DIE TERRASSEN DES PHILOSOPHISCHEN GARTENS
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TAGTRAUMPFADE DURCH DAS ARCHIPEL BERLIN

Skizzen

Auf der Suche nach Berlin kommt der Reisende durch alle siebenundneunzig Ortsteile der Stadt. Er tut dies in der Hoffnung, im Laufe der Reisen die Gesuchte zu finden. Jede Reise wird mit einer datierten Skizze dokumentiert, die Augenblicke, Aspekte, Begegnungen festhalten mag und als Überschrift den Namen des Ortsteils trägt. Es geht um Wahrnehmenswürdigkeiten. Eine Bedingung für jede Skizze ist, daß der Reisende sich innerhalb des jeweiligen Ortsteiles aufhalten muß und sie aus der Begegnung mit dem Ortsteil entsteht; wohin er im Ortsteil den Fuß setzt, bleibt dem Zufall überlassen, der Laune, der Neugier, der Erschöpfung. Es sind traumwandlerische Unternehmungen. In der Begegnung mit der Stadt kommt jeder mehr oder weniger zu sich, kann jeder sich mehr oder weniger verloren gehen oder sich finden. Es sind Traumpfade, die nirgends angeschrieben sind und die flüchtig verwehen wie Träume und doch sind sie wirklich. Sie sind gleich wirklich wie Tagträume. Der Tagträumer findet immer aufs neue einen Traumpfad. Tagträume und Traumpfade vereinigen sich zu Tagtraumpfaden. Die Tagtraumpfade führen durch das Stadtinselmeer Berlin. Matthias C. Müller


WESTEND

Am Fürstenbrunner Weg dösen die Kleinbetriebe am

Sonntag morgen, Unfallgutachten, Burger, Shisha-Bars,

Grieneisens Haus der Begegnung, Sarg-Discount Berolina Bestattungen,

der Weg vom Tod ins Grab ist günstig. An den DRK-Kliniken

vorbei, betrittst du den Luisenkirchhof III, ein stiller Raum nach den

lärmenden Straßen, ein Friedhof im Windschatten. Teile

einer zersägten uralten Eiche liegen auf der Wiese, als sollten sie

noch beerdigt werden. An einer Aussichtsplattform liest du die Inschrift:

„Der letzte ..., der überwunden wird, ist der Tod.“

Darunter hat jemand mit blauer Farbe geschrieben: „Nie wieder Krieg.“

Hinter der Plattform öffnet sich ein islamisches Gräberfeld, ein Mann

von rund fünfzig Jahren trägt zwei gefüllte Gieskannen

mutmaßlich zum Grab der Eltern. Die Gräber nach Mekka ausgerichtet.

Die Kindergräber haben bunte Windräder, die Fröhlichkeit der Kinder

im Zusammenspiel mit dem Wind: im quietschend wirbelnden Rad

lebt sie auf, meinst du. Du kommst an ein Ehrenmal und liest:

„Gedenkt der Opfer des osmanischen Genozids 1912 - 1922“.

Auch Friedhöfe haben ihre Hinterhöfe, die Bauhöfe, wo Erde,

Laub, Baumstämme, Grabplatten gelagert werden.

Stauden noch und noch, Lilien - eine florale Üppigkeit, als du

den Hang hinuntergehst. An einem Urnenfeld steht ein Steinkreuz

mit einem Zitat von Goethe: „Es nimmt der Augenblick was Jahre

geben.“ Es ist der Augenblick des Todes wohl, der Moment, der Leben

von Totsein trennt. Ein Ehrengrab vom Land Berlin, schon auf der

Gemarkung des sich anschließenden Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-

Friedhofs: John H.D. Rabe, Dora C. Rabe. Eine steinalte,

gebeugte Dame mit Rollator läßt sich von der Taxifahrerin

zu einem Grab begleiten. Am Eingang steht das Taxi,

auf dessen Kotflügel Reklame für eine stadtbekannte

„Wellnessoase“ gemacht wird, was hier freilich Puff meint.

Was wohl die alte Dame denkt, wenn sie so reklamierend

durch die Stadt kutschiert wird?

Bei Blumen Dunata spricht die schöne Gärtnerin mit einer

Blumenkäuferin. Der Gärtnerhof Charlottenburg am Fürstenbrunner Weg;

Nummer 74 - 80 die Kolonie Tiefer Grund I, über die

die Hochspannungsleitung führt. Ein Güterzug rumpelt.

Die Rohrdammbrücke führt über die Spree. Mitten auf der Brücke

endet Westend, und Siemensstadt beginnt. Die Spree-Erlen

rauschen wie in einem Traum, unwirklich wirklich. Spree, hier

will man dir lieben, so natürlich grün ziehst du deines Weges.

Am Ufer blühen Seerosen. In der Ferne glänzt der Fernsehturm mit

seiner Kugel. Du kommst durch die Kolonie Tiefer Grund II, die Polizei

fährt mit einem VW-Bus Streife. Die Grundstücke laufen bis

ans Ufer der Spree. Plötzlich prescht neben dir ein ICE vorbei,

stadteinwärts. An der Gaststätte „Vogt's Tunnel-Eck“ trinkst

du einen Sprudel. Eine Katze miaut. Ein Spreezubächlein, eingefaßt,

murmelt idyllisch. In kurzer Zeit rasen drei ICEs hinter der Gaststätte

vorüber. Über den verschlungenen Uferweg an der Spree gelangst

du versehentlich in den Schloßpark Charlottenburg, und du fängst

erneut am Spandauer Damm mit deiner Westend-Runde an.

Jetzt erst fällt dir die Pagode auf, die derjenigen vom S-Bahnhof

Mexiko-Platz ähnelt. Die hier ist ein aufgelassenes „Herren PP“.

Du verirrst dich auf das Gelände des DRK-Klinikums, das weitläufig

glänzt und auf dem Skulpturen wie gefroren stehen.

Weiter gehts hinauf den Spandauer Damm, vorbei an Myriaden

von Kleingärten, die alle hinab den Hang Richtung Spree hängen.

Auf Schildern verteidigen sie ihre Existenz. Jetzt bist du oben

auf dem hohen Plateau des Teltow. An der Bushaltestelle

Meiningenallee hat eine Amsel ihre letzte Ruhe gefunden.

Du wanderst in den Ruhwaldpark, der prächtig und

Fragen aufwerfend leer ist. Ein Alter sitzt auf einer Bank,

den Rollator neben sich. Eine Alte geht. Eine dreiköpfige Familie

spielt auf dem Spielplatz, dir erscheint sie einsam.

Von der Spree kommt ein einzelner Mann den

Schlangenweg herauf, mit hängender Zunge, 12% Steigung.

Dein Blick wandert über Spandau hinweg ins Havelland. Die alte

Villa, einst eines reichen Industriellen privates Domizil,

ist heute eine Kindertagesstätte. Über die Bolivarallee,

die voller Platanen steht, gelangst du zum Steubenplatz

in Neu-Westend. Die Reichsstraße kommt vom

Theodor-Heuss-Platz her. Maniküren, Pediküren, Schönheitssalons,

Juweliere und Bestattungshäuser, so weit das Auge reicht.

Du betrittst das Wiener Cafehaus und trinkst eine große Flasche

Vösslauer Wassers, nimmst einen flüssigen Teil Österreichs

in dich auf. Die Portion Bandnudeln mit Pfifferlingen ist allerdings

unbezwingbar groß, für gut und gerne zwei Leute; oder verlangt

des gemeinen Westenders Bauch nach solchen Mengen? Das Cafe

wird üblicherweise von den betagteren Bürgern des Westends besucht,

heute aber sitzen einige tätowierte Fans der Dröhnrock-Kapelle

„Rammstein“ bei Kaffee und Kuchen, aber bitte mit Sahne, hier,

um sich für das abendliche Konzert im nahen Olympiastadion

zu stärken. Auf einem Fan-Unterhemd steht auf der Vorderseite

„Manche führen“ und auf der Rückseite: „Manche folgen“; und später

siehst du, daß viele der Anhänger das gleiche Unterhemd tragen.

Ob die wohl selber führen oder selber folgen? „Führer, befiehl,

wir folgen“, soll da womöglich, bewußt ironisch, oder doch vielleicht

unbewußt ernst, mit anklingen? Führen und folgen, an sich zwei dich

ansprechende Zeitworte. Dein Leben sollst du ernsthaft führen,

wie du auch dich selber von Herzen ernst nimmst.

Und wenn du dich ernst nimmst, dann folgst du auch

den von dir als vernünftig erkannten Gesetzen.

Dein Müssen ist dein Wollen. Das Logo der Kapelle,

auf jedem Unterhemd zu sehen, erinnert dich an das

Hakenkreuz. Auch die feuerspeienden Elemente

ihrer Bühnenshow erinnern, jenseits ihres kindischen Wesens,

das ihnen in deinen Augen innewohnt, an eine faschistoide

Ästhetik, und der mögliche Rückverweis auf das fatale

Düsenjet-Unglück bei der Air Show in Ramstein 1988,

mit Toten und Verletzten, ist ungut. Neben dich setzt sich

eine fünfundvierzigjährige „Rammstein“-Konzertgängerin

und verdrückt, dich anlächelnd, ihre Sahnetorte.

Es ist ihr erstes „Rammstein“-Konzert, sie scheint selig.

Über die Olympische Straße gehst du hinab und hinauf zum

Stadion. Die Fans sind erstaunlich ruhig, fast traurig, im Schatten

der Saumbäume liegend, anders als die grölenden Fußballfangruppen,

die hier ansonsten Richtung Ostkurve ziehen. Eine jugendliche

flachsblonde Frau sitzt im Rollstuhl. Es weht Wind, es ist warm,

am Himmel ein Feld von vanilleeisgelben Cumuluswolken.

An Pollern haben Flaschensammler große Tragetaschen

von Rewe, Kaufland und Edeka mit der Schlaufe befestigt

mit offenem Maul für die herantreibenden Pfandflaschen.

Du schwimmst eine Runde im olympischen Schwimmbecken,

dessen Tribünen derzeit von einem Renovierungsgerüst

eingehaust sind. Vom Olympiastadion her weht der Sprechgesang

des Kapellenführers bei der Tonprobe mit noch nicht voll

aufgedrehten Boxen. Ein jugendlicher Kerl schlunzt vor dir ins Wasser

und verwandelt es in eine Brühe, du ziehst es vor, das Becken

zu verlassen; doch schlunzt schon der nächste vor dir auf den Boden

und macht Boxbewegungen dazu. Die für die Sicherheit

abgestellten Männer und auch die Bademeister scheinen es nicht

zu sehen, obschon nahebei. Hier wirst du deines Lebens nicht froh.

Schade um das schöne 50-m-Becken. Draußen auf dem

Olympischen Platz hat der Einlaß begonnen. Eine Familie mit ihren

sechs- und achtjährigen Kindern wandert hinein. Das Alter der Fans

liegt in der Regel bei dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig Jahren. Die

meisten tragen irgendwelche „Rammstein“-Unterhemden, und du

rechnest hoch, wie viel man mit solchen Nebenprodukten doch

verdienen kann. Neben paar ausländischen Vokalen aus

Skandinavien und Frankreich hörst du allein deutsche Töne.

Das Volk hier und das im Schwimmstadion scheinen

nichts miteinander gemein zu haben. Schließlich hörst du

auch österreichische und sogar hebräische Töne.

Großeltern kommen mit ihren Enkeln.

Ein Paar erscheint mit seinen Baby-Zwillingen - und dir ist, als täte sich

hier der Schlund der Hölle auf. Du ziehst weiter durch das

Sportforum-Gelände mit seinen leeren Sportanlagen,

die in ihrem jetzt wie großzügigen Nichts auf dich einen

dich befreienden Eindruck machen.

Vorbei am Waldstadion und am Glockenturm. Unten in der

Glockenturmstraße xy siehst du zwei alte Menschen auf dem Boden

einer Einfahrt liegen, zwei, drei andere Menschen sind bei ihnen

und helfen ihnen. Du trittst dazu, die Frau schreit wie am Spieß,

während der Mann im eigenen Blut liegt.

Man bittet dich, den Rettungswagen zu rufen, und noch ehe du

am Telefon deinen Namen sagen kannst, fragt die Gegenseite:

„Wo ist die Unfallstelle?“ und belehrt dich: Er stelle die Fragen,

du sollest nur antworten. Weil die offenbar demente Frau panisch

besorgt um ihren sie umsorgenden Mann ist, streichelst

du sie und beruhigst sie und sagst, es sei nichts passiert und alles

werde wieder gut. Offenbar ist der Mann gestolpert und hat die an

seinem Arm geführte Frau mit sich heruntergerissen, während er mit

seinem Kopf auf die Bordsteinkante zusteuerte. Die Haut der Frau

ist glasig, sie wird über neunzig sein. Es dauert, bis der Krankenwagen

kommt, zwanzig Minuten, schließlich biegt er unten

aus der Heerstraße mit eingeschaltetem Blaulicht ein,

hält dort aber an und fragt Passanten nach dem Weg,

während du mit den Armen Halbkreise wischst und

ihm winkst, er müsse noch ein paar hundert Meter fahren.

In deinem Rücken stauen sich die Autos, bis schließlich

der Wagen in die Einfahrt rollt. Die beiden Sanitäter

steigen aus, und aus irgendeinem Grund beginnen die

Sanitäterin und die Ersthelfer miteinander ukrainisch zu sprechen.

Woher wußten sie, daß die Sanitäterin Ukrainerin ist?

Eine alte Nachbarin kommt von der Havel hoch und erzählt

in fröhlichem Hochallgäuerisch - so erschien es dir -,

daß sie die beiden schon seit Jahrzehnten aus dem Segelclub

kenne und daß die Frau ohne ihren Mann völlig „aufgschmissa wärr“.

Weil der Mann bei dem Sturz auch seine künstliche Hüftpfanne

womöglich beschädigt hat, muß er zur Überprüfung in die Klinik,

und du sagst der alten Frau, daß sie jetzt mit ihrem Mann

einen kleinen Ausflug in die Klinik machen dürfe und daß sie

heute abend bestimmt gemeinsam wieder zuhause sein werden,

du hoffst das jedenfalls, und ziehst weiter deines Weges, ziehst

hinab zur Havel und grüßt sie in ihrem hier verschlungenen Bett

mit ihren Seitenarmen und Seitenbuchten, grüßt den Stößchensee,

und kehrst um zurück hinauf auf das Plateau des Teltow.

Der seeglänzende Waldfriedhof Heerstraße idyllisch, etliche

Ehrengräber hier, du grüßt Großcurth, grüßt Loriot, angeblich

liegt hier auch Ringelnatz, aber du fürchtest, nicht mehr rechtzeitig

hinauszugelangen, und ziehst lieber weiter, gehst in die

Westend-Klause, Ringelnatz' Stammbierkneipe, und die ist dir

doch lieber als das Grab. Plötzlich, Schlag 20 Uhr, umgreift dich

ein markerschütterndes Dröhnen, hörst du einen Mordsknall,

daß du fürchtest, die Welt gehe unter. Aber die anderen Gäste

haben die Ruhe weg und reden fröhlich weiter. Beginnt jetzt

etwa das Konzert? Das willst du näher wissen und gehst

wieder die Olympische Straße hinunter zum Olympischen Platz.

Tatsächlich, es ist das Konzert. Offenbar gehört die an Haut

und Haaren spürbare Ton-Gewalt zum Geheimnis solcher

Live-Konzerte. Während die Berliner Straßenreinigung

Tausende von Plastikbechern zu großen Schneehaufen

zusammenkehrt, haben außerhalb des Stadions

kartenlose Konzertgänger Picknickdecken ausgebreitet

und lauschen und singen mit. Die Sonne geht langsam unter,

vom monotonen Dröhnen des Mannes an der Rampe

untermalt. Der Blick reicht bis zur Bühne, an der Feuersäulen

aufschießen. Schäfchenwolken ziehen rosa gen Westen,

während du nach Osten dem Ende des Tages entgegen ziehst.

16.7.2023


WEDDING

Nachmittags kommst du auf dem Urnenfriedhof Seestraße

ans Mahnmal für die Opfer des Aufstands vom 17. Juni 1953

in der DDR. Du stehst an den Gräbern von elf in Berlin

getöteten Demonstranten. Kränze der Staatsspitze

wie auch einzelner Fraktionen wurden abgelegt.

Die Bundestagsfraktion der Partei „Die Linke“ hat keinen

Kranz ablegen lassen. Die Staats- und Stadtoberen

waren gerade noch anwesend. Jetzt bauen die Veranstaltungstechniker

schon wieder alles ab. Nahebei befindet sich das Denkmal

zu Ehren der Opfer des Faschismus in aller Welt -

„des Faschismus in aller Welt“: eine dir zumindest

erklärungsbedürftig anmutende Formulierung;

daneben liegt benutztes Spritzbesteck

für eine harte Droge im Gras. Kaninchen wuseln.

Ein orangefarbenes Wolkengebirge taucht am

östlichen Horizont der Oudenarder Straße

neben den ehemaligen Osram-Höfen auf,

als hätten die ausgemusterten Glühbirnen dort ihren

Himmel gefunden. Die Sonne kommt hervor, und

das Pflaster dampft nach dem Regen.

Es ist halb fünf. Ein im Landeanflug gen Schönefeld

befindlicher Flieger dröhnt über dir nach Osten.

„Zweitregen“ fällt, wenn ein Windstoß den in den

Bäumen noch haftenden ersten Tropfenstoß löst und

dich damit beehrt. „Gartenarbeitsschule Wedding“.

Louise-Schroeder-Platz, Weite und Himmel, ein Paar,

wie es im Wedding mit seinen breiten Avenuen oft

zu sehen ist. An den Kopfseiten der Wohnhäuser der Seestraße

stehen riesige Zitate aus den Dramen Schillers

sowie seine ebenso große Unterschrift.

Lieber Herr Medicus Schiller, im Wedding kann man

Sie an den Wänden lesen und dabei gesunden.

Hauswände als Reclam-Bändchen. Der Bootsverleih

am Plötzensee hat ein Holzstegcafe, das

von jüngeren Paaren, Männern vor allem,

gut besucht ist. Ein Schwan startet vom Ufer los

Richtung Seemitte. Musik dröhnt vom Strandbad herüber.

Eine Stieleiche läßt sich nördlich des Sees bewundern.

Die große Wiese ist verdorrt. Stadion Rehberge.

Auf den Tennisplätzen des Berliner Tennisclubs Rot-Gold

wird gespielt, und die Tennisbälle klacken.

Das Freiluftkino Rehberge erinnert mit seinem

gelb gestrichenen Eingangsgebäude

an ein österreichisch-ungarisches Domizil

der seligen oder auch nicht seligen kakanischen Époque.

Gaststätte Schatulle, in dessen Schanigarten

eingefallene Menschen stumm vor ihren

wohl schon schalen Trinkgläsern schlafen.

Im Sperlingsee quaken fordernd Frösche.

Der benachbarte Möwensee hingegen ist still und

sein Spiegel ist so glatt wie nur ein Spiegel glatt sein kann.

Das Schild „Nachtigalplatz“ ist durchgestrichen,

jetzt heißt er Manga-Bell-Platz. Die Statue of limitations,

eine scheinbar aus dem Boden wachsende Skulptur,

ein aus Bronze geformter Fahnenmast mit Trauerbeflaggung,

deren untere Hälfte im Berliner Humboldt-Forum

im Treppenhaus seinen Anfang nimmt, um hier,

im sogenannten Afrikanischen Viertel, zu enden,

errichtet im Jahr 2022 von Kang Sunkoo.

Das Restaurant Zagreb am Rande erinnert an die spinnwebenalte

Bundesrepublik, die hier noch im Rauchwind hustet.

Ein geparktes Auto kommt dem Nummernschild nach

aus Schwäbisch Gmünd, wo Peter Ustinov mit Weihwasser

übergossen wurde, wie auch du, ohne vorher gefragt zu werden,

was freilich nicht ging, da ihr beide Säuglinge ward,

freilich nicht zur gleichen Zeit. Die rauchenden Rehberge

mit ihren immerfort singenden Vögeln muten dir tropisch an.

Die Rehbergewegbrücke, dich elegant überquerend,

ehe du die Bronzeskulptur zweier nackter Ringer

vor der großen abfallenden Wiese bewunderst.

Das verfallene Parkcafe hat derzeit zu.

Den Carl-Leid-Weg, benannt nach Carl Leid, während dessen

Amtsführung der Park von 1921 bis 1933 angelegt wurde,

tanzt du müde bis an sein Ende am Rathenau-Brunnen,

Emil steht links und Walther rechts, doch es fließt kein Wasser.

Das Rodelbahngras ist vergilbt. Du gehst weiter. Im nahen

Goethepark wurde das Goethe-Denkmal beschmiert:

Der gesprayte Text auf dem Stein lautet, sofern entzifferbar:

„Fuck H[?] Cis-Men“. Auch wurde Goethes Gesicht

mit weißer Farbe getüncht. Doch Goethe erwidert:

„Mir ist nicht bange, daß Deutschland nicht eins werde,

vor allem aber sei es eins in Liebe untereinander.“

Seine schwungvolle, in den Stein gemeißelte Unterschrift

darunter folgt mit den beiden abgekürzten Vornamen:

JWvGoethe. Er blickt aus dem Stein heraus wie aus

einem Fenster, und das ist nicht unkomisch.

Der Park ist sich selbst überlassen, verfällt vor sich hin.

Im oberen, zugewucherten Teil liegt ein junger Mann

friedlich-weggetreten auf einer zerbröckelnden Mauer,

die schon halb zugewachsen ist. Es ist, als

sollte er selber auch zuwachsen, einem männlichen

Dornröschen gleich. Auf den Grasmatten des

Rodelhängchens blitzt der Sand. Eine einsame

Schöne liegt neben ihrem lindengrünen Rad in der Wiese,

sich sonnend, und ihre Augen blitzen auf,

als sie dich kommen sieht. „Junger Mann, welcher Weg

führt dich zu mir? Willst du dich hier setzen

zum Plaisir? Erfahren den Beleg,

daß du lebst und webst? Im Park von Goethe

erklinge dir die Zauberflöte. Komm her mein Schatz

und finde deinen dir bestimmten Platz.“

17.6.2023


CHARLOTTENBURG

Dieses Mal mußt du nicht klettern

am Eingang zum Schloßpark,

das Tor an der Spreebrücke steht weit offen.

Wann war nur dein letzter Besuch?

„Vor Corona!“, diese Pandemiefurie,

sie hat Jahre verschlungen und das,

was vorher war, in fast graue

Vorzeit entrückt. Es war Winter damals,

eisige Nacht, Schnee glitzerte,

Astrid Defauw und du, ihr klettert an

der Spreebrücke über das

verschlossene Tor in den Park.

Unmittelbar das Aufatmen, als ihr drin seid,

die Freude, auf den verschneiten Wegen

alleine gemeinsam bis ins Nirgendwo zu gehen.

Als ihr ans Ufer des zugefrorenen Sees kommt,

geht ihr auf ihm weiter. Und als wäre es

das naheliegende, beginnt ihr zu tanzen,

bringt das Eis zum Singen.

Nachtmusik, dämonisch,

mit zum Zerreißen gespannten,

aus der Unterwelt kommenden Tönen.

Jetzt ist es ein brillanter Junivormittag,

der Park im guten Sinn pflanzlich barock

überladen, zugewachsen, verschlungen,

die blühenden Holunder verwellen ihre süßlichen,

aufreizenden Noten, die Brombeeren blühen,

auf der Liegewiese baden die Nixen,

in endlosem Tanz der Moleküle,

dünnhäutig der Sonne ergeben,

dem sie streichelnden Wind zugetan.

Hoch im Himmel tanzen Cirren federleicht.

Auf den enggewordenen Wegen, mit ihren

hohen hereinhängenden, hereinwehenden

Gräsern und den beladenen Zweigen,

verlierst du dich, ehe du dich versiehst.

Doch auf dem am Saum des Parks verlaufenden

Weg, auf den du stößt, drehen

keuchende, schwitzende Läufer ihre

sonntägliche sportliche Runde, ohne je sich zu verlaufen.

Lieber kehrst du zurück ins Innere des Parks,

und da kommst du, am Ende eines dunklen Tannengangs,

zum Mausoleum, und du gehst geradewegs

hinein und bist erstaunt, es sei dies nicht nur

ein museales Gebäude, sondern es hätten hier

wirklich einstige bekrönte Herrscher ihre letzte Ruhe

gefunden. Die unvermutete Nähe zu Gebeinen

einstiger lebender Menschen rührt dich durchaus.

Aber daß du hier dem einstigen ersten deutschen Kaiser

so nahe bist, läßt dich merkwürdig kalt.

Sollte dein Gefühl repräsentativ sein, hieße das wohl,

es sei die Verbindung des Volkes zu seinen einstigen

herrschenden Häusern gekappt, ohne Bedauern,

wenn sie denn je bestanden hat. Ein Diederich Heßling,

Hauptfigur in Heinrich Manns Roman „Der Untertan“,

ist in der Form heute nicht mehr denkbar oder zumindest

nicht im Hinblick auf jenes einst regierende Haus.

Du stehst lange ungläubig an Christian Daniel Rauchs

Skulptur der jung verstorbenen Königin Luise,

die „ruhend“ tot daliegt und frühlingsgleich weibliche

Sinnlichkeit ausstrahlt, elegant geschmeidig.

Ihren wie hingegossenen Überwurf und die sich darunter

abzeichnenden figuralen Formen, mit den scheinbar

durch den weißen Stoff hindurchschimmernden

Brüsten, hat Rauch in dezent filigraner Anmut

aus dem Marmor gehoben. Du verläßt den kalten Raum

und gehst weiter, dich in der Hitze aufzuwärmen.

Auf einem eingezäunten Stück Wiese haben sich

Schafe unter fünf Schatten spendenden Bäumen

versammelt. Ein Schäfer erklärt einer Gruppe junger

Familien, wie seine Hunde Judy und Jenny die Herde

zusammenhalten können, ehe sie auf die Weide gehen,

und Judy bekommt die Aufgabe, die Schafe alle

heranzutreiben. Sie flitzt durchs hohe Gras und umkreist

und umgrenzt die Tiere, die alle eiligst zum Schäfer

preschen und sich dort um ihn und seine menschliche Herde

versammeln. Wenn im Christentum die Rede geht,

der Pastor, der Hirte, kümmere sich um das Seelenheil

der ihm anvertrauten Gläubigen, seiner „Schäfchen“,

mag hier, auf der Weide, die Frage naheliegen,

ob er auch Schäferhunde hatte oder gerne hätte?

Suchten nicht die Inquisitoren, gleich Schäferhunden,

jene scheinbar herätisch sich von der Herde

absondernden Schafe wieder auf den richtigen

Weg zu zwingen? Und gibt es nicht auch in einem säkularen

Staat bellende Hunde und sonstige Schnüffelnasen,

die sich um jene kümmern, die scheinbar die Grundordnung

der gesellschaftlichen Herde zu verlassen drohen?

Der Schäfer und seine Assistentin verteilen an die Kinder

Knäckebrot, das sie an die Schafe verfüttern dürfen.

Haben sie keines mehr, sollen sie die Hände

in die Luft strecken, damit die Schafe sehen, hier sei

nichts mehr zu holen. Gleichwohl bedrängen

einzelne Schafe auch die knäckebrotlosen Kinder,

und ein Mädchen schreit wie am Spieß aus Furcht

vor einem es bedrängenden Schaf, „Mama!“,

und es versucht, sich zwischen den Beinen der Angerufenen

zu vergraben, und diese errettet es durch Hochheben

und sucht, es zu beruhigen. Lämmer erkennen angeblich

ihre Mütter durch die Stimme und durch den Geruch.

Das ewige Mähen. Daher kommt, wird dir bewußt, offenbar

der Ausdruck für das Rasenmähen. Wenn der Mensch

den Rasen mäht, setzt er den maschinellen Ersatz für

das Schaf ein. Mährobotor sind Robotorschafe.

Schere man das Fell des Muttertiers,

fehle ihm der Geruch, und das Lamm brauche

ein, zwei Stunden, bis es die Mutter wiedererschnuppere.

Die Kinder dürfen ein paar Muttertieren

das Fell vorsichtig abkämmen und die so gewonnene

Wolle mit nach Hause nehmen.

Auf dem Weißen Berg sonnt sich ein Mann nackt

und liest ein Buch. Von der gewölbten Brücke

nahe dem Belvedere ist der Blick zum Schloß

heiter. Am Westufer des Sees blühen rosa

und weiße Seerosen. Wilder Weizen wächst am Ufer,

im Winde wehend. Blaue Libellen fliegen.

Butterblumen blühen. Cumuluswolken bilden sich.

Touristen gehen in Zeitlupe in der Hitze.

Eine junge Frau im weißen Kleid, mit langen, offenen,

roten Haaren, läßt sich am Fließufer photographieren

und hat die Hoffnung im Blick. Gleichzeitig findet,

auf der südlichen Seite des Schlosses,

auf der auf das Schloß zulaufenden Schloßstraße,

ein Kunsthandwerkmarkt statt, dessen gepflegte

Verkäuferinnen jenseits der Fünfzig in der mittlerweile

brennenden Hitze zerknittert die Contenance zu wahren

suchen, indessen der Gehweg von Linden klebrig ist.

Es ist, als sollte alles zum Stillstand kommen, und du kehrst

lieber zurück in den Schloßpark und legst dich nahe

dem Ufer des Sees ins Gras und träumst von einem Tanz

über das Eis und von einem Singen,

das aus den schattierenden Weiden tönt.

11.6.2023


FRANZÖSISCH BUCHHOLZ

Warten auf Erleuchtung in Französisch Buchholz,

denkst du, als dir in Französisch Buchholz

nichts dich bewegendes in den Sinn kommen will.

Es ist, als hätte dieses alte, in deinen Augen versunkene Dorf,

mit seinem Anger, seiner Hängebuche, der Hugenottenplastik,

der stolzen Kirche, dem gelben Kossätenhof und mit der

Restauration Zum Eisernen Gustav und deren Gastgarten,

in dem eine Kutsche steht, Gegenstand von Spinnennetzen,

dich ruhiggestellt. Das ist dir schon auf dem Friedhof

so gegangen, wo du dem Geheimnis der Hugenotten

wenigstens auf den Grabsteinen auf die Schliche

kommen wolltest. Kaum betratest du den Knochenacker,

war dir friedlich zumute. In Französisch Buchholz atmet

eine Gelassenheit, die sich auf dich überträgt.

Warum überhaupt den Friedhof verlassen?

Leere Wiesenstücke zwischen den Gräbern,

violett blühende Rhododendrenbüsche,

fünf oder sechs, weit voneinander verteilte Angehörige,

die nach außen schweigend als Gärtner der Erinnerung,

des Andenkens an ihre Lieben, dir erscheinen,

vertiefen nur die dich beruhigende Stimmung.

Die Vögel tirilieren entspannt, kein aufgekratztes Zwitschern.

Auf den Wegen bilden Ameisen kleine Sandhäufchen, in deren

Öffnungen sie verschwinden und aus denen sie hervorkommen,

geschäftig wie sechsbeinige Charlie Chaplins.

Auch der Name von Erdmute Grün, vor hundert Jahren geboren,

vor vierzehn verstorben, mutet dir entspannt, fast fröhlich an.

Von den Windmühlen ist nur mehr die Mühlenstraße

übrig, während dienstags von 16 bis 17 Uhr

im Evangelischen Gemeindehaus die „Kirchenmäuse“

umhertollen, von zwei bis sechs Jahren, ohne je arm zu werden.

Von einem Schild herunter spricht eine höchste Stimme

die Autofahrer der Hauptstraße an: „Ich halte dich. -Gott“.

Ein großer Findling im Anger liegt da wie der versteinerte

Zeuge einer Zeit, in der das Suchen noch nicht erfunden war.

Ein paar stattliche Gebäude in der Hauptstraße künden

von einem Alter des Prosperierens, „erbaut 1867“, „erbaut 1876“.

Schadow hatte 1790 bis 1802 hier Wohnhaus und Besitzungen.

Im aufgelassenen Hof von Nummer 41 wachsen im hohen Gras

des Vorgartens blaßgelbe und lila Orchideen und rote Rosen.

Opel Kramm verkauft nicht nur Opel, sondern auch Cadillacs und

Dodge-Ram-Riesen mit offener Ladefläche, auf der man

zwei, drei „Trabis“, die sozialistischen Kraftwagen-Trabanten,

spielend abstellen könnte. An der Kirche und am Gasthaus

haben sie in den Fünfzigern Aspekte des Films

„Der eiserne Gustav“ mit Heinz Rühmann in Szene gesetzt.

Der Gustav war der Kutscher, der aus Protest

gegen das Aufkommen von motorisierten Droschken

von Wannsee nach Paris fuhr, selber aber

nie in Französisch Buchholz war.

Gustav Theodor Andreas Hartmann, wie der gute Mann hieß,

geboren am 4. Juni 1859 in Magdeburg, gelangte vom 2. April

bis 4. Juni 1928 mit seiner Kutsche, gezogen vom Wallach

„Grasmus“, an sein freilich vergebliches Ziel und wurde so,

als Protestant, zu einer europäischen Berühmtheit.

Im Garten ist es noch still, eine Festtafel wird

abgeräumt, ansonsten kehren zwei Großeltern mit ihrer

Enkelin von Rügen zurück und klagen, wie viel losgewesen

sei, im Gegensatz zu hier, Französisch Buchholz; ein Pärchen,

Mann und Frau, beide tätowiert, sitzt still am Rande. Nachher stehen

die beiden auf und entpuppen sich als Mitarbeiter des Hauses.

Zwei betagte Elektroradlerinnen setzen sich mitsamt Helmen

in die pralle Sonne und knöpfen sich mit kräftigen Schlücken

große Radler vor. Und dann ist da noch einer, an der Wand

des Hauses, auch in der prallen Sonne, schwarze Hose,

schwarzes Unterhemd, ein blaues Jäckchen, die halblangen,

grauen Haare zurückgekämmt, auf dem Gesicht eine Sonnenbrille,

dem Typ nach ein Walter Sittler, groß und schlank, sitzt lächelnd da,

auf dem Tisch ein Bier im Steingutkrug. Dich wundert,

daß er nicht platzt in dieser ihn ungehindert anknallenden Sonne,

aber erfreust dich an seiner weltgewandten, eleganten

Dämonie, die er ausstrahlt, und als du wieder von den Notizen

aufblickst, ist er vom Erdboden verschluckt,

von den Luft-Photonen aufgelöst und verstrahlt.

Gegenüber dem großen, weitläufigen Platz,

der freilich kein Platz ist, aber auf dich wie ein solcher

wirkt und über den sogar die Hauptstraße mit ihrem

hier allerdings dich aufmunternden Verkehr verläuft,

wartet das Ki-Dojo auf Unterricht in asiatischen Künsten.

Indes ist die Kirchturmuhr stehengeblieben; was sie anzeigt,

ist die Ewigkeit, die kein Laufen kennt. Alle zehn Minuten

biegt die Tram Nummer 50 über den Platz

Richtung Virchow-Klinikum im Westen einerseits

und Richtung Guyotstraße andererseits.

Es ist heiß, die Linden vor der Kirche

rauschen. Ameisen flitzen die Stützbalken

der Gastgarten-Pergola hinauf und hinunter,

und dir ist schleierhaft, was diese Tiere wissen,

warum sie wie mit letzter, doch unversieglicher

Kraft die Balken hinauf- und hinuntereilen,

mit dem inneren Kompaß, der ihnen den Sinn verrät.

An einen Vierertisch setzen sich vier Buchholzer,

zwei Männer, zwei Frauen, rauchen,

und die Damen sind vorzeitig gealtert.

Ein Zimmermann parkiert seinen schicken

Mercedes-Sportwagen vor dem Garten und

umarmt beim Hereinkommen den langjährigen Ober.

Wartend auf Erleuchtung, beleuchtet die mittlerweile

tief gesunkene Sonne dich so sehr, daß du dich aufmachst,

ihren Fängen zu entgehen. Neben dem Haus Nummer 19

flirrt eine verwaiste, prächtige Eiche, die auch schon jene

Genossen der DDR-, der Nazi-, der Weimarer republikanischen

und der monarchischen Preußen-Zeit hier gesehen haben müssen,

in unterschiedlichen Größen, und auf der Fensterbank innen

sitzen zwei Perserkatzen, die hinauswollen und sehnsüchtig

die Bewegungen auf der Straße beobachten. Sie sind

gefangen, man läßt sie nicht aus der Herrschaft des Muschi-Regimes

entkommen. Schöneres Leben verspricht der Seniorenpark Bismarck

gegenüber, über dessen menschenleeren Rasen allein

ein Mähroboter seine Runden zieht. Ein steinummauertes Bassin

wirft Rätsel auf, es ist kein Aquarium, kein Pool, es ist

lediglich ein Wasserbecken, das durch Schönheit

glänzt und in ihr seinen Himmel findet.

26.5.2023


HEINERSDORF

Im Paradies, der Vorhalle vom „Kaufland“

in der Romain-Rolland-Straße,

schweben die Kunden vom unterirdischen

Parkdeck herauf, die Einkaufswagen vor sich.

Beim Bäcker sitzen Philemon und Baucis

am Cafetisch, geschafft nach dem langen Gang

durch die Windungen der Warenwelt,

den vollgepackten Wagen neben sich,

und laben sich am trockenen Stück

Zwetschgenkuchen und schlürfen

eine Tasse versahnten Filterkaffees.

Es scheint, als könnte dieser Moment der Höhepunkt

ihres Tages sein: gemeinsam bei Kaffee und Kuchen

beisammen sitzen und froh sein,

einander noch zu haben,

die Lebensmittel neben sich.

Im verglasten Reisebüro nebenan sitzt ein

weiteres Pärchen und bucht vielleicht den Pauschalurlaub

auf die paradiesische Insel, denn ob es nach dem Tod

noch ins Paradies kommt, glaubt es unter Umständen nicht,

dann lieber zu Lebzeiten das Paradies auf Erden.

Du verläßt das „Kaufland“, des Volkes wahrer Himmel,

und gehst entlang der Romain-Rolland-Straße

in Richtung der früheren Mitte, als Krug und Kirche

noch nicht vom Verkehr überrollt wurden.

In der Alten Feuerwache, im Haus Ingrid, residiert die Tagespflege.

Gegenüber steht ein verlassenes, verfallendes Haus.

Zwanzig Meter weiter kommt noch ein solches,

gleichfalls ansprechendes Juwel,

dieses aber ist eingerüstet und wird restauriert.

Ein drittes auf der rechten Seite, Haus Nr. 52, verfällt gleichfalls,

auf seiner Treppe wächst ein im Wind raschelndes Birkchen,

und die blaue Farbe des Türblatts blättert ab. Überm Eingang

ist ein großes M angebracht. Am Haus daneben ist ein altes Schild

befestigt, auf dem „Kirchenkasse“ steht. Du gehst in den verlassenen

Hof und bewunderst eine uralte Linde. Alles scheint verlassen, verfallen.

Doch das Ensemble Nr. 53 ist eingerüstet. Im Hof von Nr. 54

siehst du überm Eingang des Portals einen die Flügel

ausbreitenden Engel und den Ruf „Hosianna“.

Neben der Kirche der „Wiesenfriedhof“, alles ist zugewachsen,

ungepflegt, ein Eisenkreuz ist abgebrochen, es steht nur noch die

untere Hälfte, du liest die Worte „Ruhe sanft.“.

Der Friedhof auf der anderen Kirchenseite ist jedoch gepflegt,

eine Tafel-Ausstellung informiert über die Geschichte

des Dorfs, und eine Holzbank lädt zum Ausruhen ein,

wenn du auch hier schon des Verkehrs wegen

kaum deine Ruhe weghaben könntest.

Am Cafe „Friedrich & Fritz“ räumt die Betreiberin

gerade Stühle und Tische zusammen und hält

mit den Nachbarn, einer jungen Familie, feierabendlichen

Schnack. „Ciao, Franzi, dir noch 'n schönen Abend!“ -

„Danke, euch auch!“ Die Mitglieder des Motorradclubs

„Born to be wild“ haben offenbar den zivilisierenden

Erziehungsprozeß boykottiert und bleiben lieber Rasende

auf zweirädrigen Geschossen.

Weiße Pfeile an den Hauswänden weisen den Weg

zum nächsten Bunker, so am Haus Nr. 96,

die sind ein Überbleibsel vom Zweiten Weltkrieg,

aber womöglich bald wieder zu gebrauchen,

jedenfalls sieht man diese Pfeile jetzt nicht mehr

als historisches Überbleibsel an, sondern als möglicherweise

bald wieder aktuelle Notwendigkeit. Die Einschußlöcher der Rotarmisten

aus den letzten Kriegstagen sind sichtbar geflickt.

Der Briefkasten wird täglich um 16 Uhr geleert.

Die Freiwillige Feuerwache nimmt Kinder und Jugendliche auf.

Im Nachbarschaftshaus „Alte Apotheke“ schwingen

ältere Damen den Aquarellierpinsel und schweigen.

Die Tram M2 hat da ihre Endhaltestelle, und die Wendeschleife

umrundet eine Wiese, auf der sich das Volk,

das bürgerliche wie das christliche, versammelt,

so auch an Christi Himmelfahrt übermorgen.

Die Bäckerei „Brotschmiede“ hat noch geöffnet und wartet

auf Kunden. Auf dem Friedhof lächelt zwischen den Bäumen

die Kapelle. An der Anlage mit Gräbern für Kriegsopfer

liest du, wie viele Heinersdorfer in den letzten Kriegstagen,

jung und mitten im Leben stehend, kurz vor der Kapitulation

noch Opfer der „Kampfhandlungen“ wurden,

während in der Stadtmitte in seinem Bunker der „Führer“

seine letzten, finsteren Tage verbrachte,

ehe er sich der Verantwortung entzog.

Du gehst durch stille Seitenstraßen, in denen der Flieder blüht.

An einem Laternenpfahl hängt noch ein nach der letzten Wahl

vergessenes Plakat der Partei „die Basis“

mit der in den luftleeren Raum gestellten These:

„Auf den Zusammenhalt kommt es an“.

Es kann freilich falschen oder fatalen Zusammenhalt geben,

schon deswegen ist die Aussage sinnlos. Es kommt immer auf die Art

des Zusammenhalts an. Wenn in den letzten Tagen

des Zweiten Weltkrieges irgendwelche „fanatischen“ Werwölfchen

noch „zusammenhielten“, so war dies lediglich Zeugnis

des Nichtwahrhabenwollens dessen, was die Stunde geschlagen hat.

Zurück in der Blankenburger Straße erweckt eine Mischung aus

kleinen Wohnhäusern, Läden und Werkstätten die Anmutung

von Gerümpel. Am Asia-Imbiß hängt ein Pappkarton,

auf dem jemand mit Hand in Schönschrift die Autofahrer darauf hinweist:

„Achtung! / keine Durchfahrt / Per sonnen verkehr“.

Und du findest, daß jetzt in der abendlich warmen Sonne

bei dem weiten Himmel mit Haufenwolken und einzelnen Schichtwolken

und dem warmen Wind es hier wahrlich einen Sonnenverkehr gebe,

und es sei selbstverständlich, dieser solle nicht gestört werden.

Aus dem Heinersdorfer Krug ist mittlerweile die Trattoria Toscana

geworden, ohne daß sich landschaftlich hier etwas getan hätte.

Das historische „Spritzenhaus“ neben der Kirche. Auch die Kirche

ist ein Spritzenhaus, in ihm löscht Gott die Flammen des Zweifels,

des endlichen Lebens, allein mit dem guten Wort aus dem Mund

des Priesters. Um 18 Uhr läuten die Kirchenglocken.

Gegenüber, an der Ecke zur Tino-Schwierzina-Straße,

hat ein Wohnungsentrümpler sein zentrales Geschäft.

Vom Aida-Park aus betrachtest du den quadratischen, 46 Meter hohen,

nie benutzten, zerschossenen Wasserturm,

ein Denkmal und Mahnmal, er beherbergte am Ende des Krieges

noch eine Flakstellung, an den Wänden sieht man etliche

sowjetische Einschußlöcher und größere Wunden.

Ganz oben, unterhalb des Geländers, an der schmalen Brüstung,

wächst eine Birke. Ein Mädchen spielt alleine auf dem Gehsteig

und malt etwas, Kinder sind die van Goghs der Gehsteige.

An der Trambahnhalte Am Steinberg steht der Circus Kunterbunt,

und in Circussen finden die lustig geschminkten

van Goghs ihr trauriges Auskommen.

Was wäre ein van Gogh anderes

als ein Mensch, der in einem Meer

von Farben baden geht und, für

eine Weile wenigstens, gesundet?

16.5.2023


WEISSENSEE

Die Kastanienallee wölbt sich überweltlich

im gedämpften Sonnenschein des späten Mittags.

Du wanderst über den Campo Santo der Hebräer,

ein Ur-Laubwald, und nicht nur stehn betagte Bäume

links und rechts des Wegs; es schießen gleichfalls

neue, junge Bäumchen mitten auf den Gräbern hoch.

Rehe fänden Äsung hier. Gepflegt wird nichts.

Die Steine fallen dem Vergessen stumm anheim,

verfallen auch, zerbröckeln. Die umgestürzte Eiche

liegt quer auf einem Dutzend Gräbern. Und weiter gehst du,

tiefer hinein, und kommst sodann, unvermutet,

zu Feldern mit neu geschliffnen, glatten, schmucken Gräbern.

Die Schrift auf den Steinen ist oft kyrillisch,

die Verstorbenen wanderten, vermutest du,

nach Verfall des Sowjet-Paradieses in den Westen aus;

da erscheint hinter einem Grab ein Fuchs,

der erschrickt, und im Davonstürmen stürzt er fast in das

frisch ausgehobne Grab. Um siebzehn Uhr wird

die Totenstadt im Wald verschlossen, und du bist weit

gegangen, beeilst dich nun, den Weg hinaus zu finden:

Du willst nicht eingeschlossen sein, hast kein Begehr,

über Zehntausenden Skeletten zu verweilen.

Aber die Orientierung hast du verloren.

Anders als Hänsel, hast du den Weg nicht

mit Bröckchen Brot gezeichnet. Kein Schild weist dich

zum Ausgang. Als du, nach langem Hin und Her, den Eingang,

mit den blühenden japanischen Kirschen, doch erreichst,

findest du die Tür bereits verschlossen.

Du betätigst wiederholt die Klinke, vergebens,

die Tür bleibt im Schloß. Da hörst du den eilend

kieselnden Schritt: noch jemand. Eine Gretel taucht auf.

Zugleich erscheint am Pförtnerhäuschen

der Pförtner selbst und fragt: „Wer rüttelt an meiner Tür?“,

zumindest scheints dir so, er richtete und dichtete diese Worte

rhetorisch an dich. Sei dem, wie dem wolle, er ist noch da.

Ein Glück! Behend und betend scheints schließt ers Gittertörchen

auf und läßt die erleichtert frohen Wiedergänger von

Hänsel und Gretel in die Freiheit ziehen,

in die Stadt der Lebenden. Strebte der Mensch

im Mittelalter abends von der Arbeit auf dem Felde

vor der Stadt noch vor dem Schließen des Tores

zurück in die Stadt, so möchtest du jetzt vor dem Schließen

des Tors der Totenstadt hinaus treten in die Stadt der Lebenden.

Friedhöfe lagen doch nicht selten vor der Stadt;

die Städte der Lebenden und die der Toten

waren getrennt. Beide umgab eine Mauer.

Beide hatten wenigstens ein Tor.

Und doch waren sie zweierlei.

In der Stadt der Lebenden führen die Menschen

mit jeder neuen Generation von der Jugend bis ins Alter

ihr Leben und erhalten es eben am Leben.

Die der Toten hingegen läßt die in ihr aufgenommnen Bürger

für immer bleiben. Als Lebender hast du aber

in der Totenstadt nichts zu suchen;

in ihr hast du bestenfalls etwas zu finden. Aber was?

Ein Grab? Eine Erkenntnis? Ja, auch eine solche;

zum Beispiel die: Wo du dich aufhältst, mußt du den Weg kennen,

den Ausweg. Lebkuchenhäuschen Milchhäuschen.

Da landest du. In ihm, dem Milchhäuschen am Ufer des

Weißen Sees, möchtest du dich laben nach der Rückkehr

aus jener Welt. Doch hat es heute geschlossen.

Schade, doch über solche unscheinbaren Widerfahrnisse

fährst du gleichgültig hinweg. Ein Zettel am Eingang sagt,

die Pächter suchten nach Personal. Es ist dies noch eine Folge

der Instrumente zur Eindämmung der Pandemie.

An den uferweglichen Laternenpfosten informieren

Plakate die Passanten über eine scheinbare

Selbstverständlichkeit: „Natürlich braucht die Natur Regeln“.

Gemäß Kant ist das Genie jenes Talent,

„welches der Kunst die Regeln gibt“, beziehungsweise

jene Gemütsanlage, „durch welche die Natur der Kunst

die Regel gibt“ (Kritik der reinen Urteilskraft, Paragraph 46),

hier aber geht es nicht um Kunst, sondern um Natur.

Die Natur ist nur natürlich oder kann sich nur entfalten,

wenn der Mensch sich an die Regeln hält, welche

die Grünanlagenpfleger-Genies als die angemessenen erachten.

Indes hat die Blindenwohnstätte Weißensee Wohnungen,

die den Blick zum Weißen See eröffnen. Im Garten hat der Weg

ein ununterbrochenes Geländer, mit dessen Hilfe die Blinden

spazieren gehen können. Ein Haus, in dem 1949 Brecht und

Weigel wohnten, sieht aus, als verfiele es, doch ist es bewohnt,

wer weiß von wem. Gegenüber die Dorfkirche mit der alten

Eiche und der alten Kastanie. Neben ihr steht das Mausoleum

von Pistorius, aber nicht dem deutschen, quicklebendigen

Verteidigungsminister, sondern dem durch Branntweinproduktion

reich gewordenen einstigen Brennapparat-Erfinder

und Käufer des Weißenseeschen Gutes.

Am Rathaus Weißensee verläßt du die Berliner Allee

und gehst lieber die Liebermannstraße und dann die Parkstraße

hinunter, ehe du in der Pistoriusstraße zum Primo-Levi-Gymnasium

kommst. An dessen Front haben Schüler zwei Tücher gehängt,

mit der Parole: STOP WAR. Vor dem „Frei-Zeit-Haus“ am Kreuzpfuhl

erinnert ein Stein an den „Antifaschisten“ Erich Boltze,

der im „KZ“ Sachsenhausen umgekommen ist. Sein Wohnhaus

befindet sich nahebei Richtung Mirbachplatz. An diesem lockt

die Eisdiele „Eisspatz“ die Kinder an, und die Schwäbische

Bäckerei nebenan bietet ihre mutmaßlich schwäbischen

Backwaren feil. Daneben befindet sich Nadja Cocozzas

Bestattungshaus „Engel“. Du aber machst kehrt und gehst

die Max-Steinke-Straße Richtung Antonplatz hinauf und kommst

an dem verträumten Häuschen vorbei, in dem die Geigerin

Frau Glocke unterm Dach einst wohnte und wo in der Küche

das Weinlaub zum Fenster herein schaute, während sie dir

den Espresso kochte. Sie wollte mit dir im Kino am Antonplatz

noch mal den Film „Gundermann“ anschauen,

aber ihr habt es dann verpaßt, wie man im Leben immer

vieles verpaßt. Im Kino läuft gerade kein dich ansprechender Film,

und so gehst du durch die lange, dich französisch anmutende

Langhansstraße, nur um dann an der kurzen Scharnweberstraße

zu verwurzeln, denn die läßt dich so den Blick aufschlagen,

daß du erst nicht weitergehen kannst. Es handelt sich bei ihr

um eine Allee aus japanischen Kirschen, blühend und

die Blüten bereits in den Wind werfend, deren Zweige oben

fast zusammenwachsen und so ein Blütengewölbe bilden,

unter dem zu wandeln einem Hochzeitspaar gut anstünde.

Doch die Braut, mit der du jetzt hier schreiten könntest,

glänzt noch in Abwesenheit. Du gibst das Wurzeldasein auf

und gehst weiter, über die Gustav-Adolf-Straße zur „Brotfabrik“,

diesem holzhellen Gasthaus mit den leinwandgroßen Fenstern,

durch die jetzt die Abendsonne fällt. Ihr Licht füllt den Raum

und läßt ihn geradezu schweben. Mit dem schwebenden Raum

schwebst auch du, Raum und du, ihr Zwei, seid schwebend eins,

Du-Raum und Raum-Du, ineinander verschwebend jetzt,

für den ewigen Augen-Blick.

2.5.2023


BLANKENFELDE

Es ist, als wollten die Feldsteine

dir wohl in ihrer geschichteten Wärme,

übereinander, nebeneinander,

den Kirchenbau bildend,

hier, auf dem blanken Felde

des hohen Barnim.

Feldstein-Gewand, Feldstein-Zelt,

Feldstein-Schiff für die Gemeinde,

in seiner Hut, seinem Sie-Behüten, im Innern,

wie unter Deck, sich zu versammeln für die Fahrt

durch die Zeit in die Ewigkeit.

Ringsum der Totenacker, der Friedhof,

auf dem die vom Schiff bereits gefallenen

in der Ewigkeit ruhen.

Zum Beispiel trittst du ans Grab

der Gertrud Kleingeist, eine heute

vor 114 Jahren geborene

geborene Neuendorf.

„Der Herr hats gegeben

der Herr hats genommen

der Name des Herrn sei gelobt“,

aber wie lautet sein zu lobender

Name? Ewigkeit?

Alles, was aus der Ewigkeit

in die Zeit kommt,

hat seine Zeit,

die vorübergeht,

die gezählt ist.

Nach dem Countdown

kehrt es zurück in die Ewigkeit.

Daneben, an der Mauer, befindet sich

ein Urnengemeinschaftsgrab,

mit der Überschrift „Gemeinsam statt einsam“.

Ist das nicht schon kindisch, unfreiwillig komisch,

wird es zudem grotesk, da in ihm bislang

nur ein Mensch begraben ruht, Ruth Mahlke.

Im wärmsten, belebendsten Südwind schwankt eine

grapefruitorangenfarbene Plastikgießkanne

am Gieskannenständer und boxt

immer wieder an die Stange.

Du könntest ewig hier auf der Mauer sitzen

und dich diesem unübertrefflich glanzvollen

Frühlingstag aussetzen. Aber obwohl du die Ruhe

weghast, treibt dich eine dir unerreichbare

innere Unruhe irgendwann doch weiter.

Der Gemeine Löwenzahn und die Purpurrote

Taubnessel blühen in Hülle und Fülle.

Familie Warmbier schläft in ihrem Grubenfaß.

Die Eheleute Sommerfeld ruhen unweit

der Familie Weixelbaum. Ein gepflegtes Grab,

mit Kreuz aus Holz, erinnert an einen

Unbekannten Soldaten. Plötzlich, wie aus dem Nichts,

trittst du an dein eigenes Grab.

Zeitgleich erschrickst du und empfindest doch

ein dich erhebendes, beruhigendes Gefühl.

Es stimmt dich geradezu froh, ein so schönes Grab

zu haben und zu sehen, alles sei in Ordnung.

Nach dem Moment der Verwechslung

begreifst du, es sei nicht dein Grab,

wenngleich du deinen Namen liest und

der Verstorbene das Geburtsjahr

mit dir gemeinsam hat. Aber nur dieses.

Der scheinbare Doppelgänger ist 1993 in die Grube

gefahren, im Wonnemonat Mai, 22 Jahre jung.

Du verläßt nun den Friedhof und gehst

die Hauptstraße, westwärts, weiter,

vorbei an Platanengrundschule, Schwalbennest

und einem DDR-schlammgrauen Feuerwehrhaus.

Etliche, aus Ziegelsteinen erbaute, einst landwirtschaftliche

Höfe öffnen sich, heute schweigen da Autos,

wartend auf Reparatur, oder wiehern Pferde

in ihren Boxen. Auf dem Kopfsteinpflaster der Straße

trommeln die von Lübars her hier durchs Dorf

fahrenden Pkws. Der Friseursalon Sabine Stein

wirkt auf dich wie die Versteinerung einer längst

abgeschnittenen Epoche. Die Magnolienblüten

blättern ab, und die Tulpen blühen auf. Am Dorfrand

ein Pferdehof mit einem Dutzend frei umherspazierender

Pferde, die Wind und Sonne mutmaßlich genießen.

Auch Pferde werden den Frühlingswind schätzen,

schätzt du. Außerhalb des Dorfs führt ein abzweigender

Weg nach Süden an blühenden Kirschen entlang, und

der Blick wandert bis zur Kirche von Rosenthal.

Weiter entfernt und weiter östlich taucht im blauen Dunst

der Fernsehturm auf, der aus der Ferne auf dich

stets ein Gefühl des Vertrauten erweckt, des fast Heimat

Stiftenden. Du gehst nach Westen weiter und überquerst

die Gleise der Heidekrautbahn. Da steht das

stattliche Bahnhofsgebäude, heute privat vermietet

zum Wohnen. Die Bahn fährt hier nur mehr an Museumstagen.

Entlang gehst du an einem Acker, ein Traktorist sät und eggt,

und im Mittelgrund fliegt ein roter Pfeildrachen

hoch in den Lüften. Du gehst an einer Reihe von

freilich schon Blätter tragenden blühenden

Weißdornen entlang und liest das Schild,

das an das ehemalige, hier befindliche

„Krankensammellager“ für „Ostarbeiter“

während der Zeit der Nazi-Herrschaft erinnert.

Eine junge, anmutige Radlerin fährt heran,

tritt in die Bremsen und fragt, ob sie dir helfen könne,

und du wunderst dich über ihren Eindruck,

dir sei noch zu helfen. Auf dem ehemaligen Grenzstreifen

ist mittlerweile ein Wald gewachsen und erinnert gewollt oder

ungewollt an dessen einstigen Verlauf.

Wo früher die unpassierbare Grenze war und wo

heute die Bahnhofstraße in die Blankenfelder Chaussee

übergeht, erinnert, oder würdigt, jetzt

halb versteckt im Gebüsch ein Stein an den hier erfolgten

„mutigen Grenzdurchbruch am 8. Juni 1990 - ausgeführt

von Helmut Qualitz und der Freiwilligen Feuerwehr“.

Ein Durchbruch, der einem Pyrrhussieg gleichkommen sollte,

denn die Lübarser und die Blankenfelder sind nun

den Peitschenschlägen des Durchgangsverkehrs ausgesetzt.

An der Kreuzung der Bahnhofstraße mit dem ehemaligen

Patrouillenweg der Grenzsoldaten hat sich heute ein Treffplatz

für Boliden- und Motorfans etabliert. Zwei beleibte

vierzigjährige Männer mit Heavy-Metal-T-Shirts

haben es sich auf Campingstühlen bequem gemacht

und reparieren ihre Motorroller.

An einem überdachten Rastplatz gegenüber hat sich

ein junges, arabisches Pärchen niedergelassen,

das bodenlange Gewand der Frau ist purpurrot,

und sie küßt ihren Jeans tragenden Burschen wie wild,

sie feiern heute das Zuckerfest, und sie

mag dem ihren als das wahre Zuckerstück

erscheinen. Neben dem Rastplatz liegt Unrat, der

die beiden aber, in ihrer Zuckerwelt verfangen,

nicht zu stören scheint. Nordwärts gehts weiter

den steilen Berg hinab ins Tal des Tegeler Fließes.

Unter dem Warnschild „Gehwegschäden“ liest du, zum

ersten Mal, das Schild „Radwegschäden“.

Am Köppchensee, dem ehemaligen Torfstich,

krötet eine Erdkröte vor sich hin. Eine Reiherente

schwimmt gelassen über den windgeriffelten See.

Das Röhricht raschelt. Eine Brücke führt dich über

das Tegeler Fließ, und am Wegrand halten drei Frauen

einen Schnack, während sie an Seilen ihre nebenher

grasenden Pferde halten. Ein Mädchen reitet

auf dem Rücken ihres Vaters, der klagend ruft:

„Du brauchst mich nicht anzutreiben, ich lauf auch so,

ich bin doch kein Büffelpferd!“ Umdrehend siehst du am

Wegrand eine etwa ein Meter lange Ringelnatter,

die sich im Nu ins Gehölz verkriecht. Und nach wenigen

Schritten weiter siehst du noch eine davonblitzen. Das Gehölz

ächzt, und die Elektroradler donnern an dir vorbei.

Eine Frau in Sportkleidung zischt den Berg herunter und

hinterläßt den Duft ihres aufgetragenen Parfüms.

Eine feuerrote Mauerbiene nistet im leeren Gehäuse

einer Schnecke. Zitronenfalter umflattern dich.

Am östlichen, erhöhten Ende des Köppchensees, der Sonne

gegenüber, siehst du den im Ostwind jetzt goldgetäfelten Spiegel

und fühlst dich flüchtig zeitlos schweben. Ein Fischotter taucht auf

und kreist dicht unter der Oberfläche. Schlehenbäume

blühen. Du gehst über die Heidekrautbahnbrücke südwärts zurück

Richtung Dorf, und im Osten taucht der kahle, heute unbesuchte

Bauschuttberg Arkenberge auf, auf dem Modellflieger ansonsten

ihre Flugzeuge fliegen lassen. Über einen Weg voller

blühender Kirschen und begleitet vom Gesang der Feldlerchen

gelangst du zum Dorf. An seinem Rand liegen große Rohre

in der Wiese, und die Dörflerin, der du begegnest,

weiß nicht, warum die da liegen und wofür.

Du gehst die Schildower Straße hinab, und ein junger

Feuerwehrmann rennt in Montur an dir vorüber

Richtung Wache. Der Briefkasten wird täglich um 13.30 Uhr

geleert. Eine ältere Sonnenbrillenfrau in Leggings und

mit High Heels erinnert dich mit ihrem Unterkiefer

an Klaus Kinski, und als sie die beiden Enkel

in den gelben Mercedes-Flitzer eingeladen hat,

braust sie mit zurückgedrehtem Fahrersitz

auf der staubigen Straße davon. Du überquerst die B 96a und

gelangst so in den östlichen Teil der Hauptstraße.

Den „Graben 33 Blankenfelde“ grüßt du,

dessen Wasser den Nordgrabenfluß mit speist.

Im Reiterhof Neuendorf klagt unzufrieden

wiehernd ein Schimmel in seiner Box,

er will raus, nichts wie raus. Wie gepflegt, anmutig,

einladend, zum Teil fast großbürgerlich es in diesem Teil der

Straße plötzlich ist. Alte Schmiede, Schützenhaus Patzenhof,

Schießsportanlage, ein Kunsthof. In diesem steht eine abstrakte,

an Knochen erinnernde Großplastik, auf deren oberen Bogen

sich ein winziges Buchenbäumchen niedergelassen hat,

das nun winzige Blätter hervortreibt. Du Bäumchen,

hättest du dir keinen geeigneteren Grund zum Leben

suchen können? Zwei Löschfahrzeuge rollen dröhnend

an dir vorbei gen Osten, und im ersten sitzt vorn in der Mitte

das Weltenkind, der junge Feuerwehrmann von vorhin.

Im Westen sinkt die Sonne brennend

ihrem täglichen Erlöschen entgegen.

21.4.2023


WANNSEE

So gehst du hin

in stiller Gegenwart

am südlichen Ufer

des Pohlesees im Wald.

Die Sonne schleiert durch

die Wolken, und

Wind ruft Rillen

auf dem See hervor,

als wäre er in deiner

Phantasie eine leiernde

Platte, die vom sich

lösenden Zug der Zeit

ein Lied zum besten gibt.

Ein dahergelaufener Hund

stellt sich neben dich

und blickt mit hechelndem

Lächeln dich

erwartungsvoll an.

Willst du mit mir gehen?

Sein Frauchen spaziert

ins Gespräch vertieft

mit einer Freundin hinterrücks

vorbei, und er setzt sich hin,

als würde er wie du dem Liebesspiel

der Enten auf dem See ein Auge

schenken. Die Stimme der Herrin

ruft, aber er guckt nur dich an,

als wartete er auf ein Zeichen,

um mit fliegenden Fahnen

überzulaufen in sein neues Zuhause.

Aber dann ruft die Herrin lauter,

kommt gar zurück, und nun muß

er ziehen, der Hund, und aus dem Augenwinkel

wirft er dir einen Gruß oder einen Vorwurf zu.

Schade, scheint sein Blick zu sagen,

daß du mich nicht mitgenommen,

ich hätte dir treu gedient. Wir, ein Team.

Doch schon kommt der nächste Hund,

der stehenbleibt neben dir, und du siehst

dahinter schon wieder einen kommen,

jeweils in Begleitung der Gebieter.

Du machst selber kehrt, es scheint

dich heute das Volk der Hunde

als Flucht- und Zielpunkt

auserkoren. Von der Alsenbrücke

blickst du auf das jetzt in der Sonne

matt glitzernde Wasser des Stölpchensee,

und vom Ufer siehst du den anmutigen Hang

des Dorfes Stolpe mit seinen gereihten Häusern

und der dezent im Hang plazierten Kirche.

Am Alten Schulhaus hängt ein Zettel der

Mittwochsgruppe: „Nach langer Pause...“

- pandemiemaßnahmenbedingt -

„trifft sich wieder die Mittwochsgruppe...“

Ein davor über den Zaun gehängtes Plakat

der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-

Schlesische Oberlausitz sagt:

„Selig sind, die Frieden stiften“.

Aber wie stiftet man den Frieden?

Sind die Seligen nicht die, die gestorben sind?

Die Toten sind das Friedensvolk,

unterirdisch versammelt und wachsend.

Der Friedhof ist der Friedenshof,

die Toten die Höflinge am Hof des Friedens.

An der Kirche hat sich ein Paar gefunden,

ein Efeu hat sich seit mehr als hundert Jahren,

so stehts da, „einem Spitzahorn verbunden“.

Neben der Kirche wird bei „Yoga Wannsee“

das Ganzsein des Menschen trainiert.

Im Garten klettern die Kinder ins Baumhaus.

Am Wilhelmplatz steht eine uralte Eiche,

Wahrzeichen des Dorfs.

Das Gasthaus zum grünen Baum

lädt zu süddeutscher Küche und Meckatzer Bier.

Aber dich verdrießen die an der Tür oben fest

angebrachten Logos von Bewertungsplattformen im Netz,

wo bei katholischen Häusern der Segenswunsch

der Sternsinger mit Kreide geschrieben steht.

Es ist als sollte hier der Segen dank guter Gästebewertungen

erfolgen. Bleibt mir gestohlen.

Im Cafe Aux Delices Normandes räumt die Verkäuferin

die Gebäcke zusammen, sie schließt um 16h.

Unweit der Musikschule Wannsee hat ein Restaurant

für immer geschlossen: „Liebe Gäste, wir danken Ihnen

für die vielen schönen Jahre und verabschieden

uns in die wohlverdiente Rente. Machen Sie

es gut. Arrivederci Ihr Ristorante Salina“.

„Buch in Wannsee“ träumt sonntäglich mit

offenen Augen vor sich hin.

Auch das Kinderhaus Wannsee hat heute frei.

Der Kunst- und Weinladen glänzt mit Stille.

Am Stadion Wannsee steht auf einem Schild:

„Achtung Wildschweine! Türen schließen“.

Im Hof des Cafes „Mutter Fourage“ sind die Sonnenplätze

besetzt, und als du draußen an der Bundesstraße 1

stehst, siehst du einen Meilenstein, der dir sagt:

„III Meilen von Berlin“. In der katholischen St. Michaelkirche

hat der düstere, dir geradezu Angst einjagende

Eingangsbereich geöffnet. Regale ächzen unter ihrer

Bücherlast, und darüber, daß niemand sie will,

nicht mal kostenlos. Und neben einer Madonna

flackern drei Opferkerzen auf einem Treppenkerzen-Tableau.

Trotz des sonntäglichen Ausflüglerverkehrs

weht von gegenüber, vom über und über

blühenden Weißdorn ein dich umwerfender Duft.

Und während du dich wieder aufrappelst und du dich

fragst, ob wohl das alte Biogemüsepaar noch lebt, das

vor lange verflossener Zeit auf dem Steglitzer Wochenmarkt

auf dem Hermann-Ehlers-Platz einen Stand betrieb,

dann aber plötzlich verschwunden war,

und von dem du nur wußtest, es lebe in Wannsee,

geht es plötzlich an dir vorbei.

Es ist so überraschend, obwohl du an sie

gedacht, und ein so großer Zufall, daß du,

wie vom Donner gerührt, den Moment

nicht ergreifen und es ansprechen

und fragen kannst, wie es ihm gehe.

Aber du siehst doch, es geht ihm wie eh

und je, und es geht offenbar immer noch

gemeinsam durchs Leben. Oder willst du

hinterhereilen und die beiden ansprechen?

Da kommt der Bus angefahren, und wie ein Hund

zwischen zwei Leberwürsten, kannst du dich nicht

entscheiden; doch als neben dir der Fahrer die Tür

öffnet, mußt du wohl nolens volens wie der Hund,

dem die Haustür aufgemacht wird, freudig jaulend

hineinjagen. Glauben, loben, lieben - die drei sinds,

worin du dich wiederfindest. Du glaubst an das Gute,

in einem nicht-religiösen Sinn, daß es sich

durchsetzen wird, wenn auch vielleicht erst

in sehr später Zeit. Wer glaubt, der lobt, und

wer glaubt, der liebt. Alles geht sich ein und aus.

Frühling ist, und die Menschen blühen auf.

So zieht des Lebens Glanz vor deinem Aug

vorüber, das Leben ein Ball, ein Tanz, und statt des

Ärgers findest du die Freude lieber.

26.03.2023


ROSENTHAL

Weit und breit ist nichts zu sehn von einem Tal

mit Rosen, aber sicher doch wären in einem von dir

noch nicht entdeckten, in einem versteckten Garten

einer freundlichen Familie Rosen zu finden,

wenn sie auch jetzt freilich noch nicht blühten;

aber ein Tal, ein buchstäbliches, findest du hier

wahrlich nicht. Gigantenlastwagen rauschen an dir vorbei,

der du eingeklemmt auf dem schmalen Bürgersteig

des Wilhelmsruher Damms nahe der Hauptstraße

an bezäunter Hecke erzitterst vor der fahrenden

Felswand neben dir, ohne Fluchtmöglichkeit.

Wer tilgt die unsichtbaren Kosten für das logistische

Getriebe? Die Hauptstraße bringt von Wilhelmsruh

das verheerende Lastenverkehrsheer her. Das rumpelt und

dröhnt über die Dorfangerpflasterstraße. In der Mitte

die hohe, stolze Kirche von anno Domini 1230.

Kleinbetriebe haben sich hier angesiedelt

in den aufgelassenen, verlassenen, wie fluchtartig

verlassenen Höfen, von Zeitungen und Supermarkt-

Reklamezetteln verstopfte Briefkästen zeugen von den

Aussiedlungen. KFZ-Reparaturbetriebe sind jetzt da.

Und Opel Hinz preist seine Elektroautos an:

„Die Zukunft liegt im Blitz.“ Auch wenn die These

auf das Markenlogo von Opel und auf das Naturphänomen

des Blitzes anspielt, bei dem elektrische Ströme

fließen wie auch im Elektroauto, wenn auch da gebändigt,

scheint es dir, als läge zwischen Hinz und Heraklit

nur ein Schritt. Dieser sang: „Der Blitz steuert alles.“

So schlösse sich jüngste Gegenwart an die älteste an,

und der jetzt säkularisierte Heilsgott heißt Strom.

Die Offenbarungen Gottes zeigen sich in den

Elektroautos. Und so, wie Lübars das Pferdedorf ist,

so Rosenthal das der Pferdestärken auf vier Rädern.

Doch der Blitz ist auch die Erkenntnis.

Im Dunkel jener Nacht, in der der Mensch auch bei Tag

gehüllt vor sich hin schläft, hat die blitzartige Erkenntnis

ungeahnte Folgen: Was er erkennt, ist die ihn umgebende,

in grellstes Licht getauchte wirkliche Landschaft, von der er

zuvor nichts geahnt. Er sieht, wo er wirklich ist, was es mit ihm

auf sich hat hier, in diesem fremden Land.

Wer vom Blitz heimgesucht wird, der erkennt,

er war bisher in einer scheinbaren Heimat zuhause.

Der Blitz, die Erkenntnis, läßt ihn erst jene Heimstätte sehen,

nach der er sich fortan sehnen, die er suchen und finden möchte.

Nur der Blitz steuert dich auf deinem Weg in die andere Heimat,

in jene Sphäre, die du wirklich bist. Und die ehemaligen

Bauernhäuser und Gutshöfe locken nach hinten hinaus

mit weitläufigen Gärten, Scheunen, einer versunkenen Welt.

Die uralte, mächtige Eiche, vollhängend mit letztjährigem Laub,

ragt an der Hauptstraße auf, ein Riese, vor dem der Verkehr über

die Schönhauser zur Bundesstraße 96a abtaucht.

Baggerlärm umhüllt dich, Bauarbeiter erneuern die

Abwasserdruckleitung und das Trinkwassernetz,

ohne Wasser kein biologisches und kein zivil-bürgerliches

Leben. Das Cafe Zur alten Backstube hat sonntags

von 13 bis 17 Uhr geöffnet. Ein Plakat ruft:

„Kein Schwerlastverkehr durch Wohngebiete!“

Du siehst Wencke's Haarschneiderei, und die Post

wird täglich um 14 Uhr geleert, so stehts am Briefkasten.

Die Evangelische Gemeinde verspricht:

„Musik löst den Staub des Alltags von der Seele“

und lädt zum gemeinsamen Chorsingen ein.

Der neue Aldi-Supermarkt scheint in der Tradition

der Formensprache von Mies van der Rohe zu stehen,

wenn auch in dunkelroten Backsteinen, der Bau erinnert dich

an die Villa Tugendhat in Brünn, in dem vor dem Krieg

jenes Kind Ernst lebte, das später zum Philosophen heranwuchs

und vor drei Tagen dreiundneunzigjährig in Freiburg die Reise

in die Ewige Freiheit angetreten hat. Nebenan bietet

der Irem-Imbißstand vegetarische Currywurst an,

ein Mann sitzt bierlos auf der Bierbank davor und vertieft sich

in den „Tagesspiegel“. Auf dem nahen Spielplatz

Friedrich-Engels-Straße Ecke Hauptstraße schaukelt

eine Jugendliche besinnungslos, dem Absturz nah.

Es ist 13.55 Uhr. Dittmann's Gasthof, seit 1892 am Ort,

hat noch zu. Am Nordgrabenweg siehst du ein Gewässer,

das dir als kanalisierter Fluß erscheint. Im Angerweg

Ecke Debussystraße kommst du an einem zugewucherten

Garten mit Garagen vorbei. In der César-Franck-Straße

Ecke Andanteweg hält dich eine riesige Pfützenlache auf,

ideal für das Volk der Spatzen. Am Bratvogelweg Ecke

Kastanienallee verlassen die Grundschüler das Schulgebäude.

Du kommst durch die Straße An der Priesterkoppel

und hörst in der Straße 140 den Nordgrabenfluß rauschen,

in einer steil abfallenden Waldschlucht. Er springt über

die im Wasser liegenden Felssteine. Der Blick geht

zurück durch Gärten zum jetzt fern im Norden

liegenden Kirchturm der Dorfkirche. Im Gebirgskräuterweg

siehst du auf dem rechten Ufer des Nordgrabenflusses

einen drei Meter hohen Wasserfall aus dem Zingergraben

stürzen. Auch auf der linken Seite erscheint ein Fließgraben.

Am Frauenmantelweg Ecke Gebirgskräuterweg hat sich

die Schlucht weiter vertieft. Stromschnellen lassen

den Nordgrabenfluß geradezu gebirgsflußähnlich

rauschen. Eine hohe Brücke auf Stelzen führt darüber,

und die im Westen stehende Sonne glänzt auf dem Wasser,

es ist 16.21 Uhr. Du läßt einen Stein in die Tiefe fallen.

Weiter ziehend passierst du den Jugendstil-Kirchsaal

in der Kirchstraße, wie fast überall triffst du auch hier nur

auf verschlossene Kirchentüren. Im Döbrabergweg zeigt

eine Reihenhaussiedlung grüne Holzläden, und in der

Schönhauser Straße 42 hat eine Villa im italienischen Stil

einen Aussichtsturm. In der Kastanienstraße 104A weht

in einem Garten eine Fahne mit dem gelb-blauen Wappen

von Hiddensee, vielleicht ein solidarischer Gruß an die

Flagge der Ukraine? Und der vielfach vom Verkehr

gebrochene Asphalt flattert, wenn die Autos darüber rollen.

Es hört sich an, als würde ein Schwarm Schwäne auf

dem Wasser flügelschlagend die Flucht ergreifen.

16.3.2023


WILHELMSRUH

Als die Mittagsstunde naht, wanderst du auf dem Weg

von Osten her zum Wilhelmsruher See. Du nimmst

ein Sonnenbad. Der See ist, wie es offen sichtlich ist,

Anlauf-, Höhe- und Zielpunkt für Nachbarn,

Mütter mit Kindern und jenen, die die Mittagsfreude

hinaus in die Sonne ans Ufer winkt. Hier sonnen sie

sich in der Sonne, ehe sie sich besinnen und weiter

ihrer Wege ziehen. Am See kommt Wilhelmsruh zur Ruh,

kommt es ganz zu sich. Am See ist Wilhelmsruh Wilhelmsruh.

Gegenteilig dagegen erscheints dir in der Unruh der Chaussee,

Hauptstraße genannt. Durch sie geht unablässig Luft verstaubender,

schwere Lasten schleppender Verkehr, der das Leben dir vermiest,

solange du da weilst. Er zerschneidet, verlärmt, zergast das Dorf.

Löste er sich in Luft auf, könnten die Wilhelmsruher

die Ruhe weghaben und in aller Ruhe von

Geschäft zu Geschäft bummeln. Einige der Hiesigen

nehmen die Situation nicht hin und geben, wie sie sagen,

keine Ruh, was ihre Proteste dagegen betrifft.

Sie versuchen dabei auch, nicht allein verkehrsärmeres Leben

in die Ortsteilbude zu bringen. Zum Beispiel haben sie

die von der Stadt aufgegebene Bibliothek ehrenamtlich

in der von der Post verlassenen Post für die Einwohner

selber wieder eröffnet und veranstalten mit Pauken und

Trompeten Lesungen und Liederabende. Andere haben

in einer aufgelassenen Fleischerei einen Dorfladen

für bioregionale Waren gegründet. Auch zwei Dorfcafes

rühren rührig die Rührschüssel und backen Kuchen

und verhätscheln die hiesigen Leckermäuler

und die dem Naschen zugeneigten Katzen. Und Herr Förtsch,

der große Schlanke mit der rosa Baseballmütze,

betreibt im Buchladen ein Antiquariat. Sein Steckenbär sind

vergriffene Bücher über Berlin, doch Werkausgaben der Klassiker

hat er auch bis unter die Decke zur Hand.

Die wichtigen Seitenstraßen sind auch nach solchen

benannt, Lessing, Goethe, Schiller und Uhland

schütteln sich hier die Hände und werden

vom Schnauzbartrealisten Fontane in einer

Kreisbogenstraße begrüßt. Am Hauptplatz neben der

Hauptstraße, zwischen Goethe und Schiller und vor

dem Gotteshaus, erinnert ein Gedenkstein an

die „Opfer des Faschismus“. Du glaubst,

die heutigen Wilhelmsruher seien wenn nicht Opfer,

so doch Leidtragende einer anderen Form

von geißelnder Mobilmachung.

Sie kämpfen gleichwohl unverdrossen weiter gegen

die Windmühlen des weltumrollenden Verkehrs.

Der versteckte Garibalditeich, abseits der Hauptstraße,

weiter im Westen, jenseits der Goethestraße, ist spiegelglatt,

Bäume und Schilf spiegeln sich im Spiegel.

Ein Jugendlicher spielt Korbball.

Eine junge Mutter mit Kinderwagen sitzt auf einer Sonnenbank

und schweigt. Auch hier ist Wilhelmsruh ganz bei sich.

Dank des Bahndamms der musealen Heidekrautbahn

ist die Ecke vor Verkehr und vor Blicken geschützt.

Es ist, als wäre das Ende der Welt erreicht.

Um wieder nach Hause zu kommen, mußt du umkehren.

Dreh dich um, und wäre es nur auf der Stelle.

Du wirst eine andere Welt gewahren als die,

die du jetzt siehst. Nimm Rück-Sicht und

geh weiter bis ans andere Ende der Welt.

28.2.2023


NEU-HOHENSCHÖNHAUSEN

Du willst aus einer Laune heraus

dir in Neu-Hohenschönhausen die Haare

schneiden lassen. In seiner geographischen

Form erinnert der Ortsteil dich an ein vierblätteriges

Kleeblatt. Die Falkenberger Chaussee

und die Eisenbahnstrecke teilen ihn

in vier Bereiche. Das erste, was du siehst,

als du von der Falkenberger Chaussee

in die Zingster Straße zum Linden-Einkaufstempel

gehst, sind Zehntausende Kaugummis,

die fest auf dem Pflaster kleben.

So viele ausgelutschte Kaugummis hast du

noch nie gesehen. Die Kaugummi-Industrie

hat hier ihre treuesten Kunden,

an den Neu-Hohenschönhausern

wird sie nicht zugrunde gehen.

Vor dem Eingang in den Tempel fangen Bettler

die Passanten ab, ihr Herantreten und das

bogenförmige Ausweichen der Angebettelten

erscheint dir als abgestimmte Choreographie,

als hätten sie sich zu einem Tanz verabredet.

In Einkaufszentren hältst du dich nicht

gerne auf, weil du den Himmel nicht sehen und

den Wind nicht fühlen kannst, doch heute,

angesichts der draußen waltenden Kälte,

stimmt die Wärme dich milde, und wie du in den Cafes

ältere Damen in Rüschchenblusen bei Kaffee und Kuchen

plaudern siehst, verstehst du, hier sei für sie

die Stadtmitte, sei ihr Städtchen, wo sie unter

die Leute gehen und andere treffen.

Die werden es in den „Lockdown“-Zeiten der

Corona-Pandemie nicht leicht gehabt haben

in ihren Wohnungen in den Hochhäusern,

ohne einander öffentlich sorgenfrei zum Schwatzen

treffen zu dürfen. Jetzt sitzen sie da, ganz Gegenwart,

und die Pandemie ist Geschichte.

In einem Schweizer Frisurenstudio fragst du

nach dem Preis für einen Schnitt und bist überrascht

von der Antwort und ziehst erst einmal weiter,

siebenunddreißig Euro scheinen nicht wenig zu sein,

und jeder Schnitt ist bekanntlich nicht für die Ewigkeit.

Du ziehst wieder hinaus in die Zingster Straße, während

die Bibliothek Anna Seghers herübergrüßt.

Am Wegrand im Gras sitzt ein Vietnamese

in der Hocke, es scheint, als täte er das gerne,

einfach so, ohne erkennbaren Grund, ein Tag muß

schließlich vorübergehen. An einer Ladenzeile

triffst du auf den Salon Heidi, wo das Schneiden

günstiger, dafür freilich kein Platz frei ist.

In der Schwimmhalle ziehen Schwimmschüler

ihre Bahnen, und davor sitzen Männer auf Bänken und

reden nicht viel. Gegenüber in der Barther Straße 3

erinnert eine Gedenktafel indirekt an den saarländischen

Dachdeckerlehrling, der 1984 den Grundstein für die ganze

Siedlung hier gelegt hat. Streubel & Cornet betreiben nebenan

ein kleines Pavillon-Cafe, in dem ein Gast sich Kaffee und Hörnchen

schmecken läßt. Der Prerower Platz, die Mitte des Viertels,

spricht dich in seiner großen Leere an. Nichts ist da, niemand,

aber jetzt, da du drübergehst, ist doch jemand da.

Auf einem Parkplatz neben der Falkenberger Chaussee

ist ein Zirkus aufgebaut, aber du siehst und hörst niemanden,

er wirkt wie ausgestorben. Auf der Brücke der Chaussee

über den Gleisen siehst du einen Zug nach Templin einfahren,

pendelnde Schüler steigen aus, und junge Damen steigen ein.

Du gehst weiter und holst im Laden des Bäckerei-Werksverkaufs

Streubel & Cornet einen Kaffee und ein Hörnchen,

inspiriert von dem einsamen Mann im Zingster Straße-Pavillon.

Die strenge Verkäuferin pumpt dir den Kaffee aus einer

bereitgestellten Thermoskanne in einen Plastikbecher

und reicht dir das trockene Hörnchen.

Nebenan steht die neue Falkenberger Kirche, die

nicht in Falkenberg steht, sondern eben hier, im Nachbarortsteil,

in Falkenberg erinnert auf dem Friedhof nur mehr

die Kriegs-Sprengruine an die alte. Du umkreist die neue

ein Mal rundum, als würdest du ihr so die Ehre erweisen.

Drüben am Warnitzer Bogen sprichst du im Vandell-Studio vor.

Die filigrane Friseurin, Tabitha, erwartet bald eine Stammkundin,

aber nach kurzem Überlegen, mit Blick auf die Uhr, sagt sie:

„Das schaffe ich!“ und bittet dich, Platz zu nehmen.

Ihre Stirn ist rundgewölbt, ihr Haar grün und blau gefärbt,

und Metallstifte und Ringe durchbohren Mund, Nase und Ohren.

Anschließend wanderst du, frisch verjüngt,

den Bogen mit seiner Ladenzeile weiter.

Bäcker Feihl bietet seine Waren feil.

Die Schuldnerberatung läuft.

Die Fleischgrillgerichte eines Imbisses finden Absatz.

Am Quartierspark spielen Kinder.

Und du gehst die Vincent-van-Gogh-Straße hinunter,

und die Friseurin in ihrer filigranen Art geht dir nach

und läßt dich lächeln. Die Sonne steht tief.

In der Straße Zu den Krugwiesen sitzt eine Gesellschaft

für Oberflächenbearbeitungstechnologie.

Die produzieren Diamantwerkzeuge, Maschinen

zum Schleifen, Läppen und Polieren und

Systeme für Präzisionsoptik. Ihre Produkte

haben es, wie die Berliner Woche schreibt,

bis auf die ISS geschafft. Auch Schreiben

ist eine Form von Oberflächenbearbeitungstechnologie,

scheint dir. Nagelneue Wohnbauten in der Seehausener Straße

lassen dich Bauklötze staunen. Das einstige Neue

von Neu-Hohenschönhausen wird alt, und neues neues kommt nach.

Das ist der Lauf der Welt, auch bei Häusern.

Vorm Penny halten schwergewichtige Raucher,

mit Bier an die fahrradlosen Fahrradständer gelehnt,

ihre Konferenz über Gott und die Welt ab.

„Liebe Eltern, wie Ihnen bereits bekanntgegeben,

bleibt unsere Kita heute geschlossen“, liest du

in der Warnitzer Straße an der Tür einer Kindertagesstätte.

Und an der Pablo-Picasso-Straße steht auf einem Meilenstein:

„1 Meile bis Berlin“. Am Rotkamp, wieder westlich der Eisenbahn,

im Quartier Mühlengrund, findest du weitere ansprechende

Wohnungsneubauten, mit Holzwänden, du befühlst die Wand,

und eine Latte tränt Harz. Wohnungen haben Balkone wie

Aussichtsplattformen über Schluchten.

Radständer warten auf zukünftige Räder.

Die Sonne geht unter, und an der Falkenberger Chaussee

kniet ein Moslem am Grassteifenrand hinter einer Werbetafel

auf seiner ausgelegten Jacke und betet. Er verfehlt, deiner

Meinung nach, die Richtung nach Mekka.

23.2.2023


LANKWITZ

Hoher Nachmittag, und am Himmel häuten sich die Wolken.

Du biegst an den Aral-Zapfsäulen von der Kaiser-Wilhelm-Straße

in die Straße Alt-Lankwitz ein, wie heute die einstige Dorfstraße heißt.

So entkommst du den pausenlos Ohrlaschen austeilenden

Auto- und Lastwagenkaskaden, wie auch den dich blendenden,

nach dem Krieg in der Not bescheiden errichteten Wohnburgen.

Die Straße teilt sich, um das Auge des Dorfs, den Anger, hütend

zu umschließen. In ihrer Anmut läßt die Anlage den Blick

ruhig und frei schweifen. Nach wenigen Schritten aber

rührt dich der abzweigende Langkofelweg, katapultiert dich

en passant aus dem Urstromtal hinauf in die Dolomiten.

Dein Vater und seine Busenfreunde wedelten einst auf Skier

durch die Langkofelscharte zwischen herausstehenden Felsen

zu Tal; am Abend, geschafft, mit schmerzenden Beinen, bekamen sie

in der Trattoria in Canazei, beziehungsweise „Kann-net-sei“,

wie sie das Tal-Kaff auf schwäbisch nannten, erwünschteste

Spaghetti serviert. Vom Langkofel schreitest du geradewegs

über die Wiese gen Dorfkirche, die bei einem der verheerendsten

Luftangriffe der Alliierten in der Nacht vom 23. zum 24. August 1943

zerbombt und nach dem Krieg in den fünfziger Jahren

wiedererrichtet wurde. Auf der Wiese umkleidet

ein schmiedeeiserner Schmuckzaun eine Eiche,

während auf dem Weg vor der Friedhofsmauer

verkleidete Kinder ziehen, ihre Mütter und Großmütter

im Schlepptau. Sie feiern heut Fastnacht, ehe morgen,

für praktizierende Christen und solche Menschen,

die den Anlaß aufgreifen, die Fastenzeit beginnt,

Wochen der Reinigung, der Reparatur, der Verjüngung,

des Fegefeuers auch der seelischen Fettzellen,

bis an Ostern, mit den bemalten Ostereiern,

das zyklische, ewige Leben, verdichtet in der Erzählung

von der Auferstehung des Herrn, wieder gefeiert wird.

Das Tor zum an die Kirche sich anschließenden Gottesacker

ist zugesperrt, doch siehst du auch so durch die Stäbe

die Krokusse und Schneeglöckchen blühen,

hörst deren Botschaft vom bald allseits

wiedererstehenden Leben, für die der Glaube dir nicht fehlt.

Das Dominikuskloster taucht auf; das stattliche, gelbe

Frontgebäude war wohl früher das Gutshaus,

dann das Mutterhaus des Klosters

der Christkönigsschwestern. Hier haben sie seit 1927

bald ein Jahrhundert lang hilfsbedürftige Menschen

gepflegt und geheilt, ehe zwei Betrüger sie um ihr Vermögen

brachten und sie alles verloren, das Kloster nicht überleben konnte.

Jetzt belebt die christliche Gemeinschaft Chemin Neuf, Neuer Weg,

Haus und Kirche. Auch hat in der Gnadenkapelle die Gemeinde

des Heiligen Isidor Einzug gehalten, die Berliner Diözese

der Russisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats,

deren Oberhaupt ein gewisser Kyrill I. ist. Es heißt,

der sei ein ehemaliger KGB-Agent, ein Milliardär und segenspendender

Anhänger des Kreml-Schlächters. Wie betet es sich wohl,

wenn ein solcher das Oberhaupt ist?

Christlich den Nächsten zu lieben und gleichzeitig

zu wissen, der Kyrill segne das grausame Töten und Foltern

der rußländischen Soldateska in der Ukraine,

kann das zusammengehen? Du stehst vor der Kapelle

und überlegst, die Tür zu öffnen. Da hörst du von drinnen ein Lachen,

von zwei Menschen, und plötzlich zögerst du,

sie zu öffnen. Du könntest deine Fragen doch ihnen stellen,

fürchtest dich aber vor einer Lage, die einen Abgrund

zwischen euch eröffnen könnte, und so verläßt du lieber den Vorhof.

Nebenan steht das Gästehaus Angelicum, das, wie ein Zettel

an einem Pfosten im laubgefüllten Vorgarten mitteilt,

seit dem 1.1.2013 geschlossen ist, da die Christkönigsschwestern

das Kloster verließen. Es sieht unbewohnt aus. Warum bietet man es

nicht ukrainischen Flüchtlingen an? Die Russisch-Orthodoxen, vielleicht

haben sie längst und insgeheim sich von ihrem nur scheinbar christlichen

Oberhaupt losgesagt, beziehungsweise hätten ihn zum Teufel gewünscht, wenn

er nicht schon des Teufels wäre, und leisteten

gerne ihren neuen Nachbarn tätige Nächstenhilfe?

Aber wer hat die Schlüsselgewalt über das engelhafte Gebäude?

So ziehen die Gedanken wie Schafe von selbst vorüber,

während du weiter vorbei an einem Wäldchen

über die Wiese gehst; und jenseits des hier unterirdisch

kanalisierten früheren Wiesenbachs namens Lanke,

von dem das Dorf seinen Namen erhielt, stößt du

auf die Kleine Kneipe, die, ausgerechnet, für den 24. Februar 2023

Eisbein ankündigt - den fetten, fleischigen Unterschenkel eines Schweins -,

Reservierung erwünscht, was du in deinem Leben noch nie

gegessen hast und auch nicht essen wirst. Indes zieht

im Himmel ein Schwarm Kraniche zurück aus dem Süden,

und im Osten ist der Himmel weißblau, von gelben Schichtwolken

durchzogen. Du gehst südwärts weiter und stößt am Halbauer Weg

auf die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche, die das Gebäude von

einer Römisch-Katholischen Gemeinde übernommen hat.

Häuser und Gebäude werden immer, wenn sie verlassen

oder aufgegeben oder ihre Bewohner vertrieben werden,

von anderen neu bezogen, neu eingerichtet, neu beseelt.

Das haben auch die frühen Christen getan, als sie ihre Kirchen

über ehemaligen römischen, „heidnischen“ Tempeln errichteten.

Es ist 17.08 Uhr, und die Sonne kommt heraus und taucht

die Häuser in gelbrotes Licht. Die Cumuluswolken verschwimmen

in orangegelbem Chiaroscuro. Und auch du verschwimmst,

wie am Ende ohnehin alles verschwimmt, die Zeit, der Raum,

die Erinnerung. Was einzig bleibt, ist das Verschwimmen.

21.2.2023


LICHTERFELDE

Da sitzt sie, die ältere Dame,

unter der Markise des Tchibo-Cafés

am Platz vor dem Bahnhof Lichterfelde-West

und hält sich an ihrer Tasse fest. Sie blickt

in den Regen oder vielleicht jenseits des Regens

auch in eine Ferne, die allein sie vor Augen haben kann,

wo der Regen nachläßt und ein strahlender Tag beginnt.

Sie umschließt den Griff der Tasse fester, als wolle sie

nicht zurück in die Leere dieses Vormittags fallen.

Der bietet nach außen hin nur das himmlische Naß

und die bescheidene Geschäftigkeit der Geschäfte

hier am Platz, und so schmiegt sie sich tiefer in ihre lange,

bis zu den Füßen reichende Winterjacke, und

am Kaffee nippend, schließt sie die Augen und träumt

von früher, als ihr ein Jüngling den Hof machte. Der war damals

ihr zukünftiger und ist heute ihr längst gestorbener Mann,

der auf dem Friedhof unweit von hier seinen ewigen Schlaf

gefunden hat. Das Leben folgt dem unveränderlichen

Wechsel von Aufwachen und Einschlafen, so im Alltag,

aber auch auf der ihn überschreitenden Ebene.

Da besteht das Schauspiel aus dem unwahrscheinlichsten

Erwachen eines Lebewesens aus dem Nichts und aus dem

wahrscheinlichsten Verschwinden desselben zurück in das Nichts.

Ein einmaliger Kreislauf. Aus dem Dunkel ins Licht und

zurück ins Dunkel. Längst ist die Zeit vorbei, da ihr einer den Hof

machen würde. Sie umgarnt auch keinen mehr. Das Garn liegt

unbenutzt im Nähkästchen. So vor sich hin träumen ist, als pflegte

sie ihre Seele. Es ist dieses Hiersitzen und in den Regen

Schauen ihr Kosmetikstudio. Tränen rollen über ihre Wangen,

und in ihnen blitzt ein Licht. Und mit diesem Blitz,

der sich auf dich überträgt, ziehst du weiter und schenkst

ihr ein Lächeln. In der Drakestraße schaust du zu Lüske hinein,

dem Lebensmittelgeschäft, das sich in einem früheren

Kino aus dem Jahr 1953 einquartiert hat, welches „Der Spiegel“ hieß

und das die ältere Dame einst mit ihrer Liebe besucht haben mag,

und es freut dich unmittelbar, daß das Bauwerk mit Empore,

Saal und Leinwandseite erhalten geblieben ist, nur die Stuhlreihen

wurden notwendigerweise entfernt. Ohne etwas zu kaufen,

verläßt du die Höhle wieder und gehst weiter im Regen.

In der Ringstraße siehst du Mitarbeiter der Straßenreinigung

Kastanienlaub bergeweise zusammenrechen und die Haufen

in abbaubare Säcke stopfen. In ein paar Monaten können

die neuen Blätter erscheinen. Vorher wird tabula rasa gemacht.

Was tot ist, wird entsorgt, kompostiert, beerdigt.

Das Leben ist immer auch eine Platzfrage.

Und du betrittst die Außenstelle des Amtsgerichts Schöneberg,

dem burgartigen, von außen auf dich düster wirkenden

Felsengebirge von einem Haus, und läßt dich im käfigartigen

Eingangsbereich von den Justizbeamten auf Identität und Waffen

prüfen, und als sie sehen, daß du eine Identität hast, worüber

du freilich gerne noch einmal diskutieren würdest, und du keine

Waffen trägst, womit du d'accord gehst, lassen sie dich alleine

in das Innere des Gebäudes ziehen.

Du gehst durch lange, hohe Gänge, suchst den Weg,

gehst Treppen hinauf und Treppen hinunter,

Türen gehen auf und Türen gehen zu, und noch ehe

du dich versiehst, hast du dich verirrt, gingst

du dir verloren. Nun sammle dich, bestimmt

findest du dich wieder, an einem anderen Ort.

22.12.2022


MITTE

Abends in beizender Kälte, die dich heimwärts treibt

oder dir doch wenigstens den Besuch

einer warmen Stube nahelegt, siehst du,

von der Friedrichstraße kommend

aus den Augenwinkeln am Gendarmenmarkt

Besucher zur Aufführung des Weihnachtsoratoriums,

Bach-Werke-Verzeichnis 248, in Richtung Konzerthaus

streben. Das wäre eine gute, warme Stube, und so gehst du

zum Eingangsbereich und prüfst, ob nicht irgendwer

eine Karte übrig hätte. Für das von Musik durchmalte Aufwärmen

wärst du bereit, zwanzig Euro springen zu lassen.

Da kommt schon ein älterer Herr, fast rennend,

im Pulk mit anderen, und du fragst,

ob er seine offenbar übrige Karte, mit der er wedelt,

nicht an mich verscherbeln wolle.

„Ja, wieviel willste denn zahlen?“ sagt er, ganz Feuer

vor Freude, daß er die Karte noch loswird.

Indem du von seiner dich duzenden Ansprache

absiehst, nennst du den abgemachten Betrag.

Da lacht er auf und ruft: „Da lasse ich die Karte lieber

verfallen - die hat über achtzig Euro gekostet.“

Nun denn, so zieh des Wegs, lieber die Karte lieber

verfallenlassender Mensch. Es ist auch egal.

Und weiter strömen die Menschen vorbei, übrigens fast allein

betagte Semester, ja, ihrem Aussehen nach zu urteilen,

scheint es, als hätte irgendwer die halbe Brandenburger

Dorfbevölkerung, oder sind es die Eingesessenen der

Berliner Dörfer, hierher mit Bussen gekarrt.

Doch da die Kälte dich wieder daran erinnert,

entweder subito hier den Konzertofen zu entern

oder stehenden Schritts zu gehen, tendierst du, da ohne Ofenkarte,

schon dazu, Leine zu ziehen, als just eine mantellose Japanerin

in dünnem Tüll herausstolpert. Offenbar will die noch schnell eine Karte

loswerden beziehungsweise an den Mann bringen. Also gut.

Du sprichst sie an und nennst den bekannten Betrag.

Sie bejaht zunächst und überreicht dir die Karte. Aber es tut ihr

dann doch leid, nur so wenig zu bekommen, da sie so viel

gezahlt habe, und sie überlegt sichs anders und will über

den Preis verhandeln. „Vierzig Euro!“ Du gibst ihr die Karte

zurück und schickst dich an, nun wirklich zu gehen, worauf sie sagt:

„Ach, es ist zu kalt hier draußen, nehmen Sie die Karte,

ich schenke Sie Ihnen!“ und rennt wieder hinein. Nun gut,

in dem Falle solltest du Gnade vor Recht walten lassen

und die Möglichkeit, dich im Konzerthaus beim Weihnachtsoratorium

aufzuwärmen, nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Erst drinnen macht dich der Platzanweiser darauf aufmerksam,

daß du sogar zwei Karten erhalten hast, einmal für die erste Reihe

und einmal ein paar Reihen weiter hinten in der Mitte.

In der Mitte ist die Akustik besser, und es sitzen da auch nicht so viele

Besucher, warum auch immer, ein paar Plätze rechts und links neben dir

bleiben frei, was dir ganz recht ist, und so kannst du, während

Geneviève Tschumi im blauen Samtkleid mit ihrem dir

nahegehenden, dich wärmenden Alt singt, in Ruhe auftauen.

Es ist, als verwandeltest du dich von einem vereisten Bach

in einen fließenden, springenden, seine jauchzend

frohlockenden Töne lallen und sprudeln und jubeln durch dich.

3.12.2022


KARLSHORST

Du befindest dich auf der Suche

nach dem noch nicht entdeckten

Odesa-Platz, den es hier neuerdings geben soll,

benannt nach der Stadt am Schwarzen Meer,

in der ukrainischen Orthographie, mit einem S.

So wurde es beschlossen vom Bezirksparlament,

im heißen Monat August, aus Solidarität mit der Ukraine,

der angegriffenen, überfallenen, heimgesuchten,

von dem scham- und gewissenlosen,

aus rußigen Hinterhöfen Leningrads

entlaufenen Schwerenöter mit der Miene

einer einbalsamierten Leiche.

Warum das Parlament den Platz nicht gleich

nach der Ukraine benannt hat, den Ukraine-Platz

in öffentlicher Sprechhandlung ins Leben gerufen hat,

bleibt vorderhand ungeklärt.

Nirgends entdeckst du ein Schild,

das den bis jüngst namenlosen oder nicht existenten

„Platz“ namhaft oder dingfest machen und zur Erscheinung

bringen würde, und so bist du dir nicht ganz sicher, ob du auch

wirklich am richtigen Ort zum Stehen gekommen bist,

hier, wo Rheinsteinstraße und Ehrenfelsstraße

in die Treskow-Allee münden, die unentwegt Wellen schlagende.

Du ruderst hinüber in die Galerie im Kulturhaus

und fragst den Galeristen, der es doch wissen muß.

„Odesa-Platz? Noch nie jehört. Und ick wohn hier schon

seit Ewigkeiten. Wo soll der sein? Ne, meen Lieber,

den jibs nich!“ Und du ziehst weiter zur Buchhändlerin

gleich um die Ecke in der Dönhoffstraße. Die mutmaßlich

vieles lesende Frau, die sollte doch klarsehen.

Pustekuchen, auch die staunt nur und starrt dich an,

als wärst du ein Buch mit sieben Siegeln,

von dem sie nicht zu sagen wüßte,

wie sie die Schnallen öffnen soll, obschon sie es gerne täte.

Auch in ihrem Hinterstübchen flammt bei Odesa keine Ahnung auf.

„Hast du gehört“, fragt sie ihren Kollegen, „daß es hier einen

Odesa-Platz geben soll?“ - „Einen Odesa-Platz?“ Und du siehst

an seinem in die Ferne schweifenden Blick, daß er den doch

in der Nähe liegenden, guten Platz nicht finden wird.

Und weil ein umhergehendes Fragen erst bei drei Befragten

anfängt, eine in Grenzen brauchbare Aussage zu bekräftigen,

gehst du noch in die Feinbäckerei Hollschewski,

unmittelbar neben dem mutmaßlichen Odesa-Platz.

Um gute Stimmung zu unterstützen, kaufst du zuerst ein

paar der ins Auge springenden Zuckerwerke aus der Auslage

und stellst dann deine Frage. „Odesa-Platz?“ schnaubt es fast

konsterniert über den Tresen. „Ne, tut mir leid, da bin ick überfragt!“

Nun läßt du es sein Bewenden haben und die Frage gut sein,

im Bewußtsein der Bevölkerung hat sich dieser Platz

noch nicht verankert, kein „Panzerkreuzer“ liegt im Hafen,

keiner ins Auge getroffenen Frau entgleitet der Kinderwagen,

der, inmitten der panisch vor den Schüssen aus den Gewehren

der die Treppe herabkommenden Soldaten fliehenden Menge,

über die Hafentreppe wippend und geradezu ungerührt zur Mole

hinabrollt, wo er mitsamt dem Kinde vorwärts umkippt.

Odesa liegt janz weit draußen, weiter draußen,

als Berlin groß ist. Du begibst dich nun mitten

auf den wahrscheinlichen Odesa-Platz und bleibst

auf ihm stehen und versuchst, seinen Geist zu erhaschen,

den er hat oder haben muß oder haben könnte.

Ein wegweisendes Schild zeigt in die Rheinsteinstraße

zum „Museum Berlin-Karlshorst“. Das heißt seit diesem

Jahr so, nachdem es zuvor sieben Jahre

lang „Deutsch-Russisches Museum“ (und unförmlich

noch länger so) geheißen hatte. Die Museumsleitung

hat den Namen jetzt allgemein und somit so oder so

sachgerecht gefaßt und innewohnend das Brennglas

auch auf andere Länder wie Weißrußland oder Belarus

und Ukraine gelegt, die bekanntermaßen mindestens ebenso

vom damaligen Deutschland angegriffen wurden.

Anlaß der Umbennenung war selbstredend der

seit dem vierundzwanzigsten Februar ausgeweitete,

nun das ganze Land mit beispiellos schmählichen Raketen

ruinierende Kriegszug des russischen Staates gegen die Ukraine,

im Jahr 2014 mit der Überfall-Besetzung der Halbinsel Krim

schon vom Grenzzaun gebrochen. Und du drehst dich um und siehst dort,

am Theater Karlshorst, den seit 2014 nach Johannes Fest benannten Platz,

dem Karlshorster Bürger und Mit-Verteidiger der Republik, der Weimarer,

Rektor einer katholischen Volksschule und Bezirksverordneter,

im April 1933 „aus dem Dienst entfernt“ und mit Berufsverbot belegt,

nach dem Krieg als ein Stadtältester von Berlin geehrt,

Vater auch des Historikers Joachim Fest. Nachdem der Vater

sich von Anfang an gegen den Diktator und seine Partei gewandt hatte,

wandte nach dem Krieg der Sohn sich zumindest wissenschaftlich-

biographisch dem freilich toten Diktator zu und verfaßte eine Lebensbeschreibung.

Später ging er auch dem einstigen Architekten und Rüstungsminister,

unzeitgemäß Speer genannt, beim Verfassen von dessen schöngefärbten

Erinnerungen zur Hand. Beim Studium in Heidelberg gingst du nolens volens täglich

an dessen Anwesen im Schloß-Wolfsbrunnenweg vorüber, auf dem Weg

zum Seminar oder von diesem nachhause, weil du schräg gegenüber

im Klingelhüttenweg 1 wohntest. Der Name Wolfsbrunnen paßte unfreiwillig,

wenn auch der Wolfsbrunnen selber idyllisch und besuchenswert ist.

Bisweilen rollte ein Porsche über das Speersche Grundstück, und du glaubtest,

es sei Speers Sohn Albert, der, in Frankfurt, gleichfalls Architekt und Städteplaner

geworden war und es offenbar nicht für moralisch anstößig ansah,

für die scheußlichsten Diktaturen der Welt zu planen und zu bauen,

wobei er das freilich mit etlichen international tätigen Architekten

gemein hat, diesen ruchlosen Huren blutrünstiger Despoten,

was die Angelegenheit allerdings moralisch nicht weniger verwerflich macht.

Unweit der einstigen Festlichen Wohnadresse steht die Kirche

St. Marien (Unbefleckte Empfängnis), 1935 bis 1937 in neoromanischem Stil

errichtet, mit der Hauptfassade und dem Turm in Rüdersdorfer Kalkstein,

womöglich noch von der Familie besucht. Von 1905 bis 1910 war der Priester

Bernhard Lichtenberg Seelsorger für die hiesigen, noch kirchenbaulosen Katholiken.

Wegen Eintretens für die von den Nazis Verfolgten wurde er von den Nazis selber

verfolgt, eingesperrt und mißhandelt. Auf dem Transport ins KZ Dachau

verstarb er 1943. Als Märtyrer wurde er 1996 von der Kirche seliggesprochen.

Nach dem Krieg entweihten die Sowjets die Kirche als Lagerhalle

für Kohle und Möbel und als Viehstall. Du wanderst weiter, kommst zur

Trabrennbahn Karlshorst, und gehst am Rande der Anlage entlang.

Auf der Außenbahn dreht ein einsamer Traber seine Runden,

während innerhalb des Ovals Reitschüler auf Pferden schaukeln.

Der Wind tost über die leere, verfallende Tribüne, und hinten

bei den Stallungen putzen Halter ihre Pferde, während

Handwerker ihre Sachen für den Feierabend zusammenpacken.

Du erreichst den Deich auf der Ostseite des Ovals,

und ein weiterer Traber fährt jetzt mit seinem Rennwagen

seine Runden in entgegengesetzter Richtung,

auf der inneren der beiden Bahnen, zwei gegenläufige Uhren.

Östlich davon liegt ein Neubaugebiet für junge Familien.

Die Häuser tragen Pastell, als wären sie Bonbons, und hoffen auf

friedliches Beisammensein, und wirken doch unfroh,

fast wie eine Gefängnisanlage ohne Mauern.

Mädchen radeln über die Trampfelpfade,

auf dem Weg von der Schule nach Hause.

Eine alte Eiche hat einen Ast verloren,

und die Riß-Stelle sieht aus wie der „Schrei“

von Edvard Munch. Andererseits erinnert die Eiche

mit ihren erhobenen Ästen an die nackte Vietnamesin,

die vor den Napalmbomben flieht, Phan Thi Kim Phúc.

Eine Düne ist eingezäunt, eine binnenländische Sandablagerung,

von Kiefern bewachsen. Als du später von der Liepnitzstraße

zur Hegemeisterstraße gehst, glaubst du kurz, in Österreich gelandet zu sein,

weil die Häuser eingangs in Schönbrunner Gelb, auch Habsburger Gelb genannt,

gestrichen sind, die Läden in Lindengrün. Ist das nicht Rodaun?

Die Drei-Straßen-Aufgabelung Liepnitzstraße,

Hegemeisterstraße, Oskarstraße mit ihrer lässigen

Verschwenkung wirkt belebend auf dich, in der Seele,

in den Hüften, in den Beinen, und schon beginnst du

zu tanzen, während über dir die grauen Wolken nach Osten

stürmen. Diese Waldsiedlung, dörflich anmutend,

mit ihren fehlenden oder kleinen, gepflegten Vorgärten

und herausgeputzten Häusern und den radfahrenden Müttern,

hat einen außerweltlichen Charakter oder einen Charme,

als wäre sie nicht von hier und vor allem für Kinder gebaut,

für sie ein paradiesischer, verwunschener Ort. Freilich, auch hier,

südlich und östlich, jenseits des Walds, tosen große Straßen -

die Rummelsburger Landstraße und die Treskow-Allee.

Egal, wo du bist, du wirst von diesen Kraftwagen-Strömen eingeschlossen.

Der Traberweg, im ursprünglichen Teil von Karlshorst,

nach Treskows Vorname benannt, lockt dich mit seiner uralten Eichen-

Allee und den Schattengestalten der Passanten in der fallenden Dämmerung

zu sich herein. An der Ecke Traberweg und Liepnitzstraße

stößt du auf ein an Autofahrer adressiertes, altes Schild mit der Aufschrift:

„Fahr vorsichtig. Es könnte auch Dein Kind sein“.

Angenommen, es könnte keinesfalls dein Kind sein,

sollte das heißen, du dürftest unvorsichtig fahren?

Die Lehre der Geschichte lautet wohl:

Paß auf, mach keinen Mist und vergiß nicht: Alles, was du tust,

was du sagst, auch was du verschweigst, jeder Moment deines Lebens,

hat Auswirkungen auf deine Mitwelt. Zu der Mitwelt gehörst im übrigen

auch du selber, denn jede Handlung wirkt auf den Handelnden zurück.

Und die Dämmerung fällt weiter, und wie sie weiter fällt,

fällst auch du weiter aus dem Tag.

28.11.2022


FENNPFUHL

An diesem düsteren, kalten Totensonntag

siehst du, durch die Karl-Lade-Straße schlendernd,

daß die Scheiben des Büros eines Politikers

der Partei „Die Linke“ beschädigt sind;

selbsternannte, sich gleichfalls als „links“ begreifende

„Widerständige“ haben die Scheiben lädiert,

so daß sie gesplittert sind wie Spinnennetze.

Du siehst, wie sie auf ein auf der

Innenseite angebrachtes Portraitplakat

des Politikers eingeschlagen haben,

als wollten sie das Gesicht, ihr Feindbild,

zerstören, und hämmern es nur um so fester

in ihr manichäistisches Weltbild. Ihr Credo: Hier sind wir,

die aktionistischen Guten, die Gute Gewalt Ausübenden,

und da sind die Bösen, die Parteien, der Staat, die Kapitalisten,

und letztere zeichnen letztlich für alles Leid der Erde verantwortlich.

Davon läßt sich aber das „Libero“ nebenan nicht beeindrucken,

die Fußballkneipe, an deren Außenwand schon der Spiel- und

Fernsehplan für das anstehende Fußballturnier in Katar angebracht ist.

Was würden die Biertrinker und Fernsehgucker sagen,

wenn die „Widerständigen“ zu ihnen eindrängen und ihnen

den Fernseher zertrümmerten, weil der Fußball schließlich nicht nur ein

unschuldiges Spiel, sondern auch ein gekapertes Objekt der globalen

Geschäftemacherei ist, also des schlechthin Bösen,

das auf dem rechtlosen Kreuz tausender Bauarbeiter

sein zynisches Geldscheffel- und Selbstinszenierungs-Zeremoniell

erfolgen läßt? Im Nachbarhaus klopft sich der Bäcker in der Stube

der Bäckerei Rauch das Mehl vom rechtschaffenen

Bäckerhemd. Von seiner Hände Arbeit lebt er,

von der ehrlichen Hand in den goldenen Mund.

Du gehst weiter, und zwischen den hohen Wohntürmen

hast du das Gefühl, am Grunde einer Schlucht

zu wandeln. Du betrittst den weitläufigen

Anton-Saefkow-Platz, während die fröhliche Tram durch eine

wie für sie allein gewachsene alte Allee saust.

Der Kommunist Saefkow, Gegner der „Nationalsozialisten“,

hat anscheinend in Berlin die meisten postumen Ehrungen der

Widerstand Leistenden erhalten, der Platz, eine Straße,

ein Park, eine Schwimmhalle, eine Bibliothek sind nach ihm benannt,

und ein Ehrengrab, in Niederschönhausen, wird von der Stadt

auch unterhalten, aber um einen Wettbewerb geht es da natürlich nicht.

In Plötners Bäckerei und Cafe sitzen derweil

Dutzende von würdigen Damen in schickem, altbackenen Plunder

bei dünnem Kaffee und dickem Kuchen

und plaudern miteinander als wäre die Welt in Ordnung

und der Sonntag für die Ewigkeit.

Die Dämmerung schickt sich an, langsam zu fallen und

en passant im Park das Blau der Sitzbänke zu verschleiern,

das maritimste Blau, das du je sahst und in dem du gern

für immer verschwimmen würdest.

20.11.2022


PANKOW

Kennenlernenswert ist diese Hündin,

deren Name zum Schutze ihrer Persönlichkeit

nicht veröffentlicht und deren Aussehen

aus selbigem Grunde nicht beschrieben

werden kann; wäre Venus ein Hundename,

würde er zur ihr passen.

Ihr Zuhause ist die tschechische

Bierstube „Prager Frühling 1968“,

die auch eine Kunstgalerie und ein Museum

für tschechoslowakische Film- und Gesangskultur

der Nachkriegsgeschichte ist,

obendrein ein begehbares Kunstwerk.

Meist sitzt sie hinterm Tresen auf einem

Barhocker mit Lehne, sitzt auf ihrem Hinterteil

und hat die Vorderbeine durchgestreckt und

beobachtet genau, was alles ihr Lebenspartner

am Zapfhahn gelehrig verzapft. Das Sitzpolster

hat sie mit ihren Krallen zerrissen.

Ihr Lebensgenosse behandelt sie scheinbar wie Luft,

doch als er einmal auf Slowakisch etwas sagt

(sie versteht nur diese Sprache),

springt sie vom Hocker herab, dreht eine Lokalrunde

und streckt die Beine durch und gähnt.

Währenddessen vertilgt ein Gast am Tresen

mit größter Befriedigung zwei „Ertrunkene“,

süß-sauer eingelegte Brühwürste,

bei deren bloßem Anblick dir fast weh ums Herz wird,

und schaut nebenher am aufgehängten Bildschirm

das Freundschaftsspiel Türkei versus Tschechien an,

die es beide nicht zur Fußball-WM nach Katar

geschafft haben. Die Hündin schaut nicht ein Mal

zum Fernseher hoch, als wäre der überhaupt nicht existent,

anscheinend interessieren Hunde sich nicht

für Fußball. Die Hündin schließt schläfrig die Augen.

Treten Stammgäste herein, springt sie

ihnen entgegen und nimmt Streicheleien

entgegen, als wären sie die Eintrittsgebühr,

die sie zu entrichten hätten. Eine junge Deutsche

mit langen goldenen Haaren drückt und streichelt

die Hündin auf liebste Weise gute zehn Minuten,

sie verpaßt ihr sogar einen Kuß in den Nacken.

Sind die Plätze im Schankraum besetzt, geht die Hündin

umher und stellt sich an den Tischen neben die Gäste

und wartet, wartet nur kurz; denn die wissen, was sie

zu tun haben: sie streicheln. Die meisten Streichler

streicheln auch ihre Ohren und zupfen fast daran,

das scheint ein Höhepunkt des Genießens für die Hündin zu sein.

Wenn sie sich dann auf den Hintern setzt

und die Brust rausstreckt, deutet sie an, man solle

noch mit sanften Strichen ihre Brust behandeln.

Es ist diese Bierstube der Massagesalon der Hündin.

19.11.2022


NIEDERSCHÖNHAUSEN

Ein unerwartet früher Wintereinbruch,

oder ein Vorspiel des Winters,

ein Vorbote doch, mit halbtaglangem,

kräftigem Schneefall. Anfangs, am Vormittag,

allerdings hat es nur leicht geflockt,

das Flocken war ein langsames,

fast schien es, als wollte es sein Tun

wieder einstellen, ehe es gegen Mittag

den Beweis antrat, dies doch nicht tun zu wollen.

Nach und nach wurde es immer stärker,

bis es schließlich noch und noch

herunterfiel, ein Vorhang, der das Panorama,

die Stadt verschleierte. Du gingst durch die

Heinrich-Mann-Straße, an einer Bushaltestelle

stand eine alte Frau unter dem Dach,

mutmaßlich den Bus erwartend oder auch nur

darauf wartend, daß der Schnee aufhörte.

Der hörte aber nicht auf, und links und rechts

verloren sich Wohnstraßen mit ihren sittsamen,

sattsam bekannten Familienhäusern,

und der Heinrich-Mann-Platz, das große Rondell,

in dessen Mitte die Bäume sich dem Treiben

entgegenbäumten, schien dir ein guter Platz

zum Tanzen, und die Flocken tanzten auch.

Nördlich der Hermann-Hesse-Straße

lag die im Schnee schon entrückte

Schönholzer Heide, und während du gingst

und der Schnee unter deinen Schuhen knirrte,

bemerktest du, wie die Flocken dich kleideten,

ein Schneepelz hat sich um dich gelegt.

Es war Nachmittag, und im beständigen Schneefall,

Myriaden von weißen Kristallen, die herniederschwebten,

war das Licht gefiltert. Du betratst den Wald,

seitlich auf einem hügeligen Weg gingen Menschen

mit einem Hund, aber du konntest sie nur hin und wieder

sehen, hinter dir schritten zwei schneegefiederte Frauen,

eine Wiese, schneebedeckt, lockte zwei Kinder,

auf ihr eine Kugel zu bauen, der Vater vereiste

stumm daneben. Jenseits der Germanenstraße,

durch die gerade ein Bus Schnee

von der Straße pflügte, gingst du durch die Lindenallee,

die zum Sowjetischen Ehrenmal führt.

Du gingst in es hinein und gingst in ihm umher,

während dich die Furcht beschlich,

das Tor könnte vor der Zeit geschlossen und

du eingeschlossen werden mit 13200 Toten,

in der Schlacht um Berlin gefallenen

und in Gefangenschaft gestorbenen Rotarmisten,

die ihre letzte Ruhe hier gefunden haben.

Die Anlage ist voll Ernst, Pathos, Emphase;

der als Helden geehrten, ihr Leben gegeben habenden

Männer und Frauen gedenkt die „sowjetische Heimat“,

die sowjetische Übermutter für immer.

Und dir fiel das Anti-Kriegsmuseum von Ernst Friedrich ein,

Friedrich ein paradox passender Name

für einen, der nach der Devise „Krieg dem Kriege“ verfuhr,

in der Parochialstraße 29 in Mitte, einen Schneeballwurf

von der Klosterstraße entfernt, unweit der Spree,

hat er es 1923 eröffnet, ehe es, zehn Lenze später,

die Nazis verwüsteten, und an dessen einstiger Stelle

eine Gedenktafel an es erinnert, neben der rechts und links

an je drei Ketten zwei Soldatenhelme kopfüber

als bepflanzte Blumenampeln hängen.

Es ist dies eine andere Form der Losung

„Schwerter zu Pflugscharen“: Helme zu Blumenampeln;

diese „Skulptur“ provoziert, sie ist lächerlich, ist humoristisch,

ist poetisch, und sie löckt gegen das todernste Pathos.

Eine solche Skulptur wäre hier auf dem Gelände dieses

Ehrenmals undenkbar, schon der Begriff Ehrenmal ist von

einer musealen Antiquität, daß ihn heute niemand mehr

ohne Not in den Mund nehmen würde.

Andererseits, wenn die Sowjetarmee allein

in Berlin rund 80000 Soldaten „opfert“, dann ist es nach der Schlacht

gleichsam natürlich oder geradezu zwingend, die Gefallenen

zu begraben und ihnen ein ihnen Ehre erweisendes Andenken

zu verschaffen. Die Überlebenden sind das den Toten schuldig.

Jesu Wort in Matthäus 8, 22, die Toten sollten ihre Toten selber

begraben, haben sie sich nicht zu eigen gemacht.

Freilich, vielen der gefallenen Soldaten wäre es womöglich

lieber gewesen, zuhause bei den Lieben

ein „unheldenhaftes“, doch langes Leben zu führen,

anstatt hier gleich einem sowjetischen Achilleus

unverwelklichen Ruhm „zu genießen“.

Das Schicksal aber, das Zeitalter,

in das du hineingeboren wirst, reißt dich,

ob du es willst oder nicht, mit in seinen Schlund,

du kannst versuchen, es zu fliehen, oder

den Kampf annehmen, nach dem du nicht

verlangt hast; ob du am Ende durchkommst,

weiß nur die Zeit, die es an den Tag bringt.

Frei ist der Mensch immer nur bedingt, die Eltern,

das Land, die Epoche, wohinein du geboren wirst,

reden immer wenn auch schwer zu deutende Wörtchen mit,

bei allem, was du tust. Was du aber tust, tu tunlichst

tunlich.

19.11.2022


MALCHOW

Anders als Wilhelm I., König in Preußen,

kommst du nicht von Niederschönhausen,

vom Schloß her nach Malchow, sondern von

Neu-Hohenschönhausen aus, am Hechtgraben

entlang, auf des Schusters Rappen, ohne Kutsche.

Der Hechtgraben führt Wasser zum Malchower See,

von dem gelangt es über den Fließgraben zur Panke

bei Blankenburg. Der König und seine Gemahlin

Sophie Charlotte kamen häufiger hierher,

um den eminenten Minister Paul von Fuchs zu besuchen,

sie taten das auch an einem Tag im August 1704,

als der Reichsfreiherr verstarb. Ein Todesfall,

der den Kutscheninsassen auf halber Strecke

zugetragen wurde. Sie machten wieder kehrt,

mutmaßlich betroffen. Leidenschaftlich aufgeräumt,

wohlorganisiert, umsichtig war der 1640

in Stettin geborene Fuchs, erwarb das Gut

von Herrn von Barfus, ließ es ausbauen,

errichtete und renovierte Wirtschaftsgebäude,

darunter ein Brauhaus, ein Predigerwitwenheim

und ein Armen- und Waisenhaus.

Im Wohnhaus gab er, Brauhaus verpflichtet,

feuchtfröhliche Feste. Heute arbeiten hier

von Genußgiften Erkrankte auf nüchterne Weise

an ihrem Weg ins normale Leben,

sie üben es jeden Tag, nennen es den „Tunnel zurück ins Leben“,

in der Formulierung klingt sprachlich das Register des Religiösen an,

als gehe es darum, aus der Hölle der Sucht

über das nüchterne Fegen zurück

in die lichte Freiheit zu finden,

eine Erfahrung des Transzendierens, des Überschreitens,

um in ein friedliches Reich zu gelangen,

sich selber zum Reichsfreiherr über das Leben zu erheben.

Du gehst ein Stück auf dem Max-und-Herta-Naujocks-Weg,

benannt nach dem Ehepaar, das seit 1943 in seiner Hütte

in der Kolonie Wiesenhöhe die jüdische Familie Weiss

versteckt hielt, Mutter Regina und Tochter Ellen überlebten,

Vater Moritz nicht, er wurde bei einem Ausflug nach Berlin „erwischt“.

Der Malchower Teichweg bringt dich zum Wartenberger Weg,

der verkehrsreichen Straße, rasende Autos und Schwerlaster,

aber was heißt rasend, wer rast denn, rasend macht es die Insassen,

wenn jemand vor ihnen zu langsam fährt, dann hupen sie

und überholen die Ente. 30 km/h sind vorgeschrieben

was freilich keinen bekümmert, sie sind, scheint es,

Anhänger des Privatismus, die sich vom Staat,

den sie ablehnen oder dem sie längst die Gefolgschaft

gekündigt haben, nichts vorschreiben lassen.

Wer hat das Recht, mir zu sagen, wie sehr ich das Gaspedal

durchdrücken darf? Sie rasen und gasen an der Kolonie vorbei,

in der die Naujocks die Bedrohten versteckten,

je höher die Geschwindigkeit, desto weniger siehst du

die Details der Umwelt. Die uralte Eiche nebenan

im Bruchwald liegt frisch gefällt, liegt da wie ein Riese, tot.

Im Wald steht auch ein Gedenkstein für den 1934 abgestürzten

„Kunstflieger“ Günther Fries, ein Junge aus dem Dorf,

alt zwanzig Jahre, auf dem Friedhof liegt er,

die halsbrecherischen Loopings, die er flog,

waren am Ende genau das.

Auf dem Friedhof, neben den Ruinen

der im April 1945 wie die beiden Kirchen

in Wartenberg und Falkenberg von Deutschen

gesprengten Dorfkirche, in deren einstiger,

längst zugeschütteter Gruft die Fuchsschen

Überreste ruhen, hörst du ein Pferdewiehern,

es kommt vom Pferdehof nebenan,

und du bist ihm dankbar, weil es dir das Gefühl

verschafft, unter Menschen zu sein.

Im Pfarrhof hängen drei Kirchenglocken

in einem schlichten Holzschutzbau. Daneben die neue,

schmucklose Kirche. In den Blick dreht sich von Osten her

ein riesiges Windrad. Der von rührigen Naturen

herausgeputzte Naturhof Malchow bekommt

jedes Jahr feierlich erwarteten Besuch:

die aus dem Süden zurückkehrenden Störche.

Die stören sich offenbar nicht an den Hochspannungs-

leitungen, die niedrig über das Dorf gespannt sind.

An der Dorfstraße steht einsam ein Obst- und

Gemüseverkäufer an seinem Stand, und eine

gehbehinderte Frau, aus dem Bus gestiegen,

muß einen hundertemeterlangen Umweg zur Ampel machen,

weil sie über die Straße nicht kommt. Vielleicht ist ihr das so lieber,

als durch beherztes oder wagemutiges Überqueren

den Verkehr zum Einhalt zu zwingen.

30.3.2022


WARTENBERG

Neben dem einst sichtbar mit Hang zur Feinheit

und mit Hoffnung auf eine Zukunft hier betriebenen,

jetzt verwaisten, vom Benzinnebel

des Verkehrs unbehelligt vor sich hin verfallenden

Hofladen an der Dorfstraße befindet sich

ein Schaukasten aus Glas.

In ihm waren früher Mitteilungen, Angebote,

Zeiten zu lesen. Jetzt ist es dem am Wegrand

wuchernden Brombeerstrauch gelungen,

die Umrahmung des Kastens

am unteren Rand zu öffnen

und sich mir nichts, dir nichts

in den Schaukasten zu stehlen.

Da sind jetzt keine

Informationen mehr zu lesen,

sondern Brombeeren hinter Glas.

Wobei die Brombeeren hinter Glas

selber auch Informationen preisgeben.

Zum einen etwa die, daß die Natur

irgendwann wiederkehrt

und es dem von teuflischem

Ausbreitungs- und Ausbeutungsprinzip

gerittenen Menschengezücht

nicht gelingen wird,

sie auf Dauer zu zähmen.

Zum anderen, daß auch Brombeeren

sich irren und verirren können. Denn in dem Kasten

machen sie jetzt doch eine unglückliche Figur.

Und während der zehn Minuten, in der es dir

nicht gelingt, die Straße zu überqueren,

fragst du dich, was Fortschritt heute

noch bedeutet. Was hatte dieses Dorf,

dessen uralte Gehöfte und Häuser

noch passabel erhalten und an sich

nicht unansehnlich sind, davon, im Jahr 1920

nach Berlin eingemeindet worden zu sein?

Im Grunde gibt es das Dorf nicht mehr,

auch wenn einige Bauwerke noch stehen.

Das einzige, was hier herrscht, ist der Autoverkehr.

Es ist dies ein Fortschritt, der mit Verlusten

einhergeht. Wahrer Fortschritt wäre womöglich

einer, der das Wahre, Schöne Gute fördert,

ohne gleichzeitig Leichen zu scheffeln.

Das Auto an sich hat zwar etwas praktisches,

wenn es dich bei Regen trockenen Fußes

von A nach B bringt, und das auch

schneller, als mit der Postkutsche.

Wenn du aber während der Fahrt nicht aufpaßt,

und jemand kommt zu Tode,

was hast du dann vom Praktischen?

Gibt es also überhaupt Fortschritt?

Oder ist der immer dialektisch?

Liegt im Leben selbst vielleicht etwas

tragisches in dem Sinne, daß egal,

was du tust, dies immer auch ungewollt

schlechte Wirkungen hervorbringt?

Wenn du jetzt zu Fuß hinaus in die Feldmark

gehst, dann verbrauchst du, ähnlich wie ein Auto,

Energie, du wirst müde und mußt dich

auf diesen Markstein da setzen und warten, bis

du wieder zu Kräften kommst. Wo bekommst

du aber die Energie her? Irgendetwas mußt du essen,

vielleicht dieses Tier? Das wird damit nicht

einverstanden sein. Du gehst hungrig zurück

zum Dorf und weißt, es ist nicht einfach,

keinen Fußabdruck zu hinterlassen. Das ganze

Leben ist ein beständiger Wettkampf

um Ressourcen, um Waffenherstellung, um Wissen,

um Anwendung, um Fortpflanzung,

um Geschwindigkeit, der frühe Vogel fängt den Wurm,

wer zuerst kommt, mahlt zuerst, Redewendungen,

geronnenes Alltagswissen, und gegenüber

dem Bahnhof von Wartenberg betreibt ein Pole

einen Imbißstand, an dessen Biertisch

vier Deutsche hängen und Bier trinken,

sie wirken so, als würden sie auf nichts

mehr warten, nichts mehr von sich erwarten,

sie erwarten höchstens die staatliche Stütze,

um im Suff glücklich die letzten Jahre,

wenn es solche sein werden, abzusaufen,

und am Bahnsteig wartet die hier einsetzende

S-Bahn Richtung Warschauer Straße, junge

Leute steigen ein in Erwartung einer Party,

die sie in den Kiezen von Kreuzberg und

Friedrichshain feiern werden. So geht alles

seinen Gang, und am Ende

wird nichts mehr so sein,

wie es nie gewesen ist.

14.11.2022


FALKENBERG

Angesichts der Grabestafel der Eltern

der Gebrüder Humboldt,

Marie-Elisabeth und Alexander Georg,

beide starben in ihren Fünfzigern allzu früh,

das an einem Mäuerchen

bei den Überresten der einst

aus Feldsteinen gebauten Kirche

angebracht ist, denkst du nolens volens,

wie es angebracht ist,

auch an ihre Söhne, die nicht allein älter

als die Eltern wurden, sondern auch

die aufgelesenen Früchte ihres Geistes

rechtzeitig ins unsterbliche Feld

umzubetten verstanden

und auf die Weise weiter mehr oder weniger

schmackhafte Früchte in den Köpfen

der nach ihnen Lebenden wachsen

und reifen lassen können,

eine Strategie, ähnlich verfolgt auch

vom alten Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,

der, wie Fontane es beschrieb,

vor seinem Abscheiden beschied,

man möge ihm eine Birne mit ins Grab legen,

damit „er“, in insgeheimer Voraussicht,

Jahre später, wenn aus der Birne

ein Birnbaum gesprossen sei, wie zu Lebzeiten

den lütten Kindern Birnen schenken könne.

Der Kirche Stündlein freilich

schlug am 21. April 1945,

kurze Zeit bevor die Rotarmisten das Dorf erreichten.

Die über 700 Jahre alte Kirche

mit ihrem Turm sollte der Sowjetarmee,

heißt es, nicht zur Orientierung

bei etwaiger Beschießung dienen.

Genau gleich erging es den Kirchen in den

Nachbardörfern Wartenberg und Malchow,

Gottes Häuser, pulversiert, Gott ein Obdachloser,

vorübergehend, solange, bis man ihm wieder

eine Unterkunft errichtet, sein Obdachlosenheim.

Weil gleichwohl alles seine Ordnung

haben muß, weist am Eingang

ein Schild die Nutzer des Friedhofs

darauf hin, daß der Abraum zur Abraumstelle

zu bringen sei, und daß ungepflegte Gräber

eingeebnet würden. Der Abraum. Was versteht man

darunter? Jeder hat ihn vielleicht im Kopf, den Abraum,

alten Plunder, den man zur Abraumstelle bringen sollte,

die in dem Falle das Vergessen meint.

Glücklich, wer vergißt, was nicht zu ändern ist.

Zu der einen Zeit sprengen dem „totalen“ Krieg

verschriebene Nazi-„Fanatiker“ die Kirche in die Luft,

wie im ganzen „Reich“ andere gleiches

oder auch anderes, Brücken zum Beispiel,

um doch nicht zu retten, was nicht zu retten ist;

denn damit in der Gefahr das Rettende wächst,

hätte man bekanntlich zwölf Jahre zuvor

den ganzen Braunhemdenladen, und nicht

die Kirchen und Brücken, sprengen und ihre „Hüter“

zum Teufel beziehungsweise in die Luft jagen und somit

dem Rettenden Raum verschaffen müssen.

Zu der anderen Zeit ebnet man, auf einer kleinen,

dem Alltag zugehörigen Verwaltungsebene, die Gräber ein,

wenn Angehörige nicht wissen, was Pflege ist.

So hat alles seinen Sinn beziehungsweise Unsinn.

Und du ziehst weiter, gehst am Rande der Straße

und erlebst, wie der Durchgangsverkehr

das Dorf unter sich begräbt, desertierst in den

einstigen Gutspark der Frau von Humboldt,

in dem heute allein noch Bäume leben,

gehst weiter hinaus zu den Rieselfeldern

und dem Horizont ins offene Messer.

14.11.2022


RUMMELSBURG

Abends um sechs, draußen ist es längst finster,

erklingt in der Erlöserkirche

an der Nöldnerstraße mit Chor, Solisten und Orchester

im Gottesdienst die Bachkantate Bach-Werke-Verzeichnis 39

„Brich dem Hungrigen dein Brot“.

Es sind, neben antikeren Semestern,

etliche blutjunge, elaboriert-filigrane und herzensfröhliche

Christenmenschen erschienen, so daß du vorsatzlos denkst:

„Das ist das Christentum“, und nicht

jene Ausfertigungen, die in den „Medien“ geistern

mit ihren allzu oft zeitgeistlichen Einlassungen

und ihren cum grano salis grimmigen Mienen.

Und als der Chor zu singen beginnt,

hebt dich die voluminöse Gegenwart der Stimmen

fast aus der Kirchenbank heraus, und du fühlst

dich in dieser warmen sinnlichen Nähe

und in den Händen dieser sanftesten Gewalt

geradezu begütigt. Was wäre ein Gottes-,

nein: laß Gott beiseite,

was wäre ein Seligmachungsbeweis,

wenn nicht diese Kirchenmusik?

13.11.2022


ALT-HOHENSCHÖNHAUSEN

Aufzustehen, fällt dir manchmal schwer,

an grauen Tagen zumal;

das fällt dir auf, und schon gehst du

leichter, von der deutschen Sprache

mit einem Stromstoß belebt,

hinaus, in den Straßenwald hinein.

Im Sportforum kannst du weiter staunen

über die leichte 50er-Jahre-Eleganz

der Sporthalle, wie ein Banner

mit diesem einen Wort sie bezeichnet,

serifenlos. Und du gehst selber

serifenlos weiter durch den Tag, befreit von allem,

was ansatzweise Ornamenten gleicht.

Die unterschiedlichen Sportarten, hier ausgeübt

auf fünfunddreißig Sportanlagen,

von der Schwerathletik zur Leichtathletik,

von Ballspielen zum Kunstlauf in der Eishalle,

wo Mädchen ihre Eisballerina-Pirouetten

einüben, während Kati Witt ihnen

über die Schulter schaut,

haben eine ansteckende Wirkung auf dich,

du kannst dich dem Belebungsfeld nicht entziehen,

und wo drüben neben der Schwimmhalle

die Olympiaschwimmer im Strömungskanal

trainieren, springst du mit ihnen ins Wasser.

Hinter der Mauer liegen die Friedhöfe

der lokalen evangelischen Gemeinden,

es ist die Mauer für die Ewigkeit, die niemals fällt

und welche die Ruhe der Toten schützt.

Auf dem weiteren Weg, es ist schon fast dunkel,

ein fernes Blau nur ist über dem Jüdischen Friedhof

noch zu sehen, passierst du den Betriebshof

in der Indira-Gandhi-Straße,

und an den über hundert Ladesäulen,

hintereinander und nebeneinander gestaffelt,

leuchtet ein grünes Licht. Daneben stehen die Elektrobusse

und saugen im Schlaf den Strom

für die Fahrt am nächsten Tag.

9.11.2022


FRIEDRICHSFELDE

Der für Passanten schier unüberquerbare

Boulevard Alt-Friedrichsfelde,

aus den Bundesstraßen B 1 und B 5 bestehend,

von Wohnhochhäusern links und rechts steilwandig begrenzt,

tost vor Auto- und Lastwagenverkehr.

Du weißt nicht, warum du dieses Tosen

und Rauschen, unaufhörlich, in beide Richtungen,

nach dem Osten, Polen und Rußland zu, nach dem Westen,

dem Zentrum und Aachen und Dänemark zu,

nicht schön oder gar erhaben finden kannst,

so wie du das Rauschen und Tosen der Iguazu-

Wasserfälle an der Grenze zwischen Brasilien

und Argentinien schön und erhaben findest.

Könntest du dieses Tosen und Rauschen hier,

von menschlicher Technik hervorgerufen,

nicht womöglich sogar schöner und erhabener finden?

Die Wasserfälle sind natürlicher Abläufe Resultat,

das im Zuge der Erdgeschichte sich aufgrund

bestimmter physischer Bedingungen ergeben hat.

Zu bestaunen in jedem Falle. Aber der Mensch,

der Erfinder der ganzen technischen Mitwelt,

vom Rad über das Auto bis zum Flugzeug,

was hat nicht er alles, freilich auch unnützes

und gar schädliches, der Erde bewußt hinzugefügt?

Sind der Krach, der Lärm, das Tosen und das Rauschen

dieser nicht-natürlichen Klangsphäre,

jahrmillionenlang undenkbar, unhörbar,

nicht auch Ausdruck seiner beispiellosen Gabe,

die Erde selber, nach Wunsch und Wille,

wenn auch nicht immer nach

langfristig klugem Plan, zu gestalten?

Erscheint dir das, so gesehen,

nicht ungleich beeindruckender

als die Wasserfälle im Urwald?

Hier stehst du mitten im von Menschenhand

erbauten Felsen-Wald der Wohnhochhäuser,

und vor deinen Augen

rauscht und rollt und blitzt

der andauernde Strom

des automobilen Lebens.

8.11.2022


LICHTENBERG

Julia

Graureiher, du stehst seit Stunden

aufrecht auf der halbrunden Brüstung

des Terrassenbalkons am Stadtparkteich

und wartest, selbst wie versteinert,

doch hellwach, auf deinen Romeo,

wollte er auch nur als Fisch erscheinen.

Du würdest dich, um alles in der Welt,

sogleich auf ihn stürzen

und ihn verschlingen,

so ihr vereinigt werdet,

Hochzeit feiert.

Wann taucht er

durch den Spiegel

des Unbewußten auf?

Wann findet der Umwandlungs-

und Austauschprozeß statt,

nach dem du dich sehnst?

Du wartest auf den Moment,

in dem es auf alles ankommt.

Es ist ein Warten der Camouflage.

Romeo soll überrascht werden,

wenn du zu ihm hinunterpfeilst.

Amors Pfeil, dein Pinzettenschnabel,

Liebe eine Operation am offenen Herzen.

7.11.2022


FRIEDRICHSHAIN

Jeder Hund hat seine Biographie.

Auch der auf dem Balkon

in der Krossener Straße 22, 2. OG rechts,

den du im Vorbeigehen bemerkst.

Es handelt sich um einen mittelgroßen,

blondfelligen Familienhund.

Welcher Rasse er angehört, weißt du nicht,

wenn es auch für die Hundekenner

angebracht wäre, das zu wissen.

Jedenfalls hat sein Herr und Diener

aus der Balkonbrüstung zwei Segmente entfernt,

damit er besser das Treiben auf dem Platz

beobachten kann. Der Platz ist nach der einst

hier befindlichen Ansiedlung Boxhagen benannt.

Was dem Hund, der flach auf dem Balkon liegt,

mit der Schnauze nah am Abgrund, durch den Kopf geht,

wenn er die sonntäglichen Trödelmarktbesucher sieht,

weiß selbstredend niemand.

Sollte er jedoch den Grüffelo kennen,

das Ungeheuer aus dem gleichnamigen Kinderbuch,

das kratzige Klauen, herausstehende Zähne, spießige Hörner,

Stacheln am Rücken, beleuchtete Augen und eine narbige Nase hat,

dann denkt er vielleicht: Dort unten haben Hunderte

von menschlichen Grüffelos sich versammelt,

mit ihren Tätowierungen, ihren mit Stiften und Ringen durchbohrten

Lippen, Nasen, Wangen, Ohren, ihren lackierten Fingernägeln,

geschminkten Augen, vernarbten Nasen und ihren Lederjacken mit Stacheln.

Via Gärtnerstraße gehst du die Modersohnstraße hinauf

und über die nach diesem Sohn des malerischen Moors

benannte Brücke, unter der die Züge nach dem Osten rollen,

und während der Tennisclub den dich immer beschwichtigenden Klang

aufspringender Tennisbälle vermissen läßt,

kotzt nebenan auf dem Rudolfplatz ein mongolischer Vater

sich die Seele aus dem Leib.

Besorgte deutsche Spielplatzmütter alarmieren

die Rettungssanitäter, die auch bald erscheinen,

sich jedoch sprachlich mit ihm nicht unterhalten können.

Sie können kein Mongolisch und er kein Deutsch.

Wie bei einem Säugling, der nicht sagen kann,

wo's brennt, oder wie bei einem Hund, der nur

stumm leiden kann, ohne dem Veterinär seine Schmerzen

beschreiben zu können, bleibt nichts anderes übrig,

als im Krankenhaus mit Hilfe der Apparate

des leidenden Menschen Problem

zum Sprechen zu bringen.

In der Zwinglikirche räumen nach ihrem Worship

die herausgeputzten Musiker

ihre Instrumente und Mikrophone zusammen,

die Männer im Sonntagsstaat,

die Frauen in bonbonpapierbunten Kleidern

und mit Hüten in der Form von Orchideen-Blüten.

Auf der längsten Sonnenbank weit und breit,

am rechten Ufer der Spree zwischen Elsenbrücke

und Oberbaumbrücke, am ehemaligen Osthafen,

sitzen, liegen und spazieren derweil die Sonnenhungrigen

und feiern auf ihre Art jenes himmlische Phänomen,

dem sie ganz offensichtlich innig zugetan sind,

und das sie mit Licht und Wärme speist.

6.11.2022


KREUZBERG

Lastenrad

Es ist ein trüber

regnerischer Nachmittag

im November,

die gefallenen Blätter

haben sich zu einem

glitschigen Matsch vereinigt.

Du gehst die Oranienstraße hinunter

wie seit Jahren immer wieder

und ziehst dich in die Jacke

zurück, der Kälte zu entgehen,

und denkst an Orange, ans Amphitheater

mit den mächtigen Steinen,

in dem du mit der Liebe,

in der Hitze vergehend,

vor dem inneren Auge

die Schauspieler deklamieren hörst.

Dem Kunsthaus Bethanien gegenüber,

wohin du das Kind zum Flötenunterricht

bringst, reihen sich die Türken

zu einem Hochzeitscorso auf,

Limousine an Limousine,

Hunderttausende Euro schwere Karossen,

ganz vorne ein zitronengelber Lamborghini,

die Männer in ihren sie einquetschenden Glanz-Anzügen

stehen beieinander und stecken sich Zigarillos an,

auf der Motorhaube ein üppiger weißer Blumenstrauß.

Manteuffelstraße, Pücklerstraße, untergegangene

preußische Politiker- und Landschaftsarchitekten-

Herrlichkeit, wann werden die Straßen umbenannt?

Es ist nur eine Frage der Zeit,

scheint es, wie überhaupt alles untergeht

oder dem Willen der momentan

herrschenden Bestimmer unterworfen ist.

Dir schwindelt, fast fällst du hin,

und du rettest dich in die Markthalle Neun und legst dich

auf einer Bierbank schlafen, unweit des Meckatzer Tresens.

Es ist mollig warm hier herdrinnen.

Dänische Touristen und Männerpaare

schlendern umher, und die Kaffeetüten verkaufende

junge Frau steht ganz alleine, kundenlos, stoisch

hinter ihrem Tresen. Vorbildlich steht sie in ihrer ganzen

Grazilität da, eine lebende Pallas Athene.

Du ziehst weiter, ausgeruht, und vor dem Haus

von Paula Wendt am Lausitzer Platz 10,

der Gerechten unter den Völkern,

die mit ihrer Schwester Ida und ihren Arbeitgebern,

dem Ehepaar Wiegel, in der Nazi-Zeit

Juden geholfen und sie in ihrer

Einzimmerwohnung versteckt hat,

probiert eine junge Mutter

ein elektrisches Lastenrad aus, und

ihr Mann und ihr Kind schauen von der Seite ihr

dabei zu. Sie sagt aufgeregt: „Das ist

echt gewöhnungsbedürftig“ und du hörst dieses

bekräftigende Beiwort „echt“ und fragst dich,

was für dich echt gewöhnungsbedürftig sei.

Das Leben selbst? Das Sterben,

das unmögliche, alltägliche?

Immer geht im Leben etwas vorbei.

Es sind die Tode im Leben,

an die du dich gewöhnen mußt.

Menschen sind Passagiere der Zeit.

Sie passieren einander,

du selbst bist ein Passant,

und da ist die Passantin, die du

wie in Baudelaires Straßenszene

geliebt hättest. Das Vergängliche,

das Unwiederbringliche, das Verlorene,

die flüchtige Zeit, es ist, als könntest du

diesen dich zeichnenden Erscheinungen

und Lebenstatsachen

niemals entrinnen. Möglich, weil du

von Anfang an selber

vergänglich, unwiederbringlich,

verloren und flüchtig bist.

Kaputte, bettelnde Gestalten am Eingang

zum Hochbahnhof Schlesisches Tor passierend,

gehst du um 16.38 Uhr,

wie die Bahnsteiguhr zeigt,

Richtung Westen und siehst über den Gleisen

einen Abendhimmel leuchten,

als wäre er eine begehbare

Lichtinstallation von James Turrell,

eine Raum-in-Raum-Verblendung,

ein Ganzfeld grenzenlos,

und du gehst in ihn hinein

und gehst und gehst immer weiter

und findest dich am Ende

selbstverloren

nicht mehr wieder.

4.11.2022


TIERGARTEN

Versunken im Großen Tiergarten,

wo die Baumriesen

ihre Garderobe

in magnetischen Farben

den angezogenen Augen

präsentieren und wo

abgestoßene Blätter

in der Luft zerflattern,

tauchst du wieder auf.

Wünschen die Waldschlackse

insgeheim, daß Menschen ihr Farbenspiel

bewundern und sich so um ihr Wohlergehen

kümmern, und sei es allein, indem sie so,

verhext von ihrer Schönheit,

sie in Ruhe lassen?

Bussarde kreisen in der

aufsteigenden Luft

und verkünden mit ihren hohen Schreien

das Evangelium der

wärmenden Sonne.

Kleinkinder sitzen unten

spielend im Laub,

und wenn sie die Blätter in die Luft werfen,

schreien sie botschaftslos

vor Freude.

Die Bänke im Rosengarten,

schattenlos,

sind belegt von jenen,

die der Sonne

sich ausliefern,

ihrer Behandlung

des Gesichts.

Die Spuren der vergangenen Jahre,

zu entziffern auf den fazialen Urkunden,

sollen in der kosmischen Bestrahlung

ohne Skalpell verblassen.

Der Mensch strebt nach

Alterslosigkeit.

Eine Libelle fliegt herbei

und setzt sich auf den Handrücken,

offenbar, um sich gleichfalls

zu sonnen. Ein Gärtner harkt hinter der Hecke,

und von der Straße des 17. Juni

dringt der kaum aufhörliche Strom

des Autoverkehrs.

So hört die Zeit auf, zu fließen.

Erst als die Sonne sinkt

und die Schatten wachsen,

werden jene auf den Bänken

an die Zeit erinnert,

die durch sie selber fließt.

Sie stehen auf

und gehen,

lassen die Leerstellen zurück,

die Zeichen, die von ihnen erzählen.

Glänzen durch Abwesenheit,

Gräber, Zeichen,

Zeichen des Glanzes

der so Anwesenden.

20.10.2022


LÜBARS

Die Pferde adeln das Dorf.

Ihr Wiehern soll

den Zaun entriegeln,

als wollten sie

mit dir durchgehen,

dich behutsam küssen,

und schon siehst du dich,

geschwind zu Pferde,

mit ihnen über die

Barnimer Dörfer fliegen.

Das nördliche Grenzdorf

Berlins mit seinem Anger,

der die Kirche umschließt,

und dem Krug und dem Tanzsaal,

ist das geographische Pendant

zu Marienfelde ganz im Süden.

Beide haben in der Nachbarschaft

künstliche Hügel,

heute geschützte Landschaften,

früher Müllberge.

Jenseits der wenigen

eiszeitlichen Wellen

der Landschaft

sind das die Hügel hier:

Trümmer, Abfall, Schutt, bewachsen.

Ein Findling liegt auf der Kirchwiese,

auf dem Acker von Bauer Rosentreter

1956 geborgen. Wer wird dich einmal finden?

Der Maulbeerbaum

an der Südseite der Kirche

wächst schon länger als zweihundert Jahre.

Friedrich II. von Preußen

hatte in wirtschaftlicher Rivalität

mit China seinen Untertanen

die Pflanzung und den Einsatz

von Seidenspinnern befohlen,

um von den Waren aus Fernost

unabhängig zu sein. Die Maßnahme

schlief dann wieder ein,

weil die Bauern wenig Lust auf die aufwendige

Haltung der Raupen verspürten; so stehts auf einer

Tafel in der Kirche. Aber der Gedanke, den Staat

unabhängig zu machen, von freiheitsfeindlichen

niederhaltenden Knebelreichen,

scheint prinzipiell klug zu sein,

unabhängig davon, daß auch der Preußenfritz

ein zynischer Soloherrscher war.

Es ist warm, sommerlich.

Die Felder stehen im Glanz.

Eine Reiterin prescht

an der hügelan

führenden Reihe

uralter Eichen

im Galopp vorbei,

ein Mann rennt mit einem zweiten Pferd hinterher,

er führt es am Seil und findet noch Zeit,

Hallo zu sagen.

Vom Plateau der Lübarser Höhe,

dem ehemaligen Abfallberg,

85,3 m über NHN,

läßt sich im Süden

der Fernsehturm, das Rote Rothaus,

der Potsdamer Platz, und von einer Stelle

weiter westlich aus, sogar das Schöneberger

Rathaus und das skelettierte

Hochhaus des Steglitzer Kreisels

sehen, die infame Investorenruine.

Wo früher die Bezirksverwaltung

verwaltete und eine öffentliche Kantine

unterm Dach die erschwinglichsten Tische

und das schwelgerischste Panorama bot,

sollen eines Tages Luxuswohnungen

einziehen. Nach Nordosten blickend

siehst du die höchste, mittlerweile begrünte

Berliner Erhebung, die ehemalige

Bauschuttdeponie der Arkenberge.

Westen zu befindet sich ein großer

Wiesenabhang in Richtung der

wie eine Kreidefelsenküste schroff einsetzenden

Großsiedlung des Märkischen Viertels

mit seinen zehntausende Menschen

beherbergenden Hochhäusern.

Am Fuß des Hangs lassen Kinder

und Erwachsene Drachen steigen,

ein Mann läßt von der oberen Hangkante

sein ferngesteuertes Modellflugzeug

gegen die Wellen kämpfen.

Der Wind wird stärker, das Laub

der Laubwälder leuchtet suggestiv.

Eine Eiche entläßt im Wind Eicheln und Blätter

und bombardiert die Spaziergänger damit.

Der Himmel am Horizont wird leicht schleierig,

und so verschwimmt die Sonne in ihm.

Zwei Gabelweihen stehen nördlich der Siedlung

Rathenow hoch in der Luft.

Die Blankenfelder Chaussee

eine goldene Laubwand.

Unter den Eichen sitzt eine junge Frau

und liest. Die Osterquelle blitzt.

Nach dem Hangmoor tauchen

die Mähwiesen auf, Futterareale für

die Störche im Juni.

Und so verlierst du dich

immer weiter gen

Tegeler Fließ.

17.10.2022


SCHÖNEBERG

Papyros

Da bist du wieder,

auf dem Insulaner,

auf tausendjährigen Trümmern

ausgebombter Häuser,

liegst neben der Sternwarte

in der unbewohnten Sonne,

nah der alten Umgebung,

fern vom neuen Ort,

an dem du nicht

heimisch geworden bist.

Am alten fühlst du dich

auch nicht mehr zuhause.

Wohin jetzt mit dir?

Es reihen sich goldene

Oktobertage aneinander,

wie sie goldener nicht

sein könnten. In ihnen,

ihrer Wärme, in den

Sonnenballaden, dem klaren

Licht und den fallenden

Blättern fühlst du dich aufgehoben.

Schwinden die Tage, orakelt

eine Stimme in dir, wirst du selber fallen.

Ein neuer, bezaubernder Einfall

wird dich, so hoffst du, auflesen,

wird dich aufheben, als

wärst du ein kostbares Blatt,

wert, in ein Buch gebettet zu werden,

wo es unter seinesgleichen

aufgehoben sein mag.

Aber kann man dich

lesen? Bist du ein

beschriebenes Blatt?

Mit den Jahren

wird aus jedem

unbeschriebenen

ein beschriebenes.

Und so, wie du dich

dem Leben verschrieben hast,

verschreibt sich auch das Leben dir,

verschreibt sich dabei auch.

Ins Buch der aufgelesenen Blätter

kehrst du eines Tages heim.

12.10.2022


MARIENFELDE

Als der letzte Gast am Nahmitzer Damm, auf Höhe der den Damm querenden Marienfelder Allee, deren Bäume hier abwesend glänzen, aus dem von Westen, von Nikolassee her gekommenen, noch im Stehen vom Dieselmotor rüttelnden Bus steigt, nachdem er zuvor vom Busfahrer ins Freie komplimentiert worden war, denn ihm war entgangen, das Ende des 112ers sei erreicht: „Mal herhörn, meene Ische, dit is Endhaltestelle, da müssen Se raushopsen. Oder wollnn der Herr wieder mit zurückejondeln? Kost aba zwee Mark extra, und ick weeß nich, ob Se die jerade beiham!“, da, in diesem Augenblick, umtost ihn der vorüber- und hindurchheulende Orkan, ihn in Gänze ergreifend, ein Krachgesamtwerk, hör-, sicht- wie riechbar: Alles kracht auf ihn nieder, kracht vorbei, schwebend, Autos, Laster, Menschen krachen allesamt, zerkrachen, als wären Menschen auch Laster, könnten es sein, belastender als die fahrenden, rollenden, Menschen, mit ihrem bloßen Aussehen, ihrer Anmutung, wie man sieht, spürt, wahrnimmt, die sie anderen zu verstehen geben, Krach schlagend, krachende, zerkrachte Existenzen, andere als die „üblichen“, sie erscheinen jeder für sich als ein Ausdruck von Krachsucht, versuchen auch, mehr oder weniger bewußt, die anderen mit ihrem Krach zu verkrachen. Als der gerade noch letzte Gast nun aber, gegenüber, einen von der Sonne beleuchteten Kiesweg, der in eine Kleingartenanlage führt, einschlägt - was verstünde man unter einer Großgartenanlage -, verläuft es, das Krachen, sich zügig, versickert, wird es still, Stille tritt auf, macht sich bemerkbar, stellt sich vor, sie stillt, beruhigt ihn, Menschen, von der Unruhe bewegt, gelangen, schlagen sie einen leeren Kiesweg ein, dorthin, wo die Unruhe in Ruhe umschlägt. Gehend, weiter gehend, eher ziellos, da ohne Karte und ohne Plan, allein die Wege führen, verführen ihn, leiten ihn auf ihren Wegen, gelangt er, Schritt für Schritt, in die Welt eines einst, heute nicht mehr, brandenburgischen Dorfangers. Es ist jener Teil, buchstäblich groß wirkendes Reich, das jetzt Alt-Marienfelde heißt, da in der Mitte des Dorfs, sofern anfänglich von Dorf zu reden ist, es war doch erst undörflich, vor achthundert Jahren, bauernhöflich wars, wo in der Mitte die Kirche ragt, gebaut aus rohen, sauber gemetzten Feldsteinen, seit dem Jahr 1220 oder 1240 nach der Zeitrechnung, das älteste erhaltene Gebäude der heutigen Stadt Berlin. Vor der Kirche ruht ein Teich, Löschwasser für die einstigen Anwohner, da ist die Kette aus Menschen, die notgedrungen darauf brennen, Eimer für Eimer vom Teich zum lichterloh brennenden Hof weiterzureichen, machtlos im Gefecht mit den wie immer unersättlich fressenden Flammen, Urbild der feuerspuckenden Drachen? Eine Frau steht am Kircheneingang, und sie ruft ihm zu, herzukommen. Sie führt ihn ins Innere, in eine weitere Stille, nicht nur weltabgeschieden, auch abgetrennt vom Dorf, es ist, als wanderte er in einer urzeitlichen Höhle mit dem Abbild Gottes an der Wand.

15.5.2022


HERMSDORF

Vom Platz, nach Frau Dr. med. Ilse Kassel benannt, damit gleichzeitig, vermittelt, auch nach deren Tochter Edith, Frau Kassel lebte von 1902 bis 1943 und wählte auf der Flucht, dem buchstäblichen Wegrennen vor dem Verhaftungsversuch durch die Gestapomänner, den Freitod in der Netze, die Tochter lebte von 1937 bis 1944, sie überlebte in der Netze und kam, nach einjährigem Aufenthalt in Theresienstadt, am 25. Oktober 1944 nach Auschwitz, vom Platz führt eine lange Straße den Hang hinab, die Wickhofstraße; die hat einen Schwung und erinnert die Spaziergängerin an eine in die Länge gezogene Sprungschanze, die obschon abwärtsführend in ihren Augen ein sie erhebendes Gefühl auslöst, so, als würde sie in die Lüfte getragen, dabei bleibt sie auf dem Boden stehen; allerdings fühlt sie einen Schwindel, den der gleichzeitig erblickte Abgrund auslöst. Während der Platz in ihrem Rücken „liegt“ beziehungsweise „ruht“, merkt sie: nie habe sie ein solches Kindergeschrei vernommen; Kinderstimmen sind normalerweise beruhigendste Musik in ihren Ohren, doch empfindet sie dieses Zetern der Kinder hier als nachgerade obszön; es ist auch kein übliches Spielplatzkindergeräusch, sondern es ist so, daß die Kinder unentwegt brüllen, sie sprechen gar nicht normal miteinander, sie schreien einander aus vollem Halse an, es ist ihr unerklärlich, auch auf dem benachbarten Bolzplatz schreien die schon fast jugendlichen Kinder unausgesetzt, während sie dem Ball hinterherhetzen, es ist als gäbe es keine andere Form des Sprechens als die des Schreiens, und obschon sie so umtost von diesen sie rundheraus zum Davonrennen animierenden Mißklängen kaum stehen bleiben kann, bleibt sie doch stehen und wendet den Blick nach rechts und sieht das stattliche Gebäude, in dem auch Frau Kassel gewohnt hat und das jetzt in diesem weichen Nachmittagslicht und dem Anlanden der Sonnenstrahlen auf dem Dach und in den Bäumen und den Zweigen und im Garten auf dem junggrünen Rasen verträumt („verträumt“? unwirklich?) im aufbrechenden Frühling, an einem Tag im April des Jahres 2022, vor Anker zu liegen scheint; es scheint dies wenigstens dann zu sein, wenn man bereit ist, Häusern die Fähigkeit zuzusprechen, vor Anker zu liegen wie Schiffe; Häuser sind doch wesentlich auf dem Festland verankerte Schiffe, und Baracken im Osten sind Galeerenboote, längst vom Sturm der Zeiten hinweg in die Tiefe gerissen. Sie denkt daran, wie sie vorhin noch auf dem kleinen dreieckigen Platz an der Ecke von Heinsestraße und Backnanger Straße in der Sonne zum Stehen kam und sich dabei überlegt hat, auf der Terrasse der Café-Feinbäckerei Laufer eine Pause einzulegen, aber sie beim besten Willen nicht sagen konnte, wieso sie eine Pause einlegen sollte. Eine Pause von was? Vom Leben? Aber das Leben geht auch in den Pausen weiter, man kann im Leben nicht pausieren, auf eine Pausetaste drücken wie bei einem historischen Dokumentarfilm, den man im Rahmen einer Aufführung sich zuhause anschaut. Du kannst eine Pause machen, aber nicht vom Leben, auch in der Pause bist du am Leben, auch in der Pause ist Leben, und was für eines, die Pause ist mehr als ein Span des Lebens, und wer weiß, vielleicht ist das Leben gerade in der Pause so sehr am Leben wie es anderswann nicht am Leben ist, wenn die Geschichte tobt, die „Geschichte“. Aber wer sagt denn, daß du nur dann, wenn du keine Pause machst, erst richtig lebst, vielleicht ist es doch umgekehrt, erst in der Pause kommt dein Leben zu sich, erst in ihr kommt es sich selber zu Bewußtsein, wird es sich seines Lebens, seiner selbst bewußt. Und überhaupt ist das Leben eine Pause von der Ewigkeit. Und jetzt ist sie nach Durchlauf durch die Schloßstraße hier gestrandet und macht doch eine Art Pause, sie hält freilich eher inne, als daß sie eine Pause macht, und denkt an das so freundlich und geradezu normal begonnene Leben der Ärztin Frau Dr. Kassel und von deren Tochter Edith, welche nie auf einem solchen Spielplatz wie der, der jetzt nach ihrer Mutter und damit gleichzeitig, vermittelt, auch nach ihr benannt ist, spielen durfte.

11.4.2022


PRENZLAUER BERG

An dem Café in der Greifenhagener Straße, unweit der nach der Straße benannten Brücke, mit dem Rücken zur Hauswand sitzend, entdeckt die Betrachterin jenseits all der Bäume mit ihren frischen Ästen mit einem Mal etwas, das sie in der Form, will ihr scheinen, noch nie gesehen hat: eine Kirche. Dabei hat sie die Kirche schon oft gesehen, ist x Mal an ihr vorübergetrödelt (es gibt auch einen Trödelladen nahebei), und immer war die Kirche da; aber erst jetzt hat sie das Gefühl, sie zum ersten Mal als sie selbst zu sehen, und das, obwohl sie inmitten des Pflanzenwerks nur zum Teil zu sehen ist. Die Außenwände blicken zwischen den Ästen mit ihren sich schnell bewegenden Blättern hervor, und wie sie das tun. Nämlich in einer Ruhe, die es in sich hat und die eben ganz in sich ruht. Aber gerade in dieser Ruhe gelingt es der Kirche, ihre Ruhe auf die Betrachterin zu übertragen. Es ist als beträte diese die Kirche, und das gewölbte Dach schlösse sich über ihr und begrübe sie unter sich, und sie versänke im Boden.

19.5.2022


STEGLITZ

Als der Betrachter an einem der Maientage des Jahres Werweißes (jede Jahreszahl, freiheraus gewählt, wäre die richtige) des frühen Abends, es war Sonntag, von der Plantagenstraße in die Südendstraße eher beiläufig denn beabsichtigt einschwenkte, stand die Sonne noch hoch. Am Saum der Linden glitzerten die Spitzen mit ihren Blättern, ein fast unhörbares Rascheln. Der Betrachter blickte die Allee entlang, die in weiterer Entfernung abwärts führte und dort eine Stille zeigte, die ihm die Illusion von Frieden schenkte. Die Straße war schattig, und auf dem Gehsteig schwangen im Rhythmus die Schatten der Äste. Der Rhythmus in Verbindung mit dem Licht der Sonne auf den Feldsteinen, wo die Asphaltdecke weggebrochen war, hypnotisierte ihn, und für Sekunden ging er zu einem gemauerten, mit Blumen und Kräutern bepflanzten Rondell und setzte sich, um die Augen zu schließen.

15.5.2022


STADTRANDSIEDLUNG MALCHOW

Im Ullerweg hört er, vorhin noch am Blankenburger Pflasterweg in den Anblick und, noch mehr, in den Anduft eines über und über blühenden Weißdorns versunken - die beiden haben beruhigenden Anklang gefunden - und anschließend in der Sonne nicht anders denn versonnen durch die Feldallee des Mörderberges vor und zurück und rechts und links im Tanz kaum von der Stelle kommend, hört er also wie aus dem Nichts das Rauschen einer Kiefer. Welch ein Rauschen? Ein wortgetreu unheimliches, das, von der Krone kommend, gleichzeitig ein heimliches ist. Unversehen, unverhört, vertrauenerweckend, in gleicher Weise berückend und entrückend, ein Tönen, das dem so Hörenden wie keines je, an das er sich erinnern könnte, den Grund seiner Innenwelt wegspült und ihn auf die Weise entrückt in ein von Grund auf anderes Land, wo ihn die Fremde, die Entfremdung von allem ihm je Vertrauten, erwachen und zu sich kommen läßt.

27.3.2022


MOABIT

An der U-Bahn-Station Turmstraße weist vor dem Einsetzen der Rolltreppe an der Wand ein Schild in serifenloser Schrift den Passanten an: Handlasten und Tiere müssen getragen werden. Davon angesprochen, bleibt er stehen, während schon die nächste U-Bahn einfährt und ein Besen aus Laub und Staub den Bahnsteig fegt. Im Zeitungskiosk fällt Licht von der Decke, und der Verkäufer gähnt. Den Interpreten des Schildes beschleicht das Gefühl, als solle er sich selber tragen, und er kommt nicht vom Fleck. Während die Passanten sich entfernen, ist ihm zumute, als hätte jemand ihn in eine Zeit gezaubert, in der das Schild angeschraubt wurde und in der es vermeintlich Grund gab, die Anweisung zu machen. Welche Handlasten? Welche Tiere? Zeit, aufzuwachen und die Treppe zu nehmen, die stehende, auf der der Passant selber geht. Er sieht sich die Treppe hinaufgehen und nimmt zwei Stufen auf einmal, um sich einzuholen.

4.9.2019


Wegmarken

Verliere dich. (Karl Stein)

Finde mich. (Nora Wolkenhauer)

 

 


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