DIE TERRASSEN DES PHILOSOPHISCHEN GARTENS
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WELTRANDNOTIZEN

Sammelsurium

Weltrandnotizen: Randnotizen am Weltrand. Sie sind unsystematisch, unmethodisch, unorganisiert, ungeordnet, planlos, chaotisch, improvisiert, aus dem Stegreif und ziellos, wie, womöglich, der Lauf der Welt. Sie sind so, wie sie sind; ein Sammelsurium.

Ein Sammelsurium ist ohne seine scherzhafte lateinische Endung ursprünglich ein Sammelsur, ein sauer angemachtes Gericht aus gesammelten Speiseresten. Das Wort wird in der Regel abwertend gebraucht; hier ist seine Verwendung aufwertend, indem die Betonung auf das Scherzende gelegt ist. Das Sammelsurium ist gemäß üblichen Wörterbüchern etwas, das sich mehr oder weniger zufällig beieinander findet und von unterschiedlicher Art und Qualität ist. Redewendungen zitieren ein kunterbuntes Sammelsurium, ein Sammelsurium von Stiften oder ein Sammelsurium von Maßnahmen, die nicht greifen etc.

Die Bedeutung von Randnotizen ist geläufig, aber Weltrand? Wenn die Welt das Universum ist, dann liegt ihr Rand nicht am Rand, sondern, weil es unendlich ist, überall. Weltrandnotizen sind an den Rand geschriebene Notizen über die Welt, die sich am Rande verstehen, ohne mit ihr zu Rande zu kommen.

Matthias C. Müller, Berlin am 23.5.2023


2023

Die in deinen Augen wissenschaftlich und menschlich angemessene „Religion“ ist die Nicht-Religion. Sie läßt die Frage nach Gott oder dem Warum und dem Geheimnis des Universums und des Lebens nolens volens offen. Wer von dieser „Religion“ sich angesprochen fühlt, versammelt sich womöglich mit Gleichgesinnten hin und wieder zu „Gedenkfeiern“, auf denen dieser Fragen gedacht wird.

Fuß fassen; prominente Aufgabe des Lebens. Auch wenn du sie löst, am Ende tragen sie dich doch mit den Füßen voraus aus dem Haus. Im Haus ist kein Bleiben. Am Anfang allerdings kamst du mit dem Kopf voraus auf die Welt und erblicktest ihr unvergleichliches Licht.

Abends bringst du den Fernseher zum Einschlafen.

Im Sommer möchte auch das Meer baden gehen.


2024

Aus einem Elefanten eine Mücke machen - Aufgabe der Medienkritik.

Das Schaf im Wolfspelz - Überlebensstrategie.

Der Winter ist auch die Flucht in die Zeitlosigkeit. Mit dem Beginn des Vorfrühlings, den Frühblühern am Boden, dem wieder hörbaren werbenden Gesang der Vögel, den längeren Tagen, kehrt auch langsam die Zeit ins Bewußtsein zurück, erwacht sie aus ihrem Winterschlaf, schlägt sie ihre Augen auf und sieht, wie die Welt wieder in Bewegung gerät, das Karussell des Lebens sich zu drehen anschickt.

Rhythmen des Lebens: Der Spaziergang die Atempause in dem von Pflichten und Notwendigkeiten eingezurrten Alltag. Geh spazieren und sei für technische Anrufe unerreichbar; auch, damit die Umwelt dich anrufen kann, damit du die dich anrufenden Naturen, Häuser, Menschen hören kannst. Ob du den Hörer abnimmst und etwas sagst, steht auf einem andern Blatt. Wichtig ist, daß du überhaupt in den Bereich der Möglichkeit kommst, angerufen zu werden.

„Rindergeschnetzeltes“: wahrlich ein Massaker (auf dem Teller des Nachbarn).

„Hinweggenickt“ - nach einem Schlag ins Genick.

„Nicken“: „ja“ zum Ausdruck bringen, schlafen (wegnicken, einnicken, ein Nickerchen machen - kurzweilige deutsche Sprache).

„Die reifen Ähren nicken im Wind“ - ihre Antwort auf den fragenden Blick des Bauern, ob die Zeit zu ernten gekommen sei.

Auch die Zeit ist nicht immer reif; du mußt den Moment erkennen, da sie reif ist und dann handeln (den günstigen Augenblick - den Kairos - nicht verstreichen lassen).

Bei einer Preisverleihung warten die Prominenten mit sich selbst auf. Wohingegen die Zaungäste darauf warten, daß der Gastgeber, nach den langwierigen Lobeshymnen und der endlich erfolgten Verleihung, zum Umtrunk einlädt und mit Käselachsschnitten und Champagner aufwartet.

Schreibst du mit Bleistift oder mit Tinte? - Mit beidem.

Ein Friseur bietet „Grauhaarkaschierung“ für 13,50 Euro an. Für das Wort wärst du bereit, noch mehr zu zahlen.

Im Idealfall heißt anderen etwas vorzumachen, sie bemerken nicht, daß du ihnen etwas vormacht.

Anderen etwas vorzumachen heißt auch, sie verstehen, wie sie es machen sollen.

Sich selbst etwas vorzumachen heißt entsprechend einerseits sich mehr oder weniger bewußt selbst zu belügen und andererseits einen Entwurf seiner selbst vorlegen und ihn einlösen.

Das Hinterstübchen, kleiner Ort in einer Wohnung. Behalte es im Hinterkopf.

Der Himmel blaut, als der Zug durch den Regen den Bahnhof verläßt.

Die Unstrut ist über die Ufer getreten.

Wer sich um sein Leben kümmert, entgeht dem Kummer.

Schiller nannte seine Frau Lolo.

Was hält einen im Innersten zusammen? Etwas äußeres.

Wer alt stirbt, hat das sinnlose Ganze überstanden. Wer jung stirbt, hat es früh vollendet.

Warum das Leben zu einem sinnvollen Ganzen abrunden wollen? Ob sinnlos oder sinnvoll, du hattest das Vergnügen, es zu sehen.

Es kann wichtig sein, offen für neues zu sein, es ist wichtig, offen für altes zu sein.

In Rede stehen, in Rede gehen.

Gewisse natürliche Erscheinungen werden im Moment ihres buchstäblichen Erscheinens oft nicht wahrgenommen, nicht erhascht. Plötzlich sind da Knospen, plötzlich sind da Blüten, plötzlich schneien sie durch die Lüfte, plötzlich sind da Blätter, plötzlich sind da kleine Äpfel etc. Was jeweils erkennbar wird, ist aber nicht „plötzlich“ da, sondern entsteht unmerklich, „fließend“. Es sind fließende Übergänge vom Zustand A zum Zustand B etc. Im Herbst werden die Äpfel geerntet, und wenig später sind da plötzlich wieder Knospen. Das Leben selbst ist ein großer fließender Übergang, aus unzähligen fließenden Übergängen bestehend. Alles Lebende findet sich in einem einzigen fließenden Übergang wieder.

Auch bei Sonnenschein hast du das Gefühl, die Welt nur im Zwielicht zu sehen.

Aus dem Brief eines Ungenannten: „Fin de Siècle, ein Zeitalter der Illusionen scheint zuendezugehen. Ares hat wieder die Bühnen weitgehend für sich. Nicht nur der Krieg der Raketen und Gewehre, auch der Krieg der „Bürger“, die keine Bürger sind, das Gegenüber nicht als Rechtssubjekt achten, ein Welt„bürger“krieg hebt an. Das Böse erhebt mit jeder neuen Generation sein Haupt. Es gibt keinen allgemeinen gesetzmäßigen „Fortschritt“, keinen planetaren, irgendwann notwendig sich einstellenden Endzustand mit lauter rechtstaatlich-friedlichen Republiken, in denen die Bürger unegoistisch und sozial eingestellt ihr persönliches Glück machen. Solange Menschen Menschen sind, wird es auch die Bösen geben. Es gibt Phasen des rechtstaatlichen Friedens, des öffentlichen Glücks, ja, die gehen aber vorüber, weil die in ihnen lebenden Bürger, die Politiker ihrer Zeit, schwach werden und dem Bösen wieder Tür und Tor öffnen. Was bleibt, sind hohle Phrasen, subjektiv gut gemeint, objektiv zynisch und hilflos, Steigbügelhalter für Fanatiker.“

Die Situationen und den langen Fluß des Lebens miteinander verbinden. Situativ wach sein, „da“ sein, versunken in den Kairos, und doch gleichzeitig den Fluß sehen, ihn in seiner Gänze wie einen fließenden Teppich aus Situationen überblicken.

Oder, um zu Monets „Bassin aux Nymphéas“, zum „Seerosenteich“, in Giverny zu wechseln: Situativ sein wie ein Farbfleck und gleichzeitig par distance das Bild des ganzen sehen. Farbfleck und Seerose gleichzeitig sein.

Es gleiten die Tage vorüber. Wie Segelboote auf dem Meer, langsam unaufhaltsam.

Sie schwamm in einem See. Ein See aus Stille.

Die Jugend glaubt, jetzt beginne ihre Zeit, während diese schon an dem Ast sägt, den sie gerade erst erklommen hat.

Menschen, die an Verschwörungen glauben, überschätzen ihre Wichtigkeit. Kein Staat, keine Gruppe würde sich die Mühe machen, die Bürger oder andere zu betrügen. Die Menschen betrügen sich schon selbst.

„Erkenne dich selbst“ heißt eigentlich: „hör auf, dich zu betrügen“. Das freilich ist aussichtslos.

Jeden Morgen das Gefühl, in einem Festsaal zu erwachen. Freilich ist da kein Fest, und die Gäste sind längst über alle Berge.

Gedanken formulieren, die nicht für den Verfasser oder dessen Denken stehen, sondern allein zum Denken anregen. Darauf kommts an.

Warum heißt der Drahtesel nicht Drahtpferd? Finden sich in Indien Drahtelefanten, auf der Arabischen Halbinsel Drahtkamele, in Afrika Drahtstrauße? Hat ein Künstler je einen Drahtkentaur geschaffen, Oberkörper Mensch, Unterkörper Fahrrad? Drahtkentauren, die auf Draht sind und einen guten Draht zueinander haben? Einen Draht, der durchaus auch glühen kann? Glühdrahtkentauren, knutschend?

Ein anderes Wort für Christentum: barmherzig sein ohne Ansehen der Person.

Der treueste unter den Lebensgefährten ist der Spiegel. Tag für Tag, Jahr um Jahr begleitet er dich und hat dich noch nie betrogen.

Es war ein gewöhnlicher Tag. Das heißt, er war so ungewöhnlich wie alle anderen.

Immer wieder verirrt er sich in seiner Wohnung. Dabei hat sie nur ein Zimmer.

Sag so viel wie nötig und nicht so viel wie möglich.

Der Mai ist ein, im Grunde, monotoner Monat. Oder sollte es nicht monoton sein, wenn einer nur glänzen und schön sein kann und sonst gar nichts?

Die Tage gehen ins Land. Ja, es ist so. Es gilt indessen auch: Die Tage gehen zur See. Ihnen wohnt dann eine entriegelnde, geradezu betäubende, Ewigkeit ein, als stündest du auf einem Küstenberg und versänkest im Anblick des in der Sonne getäfelten Meeres. Gleichzeitig hörtest du, wie das Meer in seinem gleichmäßig atmenden Rhythmus am Ufer bricht. Die gleichzeitige Einheit der Wahrnehmung von scheinbar Ewigem und Endlichem läßt dich ein virtueller Bewohner beider Welten sein. Das ist, in deinen Augen, auch das Geheimnis der Land- und Seeschaftsgemälde von Caspar David Friedrich. Der in ihnen versinkende Betrachter fühlt die ihn erhebende Kraft, mit der er zu einem Einwohner der beiden Welten wird.

Der Mensch ist unbeirrbar in seinem Irren.

Die Zeit ist die Ermöglicherin, dann erst, womöglich, „mein Mörder“ (Ingeborg Bachmann: Strömung). Und auf das erstere kommts an.

Die Zeit ist deine Wohnung, in ihr bist du zuhause. Mag die gebaute Wohnung auch zugrundegehen, bleibt dir doch die Wohnung ohne Wände. Mag diese sich auch immer wandeln, wirft dich niemand aus ihr bis zum Tod.

Es wäre doch gelacht, hätte der Mensch nichts zu lachen.

„Spielen“ (Schiller), tanzen, lachen, singen, lieben, dichten und über den Ursprung der Welt, über die Erde und den Menschen nachdenken macht den Menschen ganz. Und das Trauern und das Traurigsein, gehört das auch zum Ganzsein des Menschen? Ja, wenn darin der Impuls der „guten Laune“ (Kant), des Enthusiasmus, des Aufstehens und Weitermachens enthalten bleibt.

Die du gerne, mit Freude und Gewinn anhörst und die dich ebenso anhören, gehören zu deinen Angehörigen.

Steh auf und laß dich und dein Leben nicht im Stich. Stich in See und bereise die sieben Weltmeere des Träumens.

Die Zukunft kennt keiner, wenn gleich sie sich immer abzuzeichnen beginnt. Die Gegenwart ist das sichtbare Abzeichen der Vergangenheit, deren laufende Spitze. Diese Spitze, unendlich schmal, läuft in die Vergangenheit und gewinnt rasch an Größe.

Begegnen zwei Narren sich in einem Narrenhaus. Sagt der eine: „Warum sich zum Narren halten lassen, wenn man sich selber zum Narren halten lassen kann?“ Antwortet der andere: „Ich werde mich doch von einem Narren nicht zum Narren halten lassen!“

Zahnarzt für zahnlose Tiger sein.

Die Kunst, kunstlos kunstvoll zu sein. Klatschmohnpresse.

Draußen im Lichtspieltheater der Natur. Das Goldgewitter auf dem Meeresspiegel.

In der Werft das Auslaufmodell. In der Näherei das Einlaufmodell.

Jeden Tag den Ton finden, der die schlummernden Talente weckt.

Das Gewicht einer Wolke bemißt sich nach dem der von ihr gefüllten Regentonne. In der Regentonne legt die Wolke sich schlafen.

Hast du eine Bestimmung? Das bestimmst nur du selbst.

Als der Krieg ausbrach (der Zweite Weltkrieg), weinte deine Großmutter. Als der Überfall auf die Sowjetunion begann, sagte dein Großonkel: „Jetzt verliert der Hitler den Krieg.“

Wer das Essen nur so hinunterschlingt, legt die Schlinge um seinen Hals.

Unheimlichste Begegnung die, in der du dich selber triffst. Wer weiß schon wirklich, wem er da begegnet.

„Wo findest du dich wieder?“ „Was heißt wieder? Habe ich mich je gefunden?“

Was an Menschen nicht gefällt, ist, wenn sie keine Form haben, unförmig sind. Es tut gut, in Form zu sein. Menschen sind nur da ganz Mensch, wo sie in Form sind. Mensch, sei in Form, sei eine Form. Wo Formen einander begegnen, wird alles oder doch manches gut.

Sommergarten, Wintergarten, Menschen pendeln hin und her, hinaus und herein, sind das Pendel der Jahreszeitenuhr.

Nachts sammelt sich Traumlicht unter den Lidern.

Fahr, und du erfährst Gefahr.

„Danke!“ kommt von denken. „Danke!“ heißt unter anderem: „Ich denke daran, daß du mir diese Wohltat erwiesen hast!“ etc.

Im Schwimmsand versucht er (der Mensch), festen Grund zu erreichen. Vergebens.

Sein sarkophagisches Lachen - es frißt jedes noch so ernste Wort, jede noch so ernste Handlung auf; vor ihm ist kein Bestehen. Würde er einmal lebend in einen Sarkophag gelegt, sein Lachen fräße selbst diesen noch auf (man müßte dann freilich von einem petrophagischen Lachen reden).

Ein Kürschner in der Dorfstraße hat Zwerchfelle im Angebot.

Rückhaltebecken für ausufernde Gespräche.

Nimm dich jeden Morgen ins Gebet: „Führe ein gutes Leben!“

Einen Sommerschlaf halten so tief wie ein schlafendes Kind am Grunde des Brunnens.

Neulich, an einem heißen, sonnigen Juni-Tag, beim Wandeln durch die kühlen Säle der Ausstellung „Unendliche Landschaften“, veranstaltet aus Anlaß des 250. Geburtstags von Caspar David Friedrich in der Alten Nationalgalerie Berlin, wurde in deinen Augen wieder sichtbar, daß in Friedrichs Gemälden bestimmte Motive, gewisse Details dem ersten, flüchtigen Blick entzogen sind. Ein überraschend großer, ja gewaltiger See, ein Wanderer im Gebirge, ein Schäfer auf dem Feld, ein Jäger im Gebüsch, eine Mondsichel, eine Hütte, ein Altar in einem Wald, ein Dorf in einer Talsenke. Besonders erstaunte der See in dem Gemälde „Böhmische Landschaft mit einem See“ (um 1810). Obwohl der See so gewaltig ist, sogar über das Bild hinausgeht, übersieht man ihn zunächst. Womöglich wird man auch erst durch das Titelschildchen auf ihn aufmerksam und beginnt, ihn zu suchen, und ist gerührt, wenn man ihn entdeckt, und staunt, wie groß er ist, und fragt sich, wie man ihn nur übersehen konnte. Die meisten Besucher, die am Gemälde vorbeischlendern, sehen ihn wohl tatsächlich nicht, und es ist, als übersähen sie damit eine entscheidende Aussage, die man aus dem Gemälde herauslesen kann. Die Aussage lautet: So, wie der See offen zu sehen ist und doch meist übersehen wird, so ist Gott oder das Göttliche offen zu sehen und wird doch oft übersehen. Gott, oder das Göttliche, liegt offenbar. Betrachte die Natur, die Landschaft, und du siehst es. Du mußt nur in Ruhe schauen, dich in ihren Anblick vertiefen, irgendwann, plötzlich, entdeckst du es, siehst du es, erkennst du es.

Nolens volens betrachtet man in einer Ausstellung auch die Besucher. Die lassen sich freilich nicht in jedem Fall als malerische oder gar göttliche Erscheinungen deuten. Einzelne, dem äußeren nach zu schließen scheinbar bürgerliche, auf gewisse Rücksichtnahme erzogene Menschen gehen umher und photographieren jedes Gemälde und anschließend das Titelschildchen. Wenn du vor einem Gemälde stehst, zunächst in die Betrachtung versunken, bemerkst du bald, daß dir jemand auf die Pelle rückt, die Telephonkamera in der Hand. Nicht daß dieser Jemand dich regelrecht zur Seite bugsierte, doch gibt er wortlos zu verstehen, du mögest nun endlich weiterziehen, damit er sein Photo, schön von der Mitte aus, machen kann. Manche stellen sich auch mit einiger Entfernung vor das Gemälde, so daß andere Besucher gezwungen werden, ihr Gehen zu unterbinden und zu warten, bis das Photo geschossen ist. Es ist dies freilich ein Unding, eine Frechheit; am liebsten nähme man die Geräte den Jemanden aus der Hand und entsorgte sie im Orkus. In einer solch gut besuchten Ausstellung müßte ein Photographierverbot ausgesprochen werden.

Der Titel der Ausstellung, „Unendliche Landschaften“, leuchtet dir nicht ein. Landschaften sind endlich, auch bei Caspar David Friedrich. Was die Gemälde jedoch anhand des Endlichen, der endlichen Landschaften offenbaren oder worauf sie indirekt zeigen, ist das Unendliche.

Zum Betrachter. Jeder betrachtet, wenn er etwas betrachtet, „insgeheim“ immer auch sich selbst dabei, wie er etwas betrachtet; er sieht sich gleichzeitig als denjenigen, der etwas betrachtet. (Siehe die Theorie der „exzentrischen Positionalität“ des Menschen im Sinne von Helmuth Plessner.) Nimm das Gemälde „Der Mönch am Meer“. Auf ihm ist ein Betrachter zu sehen (Betrachter 1), der das Meer betrachtet. Gemäß der Theorie von der exzentrischen Positionalität betrachtet er sich gleichzeitig als Betrachter (Betrachtung 2, die ihn zum Betrachter 2 macht). Diese Position des Betrachters 2 nimmt auch der virtuelle Maler ein, der womöglich am Strand stehend den Mönch (Betrachter 1) betrachtet. Sollte der Maler jedoch nicht einen Mönch malen, sondern sich selbst als Betrachter 1 (in der Form eines Mönchs), dann könnte mit dem Gemälde eine Form von virtueller außerkörperlicher Erfahrung gemacht werden: Der Maler als Betrachter 2 malt sich als Betrachter 1: Er berührt sich selbst praktisch mit dem Pinsel von hinten, und es könnte sein, daß er die Pinselstriche an seinem Rücken spürt. Nun steht im Museum ein Betrachter vor dem Gemälde (Betrachter 3). Betrachter 3 nimmt die virtuelle Position des Betrachters 2 ein. Nun kann Betrachter 3 sich selbst betrachten, wie er das Gemälde betrachtet (exzentrischer Betrachter 4). Er betrachtet also Betrachter 1 und, wenn er daran denkt, Betrachter 2 sowie insgeheim sich selbst. Ein weiterer Museumsbesucher (Betrachter 5) könnte jedoch, hinter Betrachter 3 stehend, diesen dabei betrachten, wie der das Gemälde betrachtet und gleichzeitig Betrachter 1 und ggf. auch Betrachter 2 und sogar Betrachter 5 (nämlich sich selbst) betrachten. Alle Betrachter betrachten immer auch das Meer, das hier, am Ufer, an der Grenze des Endlichen, für das Unendliche steht. So geht das theoretisch bis ins Unendliche weiter, bis zum „Betrachter unendlich“. Betrachter unendlich ist letztlich Gott oder das alles sehende, alles betrachtende Auge Gottes. Gott, der Unendliche, sieht sich selbst, das scheinbar unendliche Meer. Der unendliche Betrachter wird selber nicht mehr von außen betrachtet, es gibt für ihn keine exzentrische Position, von der aus er sich selber sehen könnte. Der Mönch (Betrachter 1), Gottessucher mit endlichen Augen, sieht im Meer de facto Gott, den Unendlichen. Das endliche Auge des Mönchs ist das erste in einer potentiell unendlichen Reihe von endlichen Augen, die am Ende im unendlichen Auge Gottes kulminieren. So, wie zwei Geraden sich im Unendlichen kreuzen, wird aus der Reihe der endlichen Augen im Unendlichen ein unendliches Auge. Im Mönch schlägt Gott sozusagen sein endliches Auge auf und sieht sich selbst. Dieser Vorgang wird auf dem Gemälde verewigt. Der Maler hat die Meditation bzw. die Betrachtung des Unendlichen durch einen endlichen Menschen ins Bild gesetzt; diese Betrachtung ist gleichzeitig die Selbst-Betrachtung des Unendlichen durch das endliche Auge. So gesehen ist auf dem Gemälde nicht nur der Mönch am Meer, sondern auch der Gott am Gestade zu sehen.

Das Leben - erst liegt es ahead, dann ago, erst gehst du vorwärts, dann bist du gegangen, und es liegt hinter dir.

Der Mensch ist das Lebewesen, das auch aus Schrott Geld zu machen versteht (und das gilt nicht nur für die buchstäblichen Schrotthändler).

Schwarzweißphotos veredeln ihre Motive, auch die sprichwörtliche graue Maus.

Verfahren zur Gewinnung von Selbsterkenntnis: sich verfahren. In der verfahrenen Situation kommst du zu dir.

Ausspannen, auch in der Form sich ausspannen: das Arbeitspferd darf endlich, von den Spannen befreit, ohne Wagen, auf dem die Alltagssorgen verladen sind, die bleiernen auch, alle viere ausstrecken und alles vergessen.

Am Anfang war der Ort. Kein Wort ergibt Sinn ohne den Ort, an dem es ausgesprochen wird.

Wolken sind per se schön (auch die grauen, oder gerade die grauen).

Das Warten ist ein eigener Raum. Im buchstäblichen Sinn, Warteraum, Wartezimmer, Wartesaal, Wartehäuschen, und im übertragenen.

Jeder Mensch ist eine potentielle Flamme.

Für das Licht-Schatten-Spiel bist du nie zu alt.

Wegmarken

Am Anfang war der Rand. (Lisa Spring)

Die Mitte ist eine Folge des Umrandens. (Eugen Rapp)

 

 


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