DIE TERRASSEN DES
PHILOSOPHISCHEN GARTENS
|
|
WELTRANDNOTIZEN Sammelsurium Weltrandnotizen: Randnotizen am Weltrand. Sie sind unsystematisch, unmethodisch, unorganisiert, ungeordnet, planlos, chaotisch, improvisiert, aus dem Stegreif und ziellos, wie, womöglich, der Lauf der Welt. Sie sind so, wie sie sind; ein Sammelsurium. Ein Sammelsurium ist ohne seine scherzhafte lateinische Endung ursprünglich ein Sammelsur, ein sauer angemachtes Gericht aus gesammelten Speiseresten. Das Wort wird in der Regel abwertend gebraucht; hier ist seine Verwendung aufwertend, indem die Betonung auf das Scherzende gelegt ist. Das Sammelsurium ist gemäß üblichen Wörterbüchern etwas, das sich mehr oder weniger zufällig beieinander findet und von unterschiedlicher Art und Qualität ist. Redewendungen zitieren ein kunterbuntes Sammelsurium, ein Sammelsurium von Stiften oder ein Sammelsurium von Maßnahmen, die nicht greifen etc. Die Bedeutung von Randnotizen ist geläufig, aber Weltrand? Wenn die Welt das Universum ist, dann liegt ihr Rand nicht am Rand, sondern, weil es unendlich ist, überall. Weltrandnotizen sind an den Rand geschriebene Notizen über die Welt, die sich am Rande verstehen, ohne mit ihr zu Rande zu kommen. Matthias C. Müller, Berlin am 23.5.2023
Die in deinen Augen wissenschaftlich und menschlich angemessene „Religion“ ist die Nicht-Religion. Sie läßt die Frage nach Gott oder dem Warum und dem Geheimnis des Universums und des Lebens nolens volens offen. Wer von dieser „Religion“ sich angesprochen fühlt, versammelt sich womöglich mit Gleichgesinnten hin und wieder zu „Gedenkfeiern“, auf denen dieser Fragen gedacht wird. Fuß fassen; prominente Aufgabe des Lebens. Auch wenn du sie löst, am Ende tragen sie dich doch mit den Füßen voraus aus dem Haus. Im Haus ist kein Bleiben. Am Anfang allerdings kamst du mit dem Kopf voraus auf die Welt und erblicktest ihr unvergleichliches Licht. Abends bringst du den Fernseher zum Einschlafen. Im Sommer möchte auch das Meer baden gehen. Aus einem Elefanten eine Mücke machen - Aufgabe der Medienkritik.
Das Schaf im Wolfspelz - Überlebensstrategie.
Der Winter ist auch die Flucht in die Zeitlosigkeit. Mit dem Beginn des Vorfrühlings, den Frühblühern am Boden, dem wieder hörbaren werbenden Gesang der Vögel, den längeren Tagen, kehrt auch langsam die Zeit ins Bewußtsein zurück, erwacht sie aus ihrem Winterschlaf, schlägt sie ihre Augen auf und sieht, wie die Welt wieder in Bewegung gerät, das Karussell des Lebens sich zu drehen anschickt.
Rhythmen des Lebens: Der Spaziergang die Atempause in dem von Pflichten und Notwendigkeiten eingezurrten Alltag. Geh spazieren und sei für technische Anrufe unerreichbar; auch, damit die Umwelt dich anrufen kann, damit du die dich anrufenden Naturen, Häuser, Menschen hören kannst. Ob du den Hörer abnimmst und etwas sagst, steht auf einem andern Blatt. Wichtig ist, daß du überhaupt in den Bereich der Möglichkeit kommst, angerufen zu werden.
„Rindergeschnetzeltes“: wahrlich ein Massaker (auf dem Teller des Nachbarn).
„Hinweggenickt“ - nach einem Schlag ins Genick.
„Nicken“: „ja“ zum Ausdruck bringen, schlafen (wegnicken, einnicken, ein Nickerchen machen - kurzweilige deutsche Sprache).
„Die reifen Ähren nicken im Wind“ - ihre Antwort auf den fragenden Blick des Bauern, ob die Zeit zu ernten gekommen sei.
Auch die Zeit ist nicht immer reif; du mußt den Moment erkennen, da sie reif ist und dann handeln (den günstigen Augenblick - den Kairos - nicht verstreichen lassen).
Bei einer Preisverleihung warten die Prominenten mit sich selbst auf. Wohingegen die Zaungäste darauf warten, daß der Gastgeber, nach den langwierigen Lobeshymnen und der endlich erfolgten Verleihung, zum Umtrunk einlädt und mit Käselachsschnitten und Champagner aufwartet.
Schreibst du mit Bleistift oder mit Tinte? - Mit beidem.
Ein Friseur bietet „Grauhaarkaschierung“ für 13,50 Euro an. Für das Wort wärst du bereit, noch mehr zu zahlen. Im Idealfall heißt anderen etwas vorzumachen, sie bemerken nicht, daß du ihnen etwas vormacht. Anderen etwas vorzumachen heißt auch, sie verstehen, wie sie es machen sollen.
Sich selbst etwas vorzumachen heißt entsprechend einerseits sich mehr oder weniger bewußt selbst zu belügen und andererseits einen Entwurf seiner selbst vorlegen und ihn einlösen.
Das Hinterstübchen, kleiner Ort in einer Wohnung. Behalte es im Hinterkopf. Der Himmel blaut, als der Zug durch den Regen den Bahnhof verläßt.
Die Unstrut ist über die Ufer getreten.
Wer sich um sein Leben kümmert, entgeht dem Kummer. Schiller nannte seine Frau Lolo. Was hält einen im Innersten zusammen? Etwas äußeres.
Wer alt stirbt, hat das sinnlose Ganze überstanden. Wer jung stirbt, hat es früh vollendet.
Warum das Leben zu einem sinnvollen Ganzen abrunden wollen? Ob sinnlos oder sinnvoll, du hattest das Vergnügen, es zu sehen.
Es kann wichtig sein, offen für neues zu sein, es ist wichtig, offen für altes zu sein. In Rede stehen, in Rede gehen. Gewisse natürliche Erscheinungen werden im Moment ihres buchstäblichen Erscheinens oft nicht wahrgenommen, nicht erhascht. Plötzlich sind da Knospen, plötzlich sind da Blüten, plötzlich schneien sie durch die Lüfte, plötzlich sind da Blätter, plötzlich sind da kleine Äpfel etc. Was jeweils erkennbar wird, ist aber nicht „plötzlich“ da, sondern entsteht unmerklich, „fließend“. Es sind fließende Übergänge vom Zustand A zum Zustand B etc. Im Herbst werden die Äpfel geerntet, und wenig später sind da plötzlich wieder Knospen. Das Leben selbst ist ein großer fließender Übergang, aus unzähligen fließenden Übergängen bestehend. Alles Lebende findet sich in einem einzigen fließenden Übergang wieder.
Auch bei Sonnenschein hast du das Gefühl, die Welt nur im Zwielicht zu sehen. Aus dem Brief eines Ungenannten: „Fin de Siècle, ein Zeitalter der Illusionen scheint zuendezugehen. Ares hat wieder die Bühnen weitgehend für sich. Nicht nur der Krieg der Raketen und Gewehre, auch der Krieg der „Bürger“, die keine Bürger sind, das Gegenüber nicht als Rechtssubjekt achten, ein Welt„bürger“krieg hebt an. Das Böse erhebt mit jeder neuen Generation sein Haupt. Es gibt keinen allgemeinen gesetzmäßigen „Fortschritt“, keinen planetaren, irgendwann notwendig sich einstellenden Endzustand mit lauter rechtstaatlich-friedlichen Republiken, in denen die Bürger unegoistisch und sozial eingestellt ihr persönliches Glück machen. Solange Menschen Menschen sind, wird es auch die Bösen geben. Es gibt Phasen des rechtstaatlichen Friedens, des öffentlichen Glücks, ja, die gehen aber vorüber, weil die in ihnen lebenden Bürger, die Politiker ihrer Zeit, schwach werden und dem Bösen wieder Tür und Tor öffnen. Was bleibt, sind hohle Phrasen, subjektiv gut gemeint, objektiv zynisch und hilflos, Steigbügelhalter für Fanatiker.“
Die Situationen und den langen Fluß des Lebens miteinander verbinden. Situativ wach sein, „da“ sein, versunken in den Kairos, und doch gleichzeitig den Fluß sehen, ihn in seiner Gänze wie einen fließenden Teppich aus Situationen überblicken.
Oder, um zu Monets „Bassin aux Nymphéas“, zum „Seerosenteich“, in Giverny zu wechseln: Situativ sein wie ein Farbfleck und gleichzeitig par distance das Bild des ganzen sehen. Farbfleck und Seerose gleichzeitig sein. Es gleiten die Tage vorüber. Wie Segelboote auf dem Meer, langsam unaufhaltsam.
Sie schwamm in einem See. Ein See aus Stille.
Die Jugend glaubt, jetzt beginne ihre Zeit, während diese schon an dem Ast sägt, den sie gerade erst erklommen hat. Menschen, die an Verschwörungen glauben, überschätzen ihre Wichtigkeit. Kein Staat, keine Gruppe würde sich die Mühe machen, die Bürger oder andere zu betrügen. Die Menschen betrügen sich schon selbst.
„Erkenne dich selbst“ heißt eigentlich: „hör auf, dich zu betrügen“. Das freilich ist aussichtslos.
Jeden Morgen das Gefühl, in einem Festsaal zu erwachen. Freilich ist da kein Fest, und die Gäste sind längst über alle Berge. Gedanken formulieren, die nicht für den Verfasser oder dessen Denken stehen, sondern allein zum Denken anregen. Darauf kommts an.
Warum heißt der Drahtesel nicht Drahtpferd? Finden sich in Indien Drahtelefanten, auf der Arabischen Halbinsel Drahtkamele, in Afrika Drahtstrauße? Hat ein Künstler je einen Drahtkentaur geschaffen, Oberkörper Mensch, Unterkörper Fahrrad? Drahtkentauren, die auf Draht sind und einen guten Draht zueinander haben? Einen Draht, der durchaus auch glühen kann? Glühdrahtkentauren, knutschend?
Ein anderes Wort für Christentum: barmherzig sein ohne Ansehen der Person.
Der treueste unter den Lebensgefährten ist der Spiegel. Tag für Tag, Jahr um Jahr begleitet er dich und hat dich noch nie betrogen. Es war ein gewöhnlicher Tag. Das heißt, er war so ungewöhnlich wie alle anderen.
Immer wieder verirrt er sich in seiner Wohnung. Dabei hat sie nur ein Zimmer. Sag so viel wie nötig und nicht so viel wie möglich. Der Mai ist ein, im Grunde, monotoner Monat. Oder sollte es nicht monoton sein, wenn einer nur glänzen und schön sein kann und sonst gar nichts? Die Tage gehen ins Land. Ja, es ist so. Es gilt indessen auch: Die Tage gehen zur See. Ihnen wohnt dann eine entriegelnde, geradezu betäubende, Ewigkeit ein, als stündest du auf einem Küstenberg und versänkest im Anblick des in der Sonne getäfelten Meeres. Gleichzeitig hörtest du, wie das Meer in seinem gleichmäßig atmenden Rhythmus am Ufer bricht. Die gleichzeitige Einheit der Wahrnehmung von scheinbar Ewigem und Endlichem läßt dich ein virtueller Bewohner beider Welten sein. Das ist, in deinen Augen, auch das Geheimnis der Land- und Seeschaftsgemälde von Caspar David Friedrich. Der in ihnen versinkende Betrachter fühlt die ihn erhebende Kraft, mit der er zu einem Einwohner der beiden Welten wird. Der Mensch ist unbeirrbar in seinem Irren. Die Zeit ist die Ermöglicherin, dann erst, womöglich, „mein Mörder“ (Ingeborg Bachmann: Strömung). Und auf das erstere kommts an. Die Zeit ist deine Wohnung, in ihr bist du zuhause. Mag die gebaute Wohnung auch zugrundegehen, bleibt dir doch die Wohnung ohne Wände. Mag diese sich auch immer wandeln, wirft dich niemand aus ihr bis zum Tod. Es wäre doch gelacht, hätte der Mensch nichts zu lachen.
„Spielen“ (Schiller), tanzen, lachen, singen, lieben, dichten und über den Ursprung der Welt, über die Erde und den Menschen nachdenken macht den Menschen ganz. Und das Trauern und das Traurigsein, gehört das auch zum Ganzsein des Menschen? Ja, wenn darin der Impuls der „guten Laune“ (Kant), des Enthusiasmus, des Aufstehens und Weitermachens enthalten bleibt. Die du gerne, mit Freude und Gewinn anhörst und die dich ebenso anhören, gehören zu deinen Angehörigen.
Steh auf und laß dich und dein Leben nicht im Stich. Stich in See und bereise die sieben Weltmeere des Träumens. Die Zukunft kennt keiner, wenn gleich sie sich immer abzuzeichnen beginnt. Die Gegenwart ist das sichtbare Abzeichen der Vergangenheit, deren laufende Spitze. Diese Spitze, unendlich schmal, läuft in die Vergangenheit und gewinnt rasch an Größe. Begegnen zwei Narren sich in einem Narrenhaus. Sagt der eine: „Warum sich zum Narren halten lassen, wenn man sich selber zum Narren halten lassen kann?“ Antwortet der andere: „Ich werde mich doch von einem Narren nicht zum Narren halten lassen!“ Zahnarzt für zahnlose Tiger sein.
Die Kunst, kunstlos kunstvoll zu sein. Klatschmohnpresse.
Draußen im Lichtspieltheater der Natur. Das Goldgewitter auf dem Meeresspiegel.
In der Werft das Auslaufmodell. In der Näherei das Einlaufmodell.
Jeden Tag den Ton finden, der die schlummernden Talente weckt. Das Gewicht einer Wolke bemißt sich nach dem der von ihr gefüllten Regentonne. In der Regentonne legt die Wolke sich schlafen.
Hast du eine Bestimmung? Das bestimmst nur du selbst. Als der Krieg ausbrach (der Zweite Weltkrieg), weinte deine Großmutter. Als der Überfall auf die Sowjetunion begann, sagte dein Großonkel: „Jetzt verliert der Hitler den Krieg.“ Wer das Essen nur so hinunterschlingt, legt die Schlinge um seinen Hals. Unheimlichste Begegnung die, in der du dich selber triffst. Wer weiß schon wirklich, wem er da begegnet.
„Wo findest du dich wieder?“ „Was heißt wieder? Habe ich mich je gefunden?“
Was an Menschen nicht gefällt, ist, wenn sie keine Form haben, unförmig sind. Es tut gut, in Form zu sein. Menschen sind nur da ganz Mensch, wo sie in Form sind. Mensch, sei in Form, sei eine Form. Wo Formen einander begegnen, wird alles oder doch manches gut. Sommergarten, Wintergarten, Menschen pendeln hin und her, hinaus und herein, sind das Pendel der Jahreszeitenuhr.
Nachts sammelt sich Traumlicht unter den Lidern.
Fahr, und du erfährst Gefahr.
„Danke!“ kommt von denken. „Danke!“ heißt unter anderem: „Ich denke daran, daß du mir diese Wohltat erwiesen hast!“ etc. Im Schwimmsand versucht er (der Mensch), festen Grund zu erreichen. Vergebens. Sein sarkophagisches Lachen - es frißt jedes noch so ernste Wort, jede noch so ernste Handlung auf; vor ihm ist kein Bestehen. Würde er einmal lebend in einen Sarkophag gelegt, sein Lachen fräße selbst diesen noch auf (man müßte dann freilich von einem petrophagischen Lachen reden).
Der Kürschner in der Dorfstraße hat Zwerchfelle im Angebot.
Rückhaltebecken für ausufernde Gespräche.
Nimm dich jeden Morgen ins Gebet: „Führe ein gutes Leben!“ Einen Sommerschlaf halten so tief wie ein schlafendes Kind am Grunde des Brunnens. Neulich, an einem heißen, sonnigen Juni-Tag, beim Wandeln durch die kühlen Säle der Ausstellung „Unendliche Landschaften“, veranstaltet aus Anlaß des 250. Geburtstags von Caspar David Friedrich in der Alten Nationalgalerie Berlin, wurde in deinen Augen wieder sichtbar, daß in Friedrichs Gemälden bestimmte Motive, gewisse Details dem ersten, flüchtigen Blick entzogen sind. Ein überraschend großer, ja gewaltiger See, ein Wanderer im Gebirge, ein Schäfer auf dem Feld, ein Jäger im Gebüsch, eine Mondsichel, eine Hütte, ein Altar in einem Wald, ein Dorf in einer Talsenke. Besonders erstaunte der See in dem Gemälde „Böhmische Landschaft mit einem See“ (um 1810). Obwohl der See so gewaltig ist, sogar über das Bild hinausgeht, übersieht man ihn zunächst. Womöglich wird man auch erst durch das Titelschildchen auf ihn aufmerksam und beginnt, ihn zu suchen, und ist gerührt, wenn man ihn entdeckt, und staunt, wie groß er ist, und fragt sich, wie man ihn nur übersehen konnte. Die meisten Besucher, die am Gemälde vorbeischlendern, sehen ihn wohl tatsächlich nicht, und es ist, als übersähen sie damit eine entscheidende Aussage, die man aus dem Gemälde herauslesen kann. Die Aussage lautet: So, wie der See offen zu sehen ist und doch meist übersehen wird, so ist Gott oder das Göttliche offen zu sehen und wird doch oft übersehen. Gott, oder das Göttliche, liegt offenbar. Betrachte die Natur, die Landschaft, und du siehst es. Du mußt nur in Ruhe schauen, dich in ihren Anblick vertiefen, irgendwann, plötzlich, entdeckst du es, siehst du es, erkennst du es. Nolens volens betrachtet man in einer Ausstellung auch die Besucher. Die lassen sich freilich nicht in jedem Fall als malerische oder gar göttliche Erscheinungen deuten. Einzelne, dem äußeren nach zu schließen scheinbar bürgerliche, auf gewisse Rücksichtnahme erzogene Menschen gehen umher und photographieren jedes Gemälde und anschließend das Titelschildchen. Wenn du vor einem Gemälde stehst, zunächst in die Betrachtung versunken, bemerkst du bald, daß dir jemand auf die Pelle rückt, die Telephonkamera in der Hand. Nicht daß dieser Jemand dich regelrecht zur Seite bugsierte, doch gibt er wortlos zu verstehen, du mögest nun endlich weiterziehen, damit er sein Photo, schön von der Mitte aus, machen kann. Manche stellen sich auch mit einiger Entfernung vor das Gemälde, so daß andere Besucher gezwungen werden, ihr Gehen zu unterbinden und zu warten, bis das Photo geschossen ist. Es ist dies freilich ein Unding, eine Frechheit; am liebsten nähme man die Geräte den Jemanden aus der Hand und entsorgte sie im Orkus. In einer solch gut besuchten Ausstellung müßte ein Photographierverbot ausgesprochen werden. Der Titel der Ausstellung, „Unendliche Landschaften“, leuchtet dir nicht ein. Landschaften sind endlich, auch bei Caspar David Friedrich. Was die Gemälde jedoch anhand des Endlichen, der endlichen Landschaften offenbaren oder worauf sie indirekt zeigen, ist das Unendliche. Zum Betrachter. Jeder betrachtet, wenn er etwas betrachtet, „insgeheim“ immer auch sich selbst dabei, wie er etwas betrachtet; er sieht sich gleichzeitig als denjenigen, der etwas betrachtet. (Siehe die Theorie der „exzentrischen Positionalität“ des Menschen im Sinne von Helmuth Plessner.) Nimm das Gemälde „Der Mönch am Meer“. Auf ihm ist ein Betrachter zu sehen (Betrachter 1), der das Meer betrachtet. Gemäß der Theorie von der exzentrischen Positionalität betrachtet er sich gleichzeitig als Betrachter (Betrachtung 2, die ihn zum Betrachter 2 macht). Diese Position des Betrachters 2 nimmt auch der virtuelle Maler ein, der womöglich am Strand stehend den Mönch (Betrachter 1) betrachtet. Sollte der Maler jedoch nicht einen Mönch malen, sondern sich selbst als Betrachter 1 (in der Form eines Mönchs), dann könnte mit dem Gemälde eine Form von virtueller außerkörperlicher Erfahrung gemacht werden: Der Maler als Betrachter 2 malt sich als Betrachter 1: Er berührt sich selbst praktisch mit dem Pinsel von hinten, und es könnte sein, daß er die Pinselstriche an seinem Rücken spürt. Nun steht im Museum ein Betrachter vor dem Gemälde (Betrachter 3). Betrachter 3 nimmt die virtuelle Position des Betrachters 2 ein. Nun kann Betrachter 3 sich selbst betrachten, wie er das Gemälde betrachtet (exzentrischer Betrachter 4). Er betrachtet also Betrachter 1 und, wenn er daran denkt, Betrachter 2 sowie insgeheim sich selbst. Ein weiterer Museumsbesucher (Betrachter 5) könnte jedoch, hinter Betrachter 3 stehend, diesen dabei betrachten, wie der das Gemälde betrachtet und gleichzeitig Betrachter 1 und ggf. auch Betrachter 2 und sogar Betrachter 5 (nämlich sich selbst) betrachten. Alle Betrachter betrachten immer auch das Meer, das hier, am Ufer, an der Grenze des Endlichen, für das Unendliche steht. So geht das theoretisch bis ins Unendliche weiter, bis zum „Betrachter unendlich“. Betrachter unendlich ist letztlich Gott oder das alles sehende, alles betrachtende Auge Gottes. Gott, der Unendliche, sieht sich selbst, das scheinbar unendliche Meer. Der unendliche Betrachter wird selber nicht mehr von außen betrachtet, es gibt für ihn keine exzentrische Position, von der aus er sich selber sehen könnte. Der Mönch (Betrachter 1), Gottessucher mit endlichen Augen, sieht im Meer de facto Gott, den Unendlichen. Das endliche Auge des Mönchs ist das erste in einer potentiell unendlichen Reihe von endlichen Augen, die am Ende im unendlichen Auge Gottes kulminieren. So, wie zwei Geraden sich im Unendlichen kreuzen, wird aus der Reihe der endlichen Augen im Unendlichen ein unendliches Auge. Im Mönch schlägt Gott sozusagen sein endliches Auge auf und sieht sich selbst. Dieser Vorgang wird auf dem Gemälde verewigt. Der Maler hat die Meditation bzw. die Betrachtung des Unendlichen durch einen endlichen Menschen ins Bild gesetzt; diese Betrachtung ist gleichzeitig die Selbst-Betrachtung des Unendlichen durch das endliche Auge. So gesehen ist auf dem Gemälde nicht nur der Mönch am Meer, sondern auch der Gott am Gestade zu sehen. Das Leben - erst liegt es ahead, dann ago, erst gehst du vorwärts, dann bist du gegangen, und es liegt hinter dir.
Der Mensch ist das Lebewesen, das auch aus Schrott Geld zu machen versteht (und das gilt nicht nur für die buchstäblichen Schrotthändler).
Schwarzweißphotos veredeln ihre Motive, auch die sprichwörtliche graue Maus. Verfahren zur Gewinnung von Selbsterkenntnis: sich verfahren. In der verfahrenen Situation kommst du zu dir. Ausspannen, auch in der Form sich ausspannen: das Arbeitspferd darf endlich, von den Spannen befreit, ohne Wagen, auf dem die Alltagssorgen verladen sind, die bleiernen auch, alle viere ausstrecken und alles vergessen. Am Anfang war der Ort. Kein Wort ergibt Sinn ohne den Ort, an dem es ausgesprochen wird. Wolken sind per se schön (auch die grauen, oder gerade die grauen).
Das Warten ist ein eigener Raum. Im übertragenen Sinn, sowie im buchstäblichen Sinn: Warteraum, Wartezimmer, Wartesaal, Wartehäuschen.
Jeder Mensch ist eine potentielle Flamme.
Für das Licht-Schatten-Spiel bist du nie zu alt. Du segnest nicht das Zeitliche; du segnest das Ewige.
Du bist mit dir selber durchgebrannt. Erreiche den Zustand, in dem die Stunden nicht mehr zählen, das Ziffernblatt der Uhr verschwimmt.
Ob Atelier, Werkstatt, Fabrik, Büro, Küche, jeder hat den Ort, an dem er Werke schafft.
Jeden Tag hast du das Gefühl, dich auf frischer Tat zu ertappen.
Kaum verläßt du das Haus, verwickelst du dich in glückliche Unfälle.
Das Leben selbst gleicht einem glücklichen Unfall (oder einem unglücklichen Fall).
Die Lebenden liegen im Argen, die Toten in Särgen. Jeder Satz muß sitzen. Die Gedanken sind frei, mein Kind, sie fliegen wie die Spreu im Wind. „Mir fehlt der Arm, wenn mir die Waffe fehlt.“ (Schiller, Wilhelm Tell, 3. Akt, 1. Szene); ad Protheseologie: Menschen adaptieren Werkzeuge, die ihren Radius erweitern.
Wer seinen Arm einzusetzen weiß, ist reich, nicht arm.
Der Hochsommer ist nicht nur hoch, er ist auch tief, ist gleichzeitig ein hoher und tiefer Sommer. Der Hochsommer ist dann erreicht, wenn er einen tiefen Charakter gewinnt. Oder: Sobald der Sommer in seiner Tiefe sich zu erkennen gibt, ist er hoch. Der Frühsommer hat Glanz, Frische, Schönheit, und er kann heiß sein, aber er ist nicht tief. Der Hochsommer nimmt zeitlosen Charakter an. Trotz der merklich kürzeren Abende fließen die Tage scheinbar ineinander und werden eins, die Zeit dehnt sich und nimmt den Ausdruck des scheinbar Ewigen an.
Der Wind weht Geschichten auf. Lehre dich, ein guter Lehrer deiner selbst zu sein. Pfeif auf den Coach.
Du siehst den ersten Sonnenwiderstrahl am Rumpf einer Richtung Frankfurt fliegenden Passagiermaschine (kurz nach 6, im Garten, am Teetisch).
Gegenwort, Gegenort zum Himmel ist weniger die Hölle, als die Wüste; die der Dummheit zum Beispiel, weltweit verbreitet. Erkenne dich selbst. Den Augenblick erkenne. Wenn du den richtigen Augenblick erkennst, dann erkennst du dich selbst. Noch der müdeste Kalauer liegt auf der Lauer, um aufgeweckt zu erscheinen (im Flugzeug hoch über Calau).
Du bist noch nicht der Weise, du bist nicht mehr das Tier, auf der Lebensreise bist du der blinde Passagier. Kleine lautliche, orthographische Unterschiede, große Unterschiede der Bedeutung: beten, betten; Greis, Kreis; Schrot, Schrott; wir, wirr; sagen, sägen; schonen, schönen; zahlen, zählen.
Betteln, im neuen Sinne von ins Bett gehen. Die Liebenden betteln (und betteln doch nicht um Liebe). Schönheit ist eine Entscheidungshilfe. Liebende sind wie zwei Flüsse, deren Mündungen ineinanderfließen. Alles geht vorbei, nur nicht die Liebe, die bricht entzwei. „Worum geht es in der Literatur und in der Philosophie?“ - „Das Wesen der Literatur und insbesondere auch der Philosophie ist das Erzählen. Es ist das Erzählen von einer Reise.“ - „Von welcher Reise?“ - „Von der Reise des Lebens. Denn das Leben selbst ist eine Reise. Es ist auch dann eine Reise, wenn einer immer am gleichen Ort bleibt. Das Leben ist die Reise eines Menschen von seiner Entstehung im Mutterleib bis zu seinem Tod, oder volkspoetisch zugespitzt ausgedrückt: die Reise von der (innerkörperlichen) Wiege bis zur (außerkörperlichen) Bahre. Jedes Erzählen beinhaltet immer auch das Deuten und das Nachdenken über das Erzählte.“
Erzählen ist höhere Mathematik. Mathematik ist nur da ganz Mathematik, wo sie vom zählen zum erzählen kommt. Eins plus eins ergibt drei, nämlich wenn einer und eine sich zusammentun und ein drittes entsteht. Du legst das Jungpapier ins Regal; noch ist es kein Altpapier. Wenn die Glocken ertönen, willst du nicht lesen (18 h, Abendläuten an der Gethsemanekirche). Wie sollst du erklären, warum dem so ist? Zum Beispiel so: Die Glocken lesen dir die Leviten, und du hörst zu.
Du gehst zur Kirche und betrittst sie. In der Kirche vorne ein Häufchen Versprengter um die brennenden Gedenkkerzen. Ein Mann, der Pfarrer?, spricht dem Tonfall nach anerkennend über einen Verstorbenen, einem, der „zu DDR-Zeiten“ so und so gehandelt habe. Leider kannst du hinten fast nichts hören. Wahrscheinlich spricht er über Friedrich Schorlemmer, dieser religiös-musikalisch-beschwingten Theologen-Erscheinung, wie sie nur Mitteldeutschland hervorbringen konnte; heute meldeten die Agenturen, er sei gestern achtzigjährig in Berlin verstorben.
Im Vorraum der Kirche liegt ein Zettel mit der Überschrift: „Erzählende Orte“. Ein solcher sei die nicht weit entfernt liegende Zionskirche; sie auch war im Herbst 1989 ein Schauplatz der „Friedlichen Revolution“. Was ist ein erzählender Ort? Gibt es welche, die nichts erzählen? Es gibt sicher Orte, an denen nichts für Menschen historisches geschehen ist. Aber jeder Ort erzählt doch etwas, auch wenn er historisch unbedeutend ist. Ort = Erzählung. Beschworen wird, was fehlt. Religionen sind Beschwörungsgemeinschaften. Sie beschwören Gott.
Um das Wesen der Rückkehr zu verstehen, mußt du weggegangen sein - und dann zurückkehren. Geh weg, geh auf Reisen, so legst du die Grundlage, um nach der Umkehr deinen Ursprung zu begreifen.
Gott ist der, der in Abwesenheit glänzt. Diesen Glanz besingen die „Gläubigen“. Der Glanz färbt auf sie ab. Mit glänzenden Augen singen sie.
In der Gemeinschaft singend, ist der Einzelne nicht mehr alleine, löst sich seine existentielle Einsamkeit auf. Der einzelne Einsame geht im kollektiven, den Abwesenden im Glanz erscheinen lassenden Chor auf. Wir singen, also bin ich aufgehoben. Höflichkeit einräumen, Hof halten: Laß zwischen dir und deinem Gegenüber einen kleinen Hof frei. Sei in dieser Form höflich. Den Partnern läßt ein höfliches Gespräch Raum zum Atmen. Nicht in einem Hinterhof findet es statt, sondern in einem zu Tage liegenden Hof. Heimatvertriebene, in einem spezifisch historischen Sinn: zum Beispiel die deutschen Heimatvertriebenen, in einem theologischen Sinn: die aus dem Paradies vertriebenen Menschen, in einem existenzphilosophischen Sinn: alle Menschen, die aus einer Heimat vertrieben sind, die sie bewußt nie gesehen haben und von der sie insgeheim doch träumen, die sie, unter ihrem Mangel unbewußt leidend, erst noch und scheinbar wieder sich aufbauen. Sie sind vom Rufen der noch abwesenden Heimat Erreichte, eben: Gerufene, auf den Weg Gelockte, sie brechen auf, um, was in ihnen zerbrochen ist, zu heilen. Menschen sind keine Flüchtlinge, sie sind Gerufene, Gelockte. Sie folgen dem Rufen und dem Locken. Das Leben ist Folge eines Fernrufs. Menschen führen Ferngespräche. Erst der Tod nimmt den Hörer aus der Hand und legt auf. München, Trogerstraße: Frühmorgens der Lärm der Müllabfuhr, das Klappern der Mülltonnen beim Leeren: die Stadt ist eine andere, der Alltag der gleiche.
Flugzeuge, Fähren der Lüfte. Ohne Heer wird jedes Land, früher oder später, durch ein anderes Land verheert. Heer haben oder Heer nicht haben, das ist die Frage. Philosophie der Freundlichkeit. Die Menschheit wäre in ihrer besten Ausprägung ein Kollektiv von Freunden. Freunde sind Menschen, die andere freundlich behandeln. Jeder Mensch sollte danach streben, auch sein eigener Freund zu sein und sich freundlich zu behandeln. Wer freundlich behandelt wird, wird selber freundlich sein. Wo Freunde zusammen sind, ist die Freundlichkeit da. Jeder kann ein Kolumbus sein. Suche Indien und finde dein Amerika. Für Frankreich gilt: La Cathédrale de Notre-Dame de Paris, c'est nous! (Sie wurde jüngst, nach erfolgter Restaurierung nach dem Brand von 2019, feierlich wiedereröffnet.) Oder, in den Worten von Präsident Emmanuel Macron, sie sei die Seele Frankreichs, L'Âme de la France (und darüber hinaus das Herz von Paris sowie ein Juwel der Menschheit, Cœur de Paris, Joyau de l'humanité).
Menschliche Gefilde: Landschaften, Seeschaften, Luftschaften (den Begriff „Luftschaft“ bildet Gotthilf Heinrich von Schubert in Entsprechung zum Begriff „Landschaft“, er bezeichnet damit das Sujet der vor allem Luft und Himmel darstellenden Bilder Caspar David Friedrichs; es handelt sich bei ihnen so gesehen um Luftschaftszeichnungen beziehungsweise Luftschaftsgemälde, siehe Gotthilf Heinrich von Schubert: Der Erwerb aus einem vergangenen und die Erwartungen von einem zukünftigen Leben. Eine Selbstbiographie, Zweiter Band, Erste Abtheilung, Erlangen 1855, Kapitel 20: Der Oktobermonat von 1806, Fußnote auf Seite 185). Und in diesen menschlichen Gefilden verborgen liegen die Innenraumschaften.
Mit dem Erfolg steigen die Erwartungen.
Das Wort „Unwort“, zum Beispiel in „Unwort des Jahres“, klingt selbst wie ein Unwort. Unwörter sind dir unsympathisch.
Die Steilhänge entlang schleichen Schneenebel: Thüringer Wald, Wintersonnwende, der Winter setzt ein.
Sprich so mit dir, daß du das Gefühl hast: Du sprichst mir aus der Seele!
„Stich in See!“ Mit diesem natürlichen, unbegriffenen, gleichwohl befolgten Befehl beginnt eine jede Lebensreise. Die menschliche Existenz beginnt auf hoher See. Erst mit der Geburt folgt der erste, wenn auch noch unbeholfene Landgang.
Im Selbstgespräch vernimmst du Innerungen, keine Äußerungen. Erinnerungen sind (auch) wiederholte Innerungen. Du siehst das erste Sonnenlicht des neuen Jahres an den Flügelunterseiten eines den Himmel querenden Vogels.
Steh auf und lebe! Über das menschliche Duzen Gottes. Menschen duzen Gott. Es scheint unangebracht, ihn zu siezen. „Gott, erbarmen Sie sich meiner!“ Aber warum scheint es unangebracht? Es wäre unangebracht, weil das Siezen in diesem Fall eine Form von Hierarchisierung zwischen Gott und Menschen herstellen würde. Gott ist aber jenseits einer Hierarchie. Zu ihm gibt es keinen Vergleich, kein Höher oder Niedriger. Gott ist das, was jenseits aller Vorstellungen ist. Aber das Duzen? Wenn das Siezen unangebracht ist, warum sollte dann das Duzen angebracht sein? Zunächst, ganz pragmatisch: wenn das Siezen nicht angebracht ist, man ihn aber ansprechen möchte, dann bleibt nur das Du übrig, um es zu tun. Dann, subjektivitätstheoretisch: Gott ist als der Jenseitige der Fremdeste par excellence, von dem es keine Vorstellung gibt, als Jenseitig-Fremder ist er allerdings gleichzeitig der Diesseitig-Nächste, denn im unendlichen Raum ist Gott als der Jenseitige auch der Diesseitige, ist sein Mittelpunkt überall und sein Umfang nirgends (vergleiche Deus est sphaera infinita cuius centrum est ubique, circumferentia nusquam, in: Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen, Lateinisch-Deutsch, erstmals übersetzt und kommentiert von Kurt Flasch, München 2011); und dieses abgründige Verhältnis von gleichzeitiger Ferne und Nähe entspricht auf der Ebene der Subjektivität dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst: Er ist sich der Nächste und, wie er beim Nachdenken über sich begreifen kann, gleichzeitig der Fernste; dieses Verhältnis des Menschen zu sich selbst bleibt gleichwohl und notwendigerweise ein Duz-Verhältnis, denn so fremd der Mensch sich beim Nachdenken auch erscheinen kann, so vertraut - unvordenklich oder irrelational - bleibt er sich immer doch: er zweifelt nicht daran, er selbst zu sein. In diesem Mit-sich-selbst-Vertrautsein ist allein das Duzen möglich. So wie der Mensch sich selber duzt, so duzt er also auch Gott: Gott entspricht dem Fremdesten, der der Mensch auch selber ist. Indem der Fremdeste alias Gott geduzt wird, wird aus dem Fremdesten zugleich auch der Nächste. In Gott erfährt der Mensch sich im Nächsten geborgen. Wer seine Hände in Schuld wäscht, bekommt sie sauber. Denn Verantwortung übernehmen, zu etwas stehen, heißt, einen Neuanfang möglich machen. Wer hingegen seine Hände in Unschuld wäscht, kommt sauber nicht davon. Verblümte Notizen. Rauhnächte, Halkyonische Tage, die Zeit zwischen den Jahren, Zeit des Übergangs, der Einkehr, der Stille, in der eben die Zeit aufgehoben scheint, als wäre sie außerhalb, in der kein Pulsieren zu vernehmen ist, in der selbst die umherschweifenden Dämonen erfolglos an die Türen klopfen, wo die Sonne, gerade gewendet, wieder, wenn auch kaum vernehmlich noch, ihre Fahrt beginnt, hin zu längerem Scheinen, Tagen. Den Übergang kannst du nicht festhalten. Lediglich beiwohnen kannst du ihm, zum Beispiel dem Übergang von Tag zu Nacht, von Nacht zu Tag, vom kürzesten Tag des Jahres zu den wieder länger werdenden Tagen, von Nichtsein zu Sein, von Leben zu Tod. Übergänge finden unstreitig statt und doch sind sie wie nicht von dieser Welt. Es ist, als läge im Übergang ein Jenseits verborgen. Ein Jenseits im diesseitigen Leben. Lebend, kommst du mit diesem Jenseits in Berührung. Dieses Jenseits ist der Zeit enthoben. Im Jenseits lebst du ewig. Menschen im Vorgebirge leben im Anblick des Gebirges, an der Küste im Anblick des Meeres, auf dem Land im Anblick der grenzenlosen Weite. In der Zivilisation hingegen werden sie in die Schranken verwiesen. Sie werden Liebhabern und Lieblosen, Stimmengewirr und Straßen, Hindernissen und Häusern, Armen und Angebern, Blöden und Blendern gegenübergestellt. In der Zivilisation entspricht dem Gebirge, dem Meer und der Weite der Friedhof. Der Friedhof ist die ummauerte Ewigkeit. Tintenkleckse haben schon bessere Zeiten gesehen.
Jedes Feuer sucht sich sein Fressen. Dankbar für es zusätzlich anfeuernde Winde, donnert es übers Land. Je mehr es frißt und je größer es wird, desto näher kommt es an sein Ende, sein Erlöschen. Wenn das Essen verbrannt ist, löst es sich in Luft auf. Auch der Nichthandelnde handelt - das ist sein Drama.
Fällt im Theater ein Schauspieler aus, muß ein anderer für ihn einspringen. Im Theater des Lebens beschleicht dich das Gefühl, als wärst auch du eingesprungen, als wärst auch du ein Einspringer. Aber für wen bist du eingesprungen? - Für Niemand.
Die Mannschaft hat den sicher geglaubten Sieg verspielt. Ja, so geht es dir auch im Leben. Du verspielst das Leben. Das Leben verspielen? Ja, warum nicht. Du bist ein Spieler und verspielst zeitlos spielend dein Leben. Die Augenwischerei - eine der Eigenschaften des Menschen: gegenüber jemand anderem eine Absicht oder einen Plan verschleiern, ihn irreführen, betrügen, nicht zuletzt auch: sich selbst betrügen. Der Mensch ist nicht dafür gebaut, den ihn selbst betreffenden Tatsachen klar ins Auge zu sehen, lieber betreibt er Augenwischerei auch in eigener Sache. Bleibst du über Tag bei mir? Du hast es eingefädelt, nun fädele es wieder aus.
Was der Jugend fehlt, ist Erfahrung - was zugleich ihr Vorteil ist. Wenn du in einer Landschaft stehen bleibst, wirst du ungewollt zu einer Bake. „Der Entführer“, so hätte der deutsche Diktator bezeichnet werden sollen; freilich, ein allzu großer Teil seines Volkes ließ sich allzu lange allzu gerne von ihm entführen, als ginge es in einen Europapark mit schwindelerregenden Achterbahnen. Am Ende fiel der Park in Schutt und Asche und das achterbahnfahrende Volk stürzte in den Abgrund.
Der Text sei fadenscheinig, damit verborgenes sich zeige.
Lebenshungrig hast du begonnen. Sieh zu, daß du lebenssatt endest.
Wehmut und Anmut, diese Zwei. Sie verwandeln jeden in ein schönes Wesen.
Hast du einmal die Türen gezählt, die du in deinem Leben auf- und zugemacht hast? Was wäre das Leben ohne Türen! Ein Hoch auf die Türen. Irgendeine Tür knarrt immer. Ein hieb- und stichfester Schild zur Abwehr von Unbilden des Lebens ist die Klugheit; die man allerdings nicht erwerben kann, man sich selber erwerben muß. Angenommen, von heute auf morgen würden sämtliche Autos durch Pferde ersetzt, auf den Hauptstraßen trabten die Pendler zur Arbeit, die einen in die eine, die anderen in die entgegengesetzte Richtung, an den Ampeln stauten sich die Pferde mit ihren Reitern, und vor den Supermärkten wäre ein großer Pferdeparkplatz mit Hunderten von Pferden, es lüden die Menschen ihre Einkäufe auf ihr Pferd, und in den Seitenstraßen stünden die Pferde am Straßenrand festgebunden oder sie lägen dort und schliefen, es wäre eine friedlichere Welt, eine Welt der Pferde, in der diese die Hauptpersonen und die Menschen die Nebenfiguren wären. Deinen Vorsatz teile niemandem mit, laß allein Taten und Werke für dich sprechen. Beim Fliegen gewinnst du den Überblick, verlierst aber den Blick aus der Nähe, der nur beim Gehen möglich ist. Eine Autobiographie ist der Versuch, sich sein Leben schönzuschreiben. Etwaige Sünden werden als läßlich, etwaige Fehler als verzeihlich, etwaiges zeitweiliges Scheitern als Lernschritt zu höherem Erfolg gedeutet. Am Ende steht der strahlende Held, der alles richtig gemacht und sein Leben auf einem logischen Weg nach oben aufs Treppchen des Endsiegs geführt hat. Eine Autobiographie, die den Weg nach unten in die „erfolgreich“ erreichte Erfolglosigkeit beschreibt, ist schwer vorstellbar. Schreib es nieder, damit, was dich bedrückt, ad acta lande. Die Akten sind der Friedhof der Sorgen. Dich bewegt der Anblick eines Wegs. Wo führt er hin? Wo kommt er her? Er nimmt dich auf und gibt dir Sinn. Gestern lief in der Flimmerkiste die Inauguration des 47. U.S.-Präsidenten, die wegen der im Vorfeld vorhergesagten windigen Kälte nicht wie üblich draußen auf dem Balkon des Kapitols, sondern drinnen in der Rotunde stattfand. (So kalt und windig schien es dann aber gar nicht zu sein.) Dieser prächtige Innenraum, der auch einer Kirche gut zu Gesicht stünde (sein Vorbild ist ja auch der Kapitolinische Tempel in Rom), erinnerte auch an den Befund, wie sehr die USA doch eine Form von Religion darstellen. Schon der Ablauf des ganzen Schwör-, um nicht zu sagen Verschwörungsaktes hatte etwas religiös-zeremonielles bzw. etwas erhaben-zivilreligiöses an sich: Die Demokratie selbst ist die Religion, jene Praxis, die das Land zusammenhält bzw. seine Staaten zu vereinigten macht. Gerade auch weil die USA selbst die Haupt- und Staatsreligion sind, wirkte der Auftritt unterschiedlicher Religionsgeistlicher, auf den das Protokoll nicht verzichten zu können glaubte, sonderbar deplaziert. Die Religionsvertreter bewiesen in ihren peinlichen bis lächerlichen Sprechakten unfreiwillig, daß sie entbehrliches Beiwerk sind. Ohne es wohl auch nur zu ahnen, huldigten sie einer anderen Religion, einer zivilreligiösen Praxis, die ihnen seit ihrem Erscheinen am geschichtlichen Horizont den Rang abgelaufen hat, knieten sie sich gewissermaßen in den Staub vor der Supermacht schlechthin, den USA, die nicht nur dem eigenen Verständnis nach Gottes eigenes Land sind, sondern der einzige auf Erden Staat gewordene Gott selbst. Daran ändert übrigens die in etlichen Hinsichten wenig erhabene, wenig göttliche Alltagswirklichkeit in diesem Staat wenig. Über Kunst einmal wieder. Etwas hergestelltes wird dann zum Kunstwerk, wenn das, was es darstellt, nicht von dieser Welt ist (und es so den Menschen, der ihm begegnet, verwandeln kann). Das Dargestellte ist nicht von dieser Welt, weil in ihm die Zeit aufgehoben ist. Nimm noch einmal ein Gemälde von Caspar David Friedrich, zum Beispiel „Das Große Gehege“ von 1832. Unstreitig ist das Gemälde in seiner gesamten materiellen Präsenz Teil der Welt, es hat seinen Ort, wo es im Regelfall hängt, nämlich das Museum „Albertinum“ in der Dresdner Altstadt, nur ein, zwei Steinwürfe von der Elbe entfernt, dort, wo derzeit die vor Altersschwäche zusammengebrochene Carolabrücke noch mit zwei nach unten in die Elbe geknickten Fahrbahnstücken zu sehen ist; große Bagger schaufeln die Teile nach und nach aus dem Wasser, und Lastwagen transportieren den Schutt ab; das Gemälde läßt sich mit der bloßen Hand berühren, wobei allerdings die Alarmanlage los geht, man könnte es theoretisch zerstören. Und doch, obwohl es da hängt, ist das, was das Gemälde zum Ausdruck bringt, nicht von dieser Welt. Selbst wenn man das Gemälde tatsächlich zerstören würde, bliebe das, was es darstellt, doch unangetastet. Das Große Ostragehege, das sich Friedrich zum malerischen Vorbild nahm, ist eine noch heute existierende Dresdner Landschaft, vom Albertinum nur wenige hundert Meter elbawärts entfernt. Man kann es sogar vom Zug aus sehen, wenn man beim Überqueren der Elbbrücke nicht Richtung Altstadt schaut, sondern in die entgegengesetzte Richtung, was freilich fast niemand macht, jeder schaut immer nur gebannt auf das Panorama von „Elbflorenz“, anstatt einmal in die andere Richtung, auf das Große Ostragehege. Freilich sieht das Große Ostragehege heute ganz anders aus als zu Friedrichs Zeit. Als Flußlandschaft unterliegt es besonders dem Fließen der Zeit. Auch unterlag und unterliegt es baulichen Veränderungen. Die Pointe ist jedoch, daß das Gemälde selbst dann, wenn es noch so aussähe wie zu Friedrichs Zeit, eben nicht das Große Ostragehege darstellt, sondern etwas anderes zum Ausdruck bringt bzw. etwas anderes ist: nämlich die Zeitlosigkeit. Das unterscheidet auch das Kunstwerk von einem nicht künstlerischen Werk, sei es ein Zeitungsartikel, ein Beipackzettel oder ein Pressefoto. Das Pressefoto, welches das Ostragehege ablichtet, zeigt es so, wie es heute aussieht, es hat dokumentarischen Wert. Zwar kann ein Kunstwerk und mithin ein Gemälde auch - zusätzlich - einen dokumentarischen Wert haben; was es jedoch wesentlich ausmacht, ist nicht der eventuelle dokumentarische Wert, sondern eben seine Kunst, innerhalb der fließenden Zeit, also innerhalb des Lebens selbst, etwas nicht fließendes herzustellen, das denjenigen Menschen, der ihm begegnet und sich auf es einläßt, mit einem Mal selbst verwandelt und selbst zeitlos werden läßt. Das Pressefoto ist zwar als Foto gleichfalls der Zeit enthoben, aber der Zeitungsleser fühlt sich in der Regel nicht von ihm verwandelt, sondern nimmt das Abgelichtete wie auch immer zur Kenntnis und liest oder blättert weiter. Im Kunstwerk steckt also das Potential eines buchstäblichen Zaubers: Der Mensch, der sich auf es einläßt, wird mit einem Mal verzaubert. Er wird mit einem Mal der Zeit enthoben. Er tritt mit einem Mal aus der fließenden Zeit heraus. Er gelangt mit einem Mal in einen Zustand der Zeitlosigkeit. Er wird mit einem Mal der Ewigkeit teilhaftig. Der ewige Zustand hält paradoxerweise aber nicht ewig an. Die fließende Zeit meldet sich wieder, sie kehrt zurück und nimmt den Verewigten wieder mit in ihr Fließen auf. Das Leben geht weiter. Die Erinnerung an den Zustand der Verzauberung jedoch bleibt. Das ist auch mit der entscheidende Grund dafür, warum man ein Kunstwerk wie etwa das Gemälde Das Große Gehege von Friedrich immer wieder anschauen kann. Es geht eben nicht in erster Linie darum, was es darstellt, sondern darum, wie einem in der Begegnung mit ihm geschieht. Es geht um den Zustand der Verzauberung, in den man wieder gelangen möchte. Es geht um den Betrachter, nicht um das Gemälde. Das Gemälde ist das Mittel zum Zweck. Das Gemälde ist das Verzauberungsgegenüber, mit dessen Hilfe der Betrachter in ein anderes Land ausreisen kann. Es ist das Land, in dem die Zeit aufgehört hat, Zeit zu sein. Der rieselnde Sand im Stundenglas hält inne. Das Leben ist furchtbar oder kann doch furchtbar sein, aber wenn du dich hiervon nicht das Fürchten lehren läßt, sondern, auch ohne ein Kunstwerk zur Hand zu haben, erhaben zu bleiben versuchst, dann kann es dir gelingen, wie ein Kunstwerk ebenfalls nicht von dieser Welt zu sein. Krankheit, Not, Tod, das kann dich erfassen, und der Tod wird dich auf jeden Fall ereilen. Wenn es dir jedoch gelingt, diesen Wirklichkeiten gleich einem Schauspiel zuzuschauen, dann wirst du sogar eine Form von Freude an ihnen finden. (Vergleiche hierzu, wenn du willst, Schopenhauers Sage, der Mensch könne sich nur im Erleben der Kunst vom Willen befreien - also von einer angenommenen, im ganzen Universum wirksamen, unzerstörbaren Kraft -; sowie Nietzsches Diktum, das Dasein sei nur als ästhetisches Phänomen rechtfertigbar.) Hast du dein Leben bestellt? Es bestellt wie dein Haus? Bestelle es und ziehe weiter. |
|
©2005-2025 Der philosophische Garten | Eingang • Kontakt• Impressum |