die Südendstraße eher beiläufig denn beabsichtigt einschwenkte, stand die Sonne noch hoch. Am Saum der Linden glitzerten die Spitzen mit ihren Blättern, ein fast unhörbares Rascheln. Der Betrachter blickte die Allee entlang, die in weiterer Entfernung abwärts führte und dort eine Stille zeigte, die ihm die Illusion von Frieden schenkte. Die Straße war schattig, und auf dem Gehsteig schwangen im Rhythmus die Schatten der Äste. Der Rhythmus in Verbindung mit dem Licht der Sonne auf den Feldsteinen, wo die Asphaltdecke weggebrochen war, hypnotisierte ihn, und für Sekunden ging er zu einem gemauerten, mit Blumen und Kräutern bepflanzten Rondell und setzte sich, um die Augen zu schließen.

15.5.2022


STADTRANDSIEDLUNG MALCHOW

Im Ullerweg hört er, vorhin noch am Blankenburger Pflasterweg in den Anblick und, noch mehr, in den Anduft eines über und über blühenden Weißdorns versunken - die beiden haben beruhigenden Anklang gefunden - und anschließend in der Sonne nicht anders denn versonnen durch die Feldallee des Mörderberges vor und zurück und rechts und links im Tanz kaum von der Stelle kommend, hört er also wie aus dem Nichts das Rauschen einer Kiefer. Welch ein Rauschen? Ein wortgetreu unheimliches, das, von der Krone kommend, gleichzeitig ein heimliches ist. Unversehen, unverhört, vertrauenerweckend, in gleicher Weise berückend und entrückend, ein Tönen, das dem so Hörenden wie keines je, an das er sich erinnern könnte, den Grund seiner Innenwelt wegspült und ihn auf die Weise entrückt in ein von Grund auf anderes Land, wo ihn die Fremde, die Entfremdung von allem ihm je Vertrauten, erwachen und zu sich kommen läßt.

27.3.2022


MOABIT

An der U-Bahn-Station Turmstraße weist vor dem Einsetzen der Rolltreppe an der Wand ein Schild in serifenloser Schrift den Passanten an: Handlasten und Tiere müssen getragen werden. Davon angesprochen, bleibt er stehen, während schon die nächste U-Bahn einfährt und ein Besen aus Laub und Staub den Bahnsteig fegt. Im Zeitungskiosk fällt Licht von der Decke, und der Verkäufer gähnt. Den Interpreten des Schildes beschleicht das Gefühl, als solle er sich selber tragen, und er kommt nicht vom Fleck. Während die Passanten sich entfernen, ist ihm zumute, als hätte jemand ihn in eine Zeit gezaubert, in der das Schild angeschraubt wurde und in der es vermeintlich Grund gab, die Anweisung zu machen. Welche Handlasten? Welche Tiere? Zeit, aufzuwachen und die Treppe zu nehmen, die stehende, auf der der Passant selber geht. Er sieht sich die Treppe hinaufgehen und nimmt zwei Stufen auf einmal, um sich einzuholen.

4.9.2019


Wegmarken

Verliere dich. (Karl Stein)

Finde mich. (Nora Wolkenhauer)

 

 


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